Predigt
März 2021
Vor Gott nicht vergessen
Autor: Pfarrer Gottfried Heinzmann
Gedenkgottesdienst zu 80 Jahre Deportation
am 28.03.2021, Betsaal Wilhelmsdorf
Liebe Gemeinde,
wir muten uns heute ein schweres Thema zu. Schwer, weil es uns schwer auf der Seele liegt. Wir hören die Namen der Menschen, die ermordet wurden und deren Leben als lebensunwert angesehen wurde. Schwer auch deshalb, weil wir an solche Grundfragen des Lebens erinnert werden. An menschenverachtende Gedanken und an schreckliche Taten, zu denen Menschen fähig sind. Schwer, weil wir ahnen, dass wir selbst weit davon entfernt sind, mit dem Finger auf »die damals« zu zeigen und zu meinen wir selbst wären vor solchen Abgründen gefeit.
Wir erinnern uns:
Am 24. März vor 80 Jahren wurden 19 Menschen mit Behinderung in graue Busse verfrachtet und abtransportiert. Vier der 19 deportierten Personen blieben zunächst zur Begutachtung in Weinsberg. Die restlichen 15 wurden bereits am 22. April 1941 nach Hadamar gebracht. Und noch am Tag ihrer Ankunft vergast. Drei von den vier Personen, die in Weinsberg zur Begutachtung blieben, wurden im Juni 1941 ebenfalls nach Hadamar gebracht und ermordet. Einer konnte zurückkehren. Das war Ernst Weiß.
Das sind die Fakten. Doch was steckt dahinter?
Dahinter stehen Menschen. Von Gott geschaffen. Einzigartig. Menschen, denen Gott das Leben geschenkt hat. Menschen, zu denen Gott sagt: »Ich habe dich geschaffen. Wunderbar und wertvoll in meinen Augen.«
Dahinter stehen Menschen. Von Gott geliebt. So wie sie sind. Mit Ecken und Kanten. Mit Stärken und Schwächen. Menschen, zu denen Gott sagt: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein!«
Dahinter stehen Menschen. Von Gott beauftragt. Fähig zu guten und zu bösen Taten. Eingeladen, sich an Gott zu orientieren und das Leben mit ihm zu gestalten. Menschen, zu denen Gott sagt: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt – und deinen Nächsten wie dich selbst.«
Diese biblischen Überzeugungen und Werte wurden hinterfragt. Kritisiert. Als überholt und rückwärtsgewandt belächelt. Fortschrittlich war etwas anderes. Die Fragen von damals stellen sich auch heute noch. Es lohnt sich, Ihnen nachzugehen:
- Was ist ein Mensch – was bin ich wert?
- Wozu ist der Mensch – wozu bin ich fähig?
- Wofür ist der Mensch – wofür bin ich beauftragt?
Die Fragen von damals stellen sich auch heute noch. Es lohnt sich, Ihnen nachzugehen.
1. WAS IST DER MENSCH WERT – WAS BIN ICH WERT?
Aus dem Jahr 1936 gibt es ein Plakat. Links ist ein Mensch gezeichnet, der gebeugt und schwach, in dunkler Kleidung und kränklich dargestellt ist. Über ihm steht: »Täglich 5,50 RM kostet den Staat ein Erbranker.« Daneben in hellen Farben eine fünfköpfige Familie. Strahlend. Gesund und kräftig. Darüber steht: »Für 5,50 RM kann eine erbgesunde Familie 1 Tag leben.« Die Botschaft ist deutlich. Das Leben eines Menschen, der krank ist, der psychisch oder körperlich oder geistig eingeschränkt ist, kostet nur. Er hat »minderwertiges Erbgut«. Er ist eine »Ballastexistenz«. Sein Leben ist »lebensunwert«.
Der Psychiater Karl Binding und der Jurist Alfred Hoche hatten die Grundgedanken dazu schon 1920 in einem Grundsatzwerk aufgeschrieben: »Die Freigabe der Vernichtung des lebensunwerten Lebens.« Von da aus hatten sie ihren Weg gefunden in die wissenschaftliche Diskussion, in die Propaganda und in die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Reichsinnenminister Frick sagte: »Die Ausgaben für Minderwertige, Asoziale, Kranke, Schwachsinnige, Geisteskranke, Krüppel und Verbrecher« sind so hoch, dass sie nicht vom Rest der Bevölkerung getragen werden können.
Die Logik dieser Ideologie ist klar. Es wird für jeden Menschen eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgemacht. Der Hausvater Heinrich Hermann hat Meldebögen erhalten. In diesen Listen musste er die Menschen nach genau diesen Gesichtspunkten beurteilen. Er musste sich dieser Logik beugen und hat beschrieben, wie fleißig und nützlich, wie arbeitsam lernfähig sie seien. Über Siegfried Klotz zum Beispiel, der taubstumm war und den rechten Fuß und die linke Hand gelähmt hatte, schreibt er: »Trotz dieser Hemmungen ist er uns aber seit vielen Jahren durch seine fleißige Arbeit beim Holzkleinmachen eine sehr wertvolle Hilfe. Mit großem Eifer steht er jeden Tag auf unserm Holzplatz und hackt Reisigholz klein für Holzwellen. Er arbeitet da ganz selbständig und macht gute und saubere Arbeit … Er ist auch an sich sehr reinlich und macht keine Mühe.«
Das hat ihn als redlichen Christen, der die Wahrheit nicht verdrehen wollte, sehr herausgefordert. Doch die dahinterliegende grausame Logik, war das eigentliche Problem.
Wie beurteilen wir den Wert eines Menschen? Was ist die Grundlage dafür?
De dahinterliegende grausame Logik, war das eigentliche Problem.