Eine Szene aus unserer Haslachmühle | Foto: Rolf Schultes

Andacht

Mai 2019

Ein Gott, der mich sieht

Autor: Pfarrer Gottfried Heinzmann

Andacht bei den Mitarbeitenden-
Versammlungen der Zieglerschen

»Hast du mich gese­hen?« – diese Frage spielt in unse­rer tägli­chen Arbeit in den Zieg­ler­schen eine große Rolle. Ich denke an die Bewoh­ner der Has­lachmühle und in Wil­helms­dorf, die sich nur mit Gebärden verständi­gen können. Sie suchen den Blick­kon­takt, um sicher­zu­ge­hen, dass sie gese­hen und wahr­ge­nom­men wer­den. Dass sie sich verständi­gen können.

Ich stelle mir eine Situa­tion in unse­ren Schu­len vor: »Hast du mich gese­hen?« – das fra­gen Kin­der, die bei einer Thea­ter­vorführung mit­ge­macht haben und wis­sen wol­len, ob der Klas­sen­leh­rer die Aufführung des Thea­terstücks auch ver­folgt hat und das Kind in einer ganz ande­ren Rolle wahr­ge­nom­men hat. »Hast du mich gese­hen?« – das fra­gen auch Senio­rin­nen und Senio­ren, die Unterstützung brau­chen und sich fra­gen, wie lange es noch dau­ert, bis jemand kommt, um diese Unterstützung zum Bei­spiel beim Toi­let­ten­gang zu brin­gen.

»Auge in Auge« – das war der Titel der Ver­nis­sage auf dem Ring­gen­hof. Herr Deuß hat dort mit Pati­en­ten Bil­der gestal­tet. Die eige­nen Augen wur­den foto­gra­fiert und die Auf­gabe war, diese Augen in dem Bild unter­zu­brin­gen. Wenn man die Bil­der sieht, merkt man, wie inten­siv sich die sucht­kran­ken Künst­ler mit ihrer Bio­gra­fie und der aktu­el­len Situa­tion aus­ein­an­der­ge­setzt haben.

Ein Bild stammt von Oleg Sormu. Sei­nen Namen habe ich verändert. Er hat seine eige­nen Augen gemalt und schreibt dazu: Die Augen sind ein Spie­gel der Seele. Dies sind meine Augen. Sie sehen müde aus. Müde von den gan­zen Dro­genex­zes­sen. Müde von den ver­schie­de­nen Lebens­er­eig­nis­sen und letzt­end­lich müde von der Schi­zo­phre­nie. Sie beschrei­ben nicht das »Hier und Jetzt«, son­dern die Ver­gan­gen­heit. Früher hatte ich oft Schwie­rig­kei­ten, den Men­schen in die Augen zu schauen, doch es hat sich geändert. Seit ich in die Augen schaue, sehe ich die Welt anders. Viel bun­ter und inter­essan­ter. Ich selbst fühle mich siche­rer und ener­gie­rei­cher. Glaub mir ... meine Augen sind längst nicht mehr so müde wie damals.

»Hast du mich gese­hen?« – Ich war sehr beein­druckt als ich die­ses und auch die ande­ren Bil­der gese­hen habe. Bil­der die davon erzählen, wie wich­tig es ist, dass wir gese­hen wer­den. Dass wir ein­an­der in die Augen sehen und uns Anse­hen geben. So wie wir sind. Mit unse­ren Wünschen und Sehnsüchten, mit unse­ren Fähig­kei­ten und Gren­zen, mit dem, was wir gerne vor­zei­gen und dem, was wir lie­ber ver­ste­cken.

»Auge in Auge« – Bild eines Patienten der Suchtfachklinik Ringgenhof

Bei unse­rer Arbeit erle­ben wir täglich, welch eine hohe Bedeu­tung es hat, ange­schaut zu wer­den; sich wahr­ge­nom­men zu fühlen. Und wie viele Emo­tio­nen da mit­spie­len. Es ist ein grund­mensch­li­ches, exis­ten­ti­el­les Bedürfnis, von einem ande­ren wirk­lich gese­hen und ver­stan­den zu wer­den.

Und so kann man sich auch ganz persönlich fra­gen: Wann hatte ich persönlich das letzte Mal das Gefühl: hier ver­steht mich jemand? Da sitzt mir jemand gegenüber und sieht mich an, so wie ich bin; ehr­lich, unver­stellt, ohne Hin­ter­ge­dan­ken. Und man kann sich auch fra­gen: Wann habe ich mir Zeit genom­men, nicht nur kurz Hallo und wie geht’s zu sagen, son­dern den ande­ren tatsächlich anzu­schauen?

Wir erle­ben zur­zeit eine her­aus­for­dernde Situa­tion in den Zieg­ler­schen. Ich werde nach­her noch näher dar­auf ein­ge­hen. Doch mir ist es ein Anlie­gen, jetzt – in der Andacht zu beto­nen: Gerade in die­ser Situa­tion wol­len wir uns nicht aus den Augen ver­lie­ren. Gerade in die­ser Situa­tion ist es wich­tig, dass wir ein­an­der wahr­neh­men und anse­hen.

In der Bibel wird die Geschichte von Hagar erzählt. Hagar – die Fremde, so lau­tet die Über­set­zung ihres Namens. Als Skla­vin lebt sie in der Fami­lie von Abra­ham und Sara. Sie hat keine Rechte. Sie hat keine Stimme, um sich Gehör und Ein­fluss zu ver­schaf­fen. Sie wurde benutzt, um der Fami­lie von Abra­ham und Sara ein Kind zu gebären; gefragt hat man sie nicht. Sie wurde nicht ange­se­hen. Son­dern viel­mehr ver­stoßen, hin­aus­gedrängt. Als sie genug davon hat, flieht sie in die Wüste.

Dort in ihrer wüsten Situa­tion, begeg­net sie Gott. Die Bibel erzählt von einem Engel, der mit ihr redet. Von die­ser Begeg­nung sagt sie dann am Ende: »Du bist ein Gott, der mich sieht!«

1. Buch Mose 16, 13: »Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht.«

Diese Begeg­nung mit Gott, der ihre Situa­tion sieht, der sie wahr­nimmt und ansieht, verändert Hagar. »Du bist ein Gott, der mich sieht!«

Diese Begegnung mit Gott, der ihre Situation sieht, der sie wahrnimmt und ansieht, verändert Hagar.

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