1. VERTRAUEN WAGEN

Wie wich­tig es ist, dass wir Ver­trauen ins Leben haben, das mer­ken wir bei klei­nen Kin­dern. Es ist Nacht. Ein Kind wacht auf. Erschreckt von einem schreck­li­chen Traum fängt es an zu wei­nen. Mut­ter oder Vater kom­men, neh­men es in den Arm, strei­cheln ihm über Kopf und Gesicht und sagen: »Alles gut. Es ist alles gut.« Dabei wis­sen sie: Es ist nicht ein­fach alles gut. In Krank­heits- und Kri­sen­pha­sen. Viel­leicht ste­cken sie in Schwie­rig­kei­ten, haben Sor­gen, sind vol­ler Unge­wiss­heit. Und doch wagen sie die­sen Satz, weil sie wis­sen, wie wich­tig das Ver­trauen ins Leben ist.

»Du tust mir kund den Weg zum Leben« – so hat David gebe­tet. Hier spüre ich die­ses Ver­trauen ins Leben. Wenn wir den gan­zen Psalm lesen, wird deut­lich: Auch bei David war nicht ein­fach alles gut. Sein Lebens­stil wird hin­ter­fragt – von Men­schen, die anders glau­ben und leben. Er beschreibt sie als Men­schen, »die einem ande­ren nach­lau­fen«. Es stellt sich die Frage: Warum lau­fen diese Men­schen einem ande­ren nach? Warum set­zen sie ihr Ver­trauen nicht mehr auf den Gott Israels? Warum fol­gen sie ande­ren Göttern?

Die Ant­wort: Sie sind enttäuscht. Sie sind enttäuscht darüber, dass Gott nicht das getan hat, was sie sich gewünscht haben. Sie sind enttäuscht darüber, dass es ande­ren bes­ser geht. Sie sind enttäuscht darüber, dass der Glaube an Gott ganz offen­sicht­lich nichts bringt.

Ich ver­mute, dass uns diese Gedan­ken gar nicht so fremd sind. Wir sin­gen bei Geburts­ta­gen »Viel Glück und viel Segen auf all dei­nen Wegen – Gesund­heit und Freude sei auch mit dabei.« Und wir freuen uns, wenn diese Wünsche genauso ein­tref­fen, wenn wir glücklich sind, wenn wir vor Scha­den und Unfall bewahrt wer­den, wenn wir gesund sind und blei­ben.

Doch was pas­siert, wenn das nicht der Fall ist? Hat dann Gott ver­sagt? Oder haben wir falsch geglaubt? Oder haben wir an den falschen Gott geglaubt?

Im Januar war ich einige Tage in den Ber­gen. Lang­lau­fen. Ich habe gedacht, ich ver­su­che mal was Neues und habe mir Ska­ting-Ski aus­ge­lie­hen. 4 Tage lang hat das wun­der­bar funk­tio­niert. Doch dann – an einer an sich völlig unpro­ble­ma­ti­schen Stelle, habe ich über­legt, wo ich hin­fah­ren will, bin aus dem Rhyth­mus gekom­men und gestürzt. Beim Fal­len habe ich den Ski-Stock an die Stirn bekom­men. Ich dachte: Nicht schlimm. Ich stehe wie­der auf und dann geht es wei­ter. Beim Auf­ste­hen merke ich, dass sich im Schnee neben mir ein großer Blut­fleck bil­det, der immer größer wird. Ich taste an meine Stirn, presse Taschentücher dar­auf und merke, dass ich ver­letzt bin. Ich ärgere mich: So ein Mist. Was soll das? Ein Passant kommt vor­bei. Er schaut mich an und meint: »Ich glaube ich rufe bes­ser einen Kran­ken­wa­gen.« Ich nicke. Wir war­ten. Es blu­tet wei­ter. Ich ärgere mich. Der Kran­ken­wa­gen kommt. Ich werde ins Spi­tal gefah­ren. Auf die Liege gelegt. Daten auf­ge­nom­men. Die Ärztin sagt: »Bevor wir nähen, muss ich des­in­fi­zie­ren. Hal­ten Sie sich bitte die Augen zu.« Ich halte mir die Augen zu und merke erst in die­sem Augen­blick, wie­viel Glück ich hatte. Nur ein Zen­ti­me­ter wei­ter rechts oder links und der Stock wäre im Auge gelan­det. Was dann pas­siert wäre, mag ich mir gar nicht vor­stel­len.

Mir kommt die Losung von die­sem Tag in den Sinn, die ich eigent­lich schon ver­ges­sen hatte. »Barm­her­zig und gnädig ist der Herr, gedul­dig und von großer Güte.« Ich habe meine Lek­tion gelernt. Dass nicht alles, was mich ärgert schon bedeu­tet, dass Gott sich nicht für mich inter­es­siert.

Kurze Zeit später sind wir auf einen Geburts­tag ein­ge­la­den. Ich freue mich auf die Begeg­nun­gen mit den alten Bekann­ten aus der Jugend­ar­beit. Einer ist nicht dabei. Seine Frau erzählt, dass er gerade in der Kli­nik ist. Wie­der ein­mal hat sich seine Par­kin­son-Erkran­kung ver­schlim­mert. Vor 20 Jah­ren hatte es begon­nen. Er war damals Ende 30. Die Ärzte haben schon alles Mögli­che pro­biert. Manch­mal ist es bes­ser. Aber dann kann er wie­der kaum spre­chen und sich nicht bewe­gen. Was soll das? Warum lässt Gott das zu? Warum bewahrt er ihn nicht? Warum schenkt er ihm keine Gesund­heit?

Wenn ich die Psal­men lese, finde ich Gebete von Men­schen, die ähnli­che Fra­gen hat­ten und sehr Schwe­res erlebt haben. Manch­mal ist das wie in einem Was­ser­stru­del. Ein Was­ser­stru­del, der alles in die Tiefe reist. Er dreht sich immer schnel­ler. Unge­rech­tig­keit, Frust, Hilf­lo­sig­keit, Verzweif­lung – alles zieht nach unten.

Doch die Psalm­be­ter hören nicht auf zu beten. Dabei scho­nen sie Gott nicht. Sie sagen alles – ganz direkt und unge­schminkt: Frust, Ärger, Enttäuschung, Hilf­lo­sig­keit, Angst. Und dann kommt in die­sen Kla­gep­sal­men eine Stelle, wo es umschlägt. Die Worte und Sätze verändern sich. Es kommt eine ganz andere Stim­mung auf. Wo vor­her von Bit­ter­keit und Frust zu lesen war, macht sich jetzt Ver­trauen und Zuver­sicht breit.

Wie kommt das?

Man­che Aus­le­ger mei­nen, dass sich ein sol­cher Stim­mungs­um­schwung plötzlich ereig­net. Von jetzt auf nach­her. Von einem Moment auf den nächs­ten. Sie mei­nen: Der Psalm­be­ter geht in den Tem­pel. Begeg­net Gott und sofort ändert sich alles. Man könnte es mei­nen, wenn die Verse so dicht auf­ein­an­der fol­gen. Ich denke aber, dass das auch bei den Psalm­be­tern damals ein lan­ger Weg war.  Sie waren nicht nur ein­mal im Tem­pel, son­dern viele Male. Sie haben nicht nur ein­mal geklagt, geweint und ver­zwei­felt zu Gott gebe­tet, son­dern immer wie­der.

Und haben sie auf die­sem lan­gen Weg erlebt: Es gibt eine Verände­rung. Es bleibt nicht bei die­sem Abwärtss­tru­del, der alles in die Tiefe reißt. Es gibt die Wende.

»Du hast mich aus der Tiefe gezo­gen« – bekennt der Beter in Psalm 30. »Gott streckte seine Hand aus von der Höhe und fasste mich und zog mich aus großen Was­sern« – steht in Psalm 18. Weil diese Men­schen Ver­trauen wagen, bekom­men sie eine neue Sicht auf ihr Leben. Und sie mer­ken: Gott ist da. Er hält mich. Er trägt mich.

Das führt dann zu einer Ver­schie­bung der Prio­ritäten. Der Beter aus Psalm 73 sagt: »Wenn ich nur dich habe, so frage ich nicht nach Him­mel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele ver­schmach­ten, so bist du doch, Gott, alle­zeit mei­nes Her­zens Trost und mein Teil.«

An Gott teil­ha­ben. In ihm sein. In Gott gebor­gen und »auf­ge­ho­ben« sein. Das beschrei­ben die Psalm­be­ter als Glück. David kann am Anfang von Psalm 16 sagen: »Mein Herr, du bist mein gan­zes Glück. Ich weiß von kei­nem Gut außer dir.« Und am Ende: »Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu dei­ner Rech­ten ewig­lich.«

Wenn wir diese Glau­bens­aus­sa­gen auf dem Hin­ter­grund unse­rer Erfah­run­gen hören und sagen, dann mer­ken wir: Wenn es uns gut geht, fällt es leicht, das zu sagen und zu glau­ben. Wenn es uns schlecht geht, wird das deut­lich schwe­rer. Und doch gilt in guten und in schwe­ren Zei­ten: Du, Gott bist meine Zuf­lucht. Ich weiß von kei­nem Gut außer dir.

Das wünsche ich die­sem Freund aus der Jugend­ar­beit, dass er in dem Schwe­ren an Gott fest­hal­ten kann und ent­deckt: Ich bin von Gott gehal­ten. Das wünsche ich mir für mich selbst, dass ich mich auch in Durst­stre­cken von Gott gelei­tet weiß und ent­de­cke: Gott führt mich an sei­ner Hand. Das wünsche ich jeder und jedem von uns: Dass wir wie David auch in schwe­ren Zei­ten beten und offen mit Gott können: Mein Gott, manch­mal ver­stehe ich dich nicht. Aber ich will glau­ben und auf dich ver­trauen. Du bist ja der Herr. Ich weiß von kei­nem Gut außer dir.

Ver­trauen wagen – das ist das Erste.  

Ich komme zum zwei­ten Aspekt.

2. DAS LEBEN LIEBEN

»Du tust mir kund den Weg zum Leben.«

Ich frage mich: Was für ein Leben ist hier gemeint? Wenn ich unse­ren heu­ti­gen Sprach­ge­brauch beob­achte, dann reicht »Leben« alleine nicht aus. Wir müssen das irgend­wie genauer haben. Wir wünschen uns ein glückli­ches Leben. Ein erfolg­rei­ches. Ein lebens­wer­tes. Ein gelin­gen­des.

• Doch was ist mit dem Leben, wenn Pläne schei­tern, Bezie­hun­gen in die Brüche gehen, der Erfolg aus­bleibt und die Leich­tig­keit des Lebens ver­lo­ren­geht? Ist es dann miss­lun­gen?
• Was ist mit dem Leben, wenn ich ein­ge­schränkt bin in mei­nen Möglich­kei­ten? Kann es dann kein glückli­ches Leben sein?
• Was ist mit dem Leben, wenn ich krank bin und die Kräfte ver­sa­gen. Ist es dann nicht mehr lebens­wert?
   

Man merkt, auf welch schwie­ri­gen Pfa­den wir uns mit die­sen Defi­ni­tio­nen von Erfolg, Glück und Gelin­gen bewe­gen. Und wie wir selbst immer wie­der in diese Fal­len tap­pen.

• Wie weit­ver­brei­tet ist der Slo­gan »Haupt­sa­che gesund«? Und wie gedan­ken­los wird er oft gebraucht?
• Wie tief sitzt in Eltern der Wunsch, dass ihre Kin­der gut, nett, erfolg­reich, leis­tungs­stark sein sol­len. Und wie groß ist die Enttäuschung, wenn die Noten schlecht sind und die gewünsch­ten Schul­ab­schlüsse nicht erreicht wer­den.
• Wie unbarm­her­zig ist die Arbeits­welt mit Men­schen, die nicht mehr »funk­tio­nie­ren«. Und wie schnell wer­den die­je­ni­gen aus­sor­tiert, die »es nicht mehr brin­gen«.
   

Fra­gen tau­chen auf:

• Woher neh­men wir die Kri­te­rien, um über ein Leben zu urtei­len?
• Wer maßt sich an, ein Leben als glücklich oder unglücklich, als gelun­gen oder miss­lun­gen, als lebens­wert oder gar »leben­sun­wert« zu beur­tei­len?

In der Bibel fin­den wir die Über­zeu­gung: Das Leben ist kost­bar. Von Anfang an. Ohne Bedin­gun­gen. Unabhängig von Tun und Leis­tung.

Gott wird uns als der große Lieb­ha­ber des Lebens vor­ge­stellt. Die Bibel ist voll von Geschich­ten, in denen erzählt wird, wie Gott um das Leben der Men­schen ringt. Und die ganze Bibel durch­zieht diese eine große Geschichte, die wir Heils­ge­schichte nen­nen. An deren Ziel­punkt und Ende Jesus Chris­tus steht.

Jetzt in der Pas­si­ons­zeit erin­nern wir uns in beson­de­rer Weise daran, was Jesus für uns ein­ge­setzt hat. »Fürwahr, er trug unsere Krank­heit / und lud auf sich unsere Schmer­zen.« Er gab sein Leben, er starb unse­ren Tod, damit wir das Leben haben. Jetzt. Und für immer.

In die­ser Zeit bis zum Kar­frei­tag kann es deut­lich wer­den:

Mein Leben ist kost­bar. Jedes Leben ist kost­bar. So kost­bar, dass Jesus sein Leben für uns ein­ge­setzt hat. So kost­bar, dass Jesus für uns gestor­ben ist »als wir noch Sünder waren«.

Wenn ich mich selbst beob­achte, dann merke ich: Das muss ich mir immer wie­der sagen las­sen. Und das muss ich immer wie­der ler­nen.

Nicht das, was ich kann, / nicht das, was ich leiste, / nicht das, was ich habe /
macht mein Leben kost­bar und wert­voll. / Mein Leben ist kost­bar und wert­voll, /  weil Gott mir mein Leben schenkt, / weil Jesus sein Leben für mich ein­setzt und mich aus der Macht des Todes befreit, / weil Got­tes guter Geist mir den Weg von die­sem Leben zum ewi­gen Leben zeigt.

Was das ganz kon­kret im All­tag bedeu­tet, da muss ich noch viel ler­nen. Denn immer wie­der tappe ich in die Falle, dass ich mich ärgere. Wenn ich ein­ge­schränkt werde, wenn meine Pläne durch­kreuzt wer­den, wenn mir Gren­zen gezo­gen wer­den.

Bei mei­ner neuen Tätig­keit in Wil­helms­dorf begegne ich jeden Tag Men­schen, die mit ihrer Behin­de­rung leben. Ein jun­ger Mann, der nicht hören und nicht reden kann, begrüßt mich immer beim Mit­ta­ges­sen. Er freut sich, mich wie­der­zu­se­hen. Seine Freude steckt mich an. Von ihm und von ande­ren kann ich viel ler­nen. Denn diese Men­schen zei­gen mir: Das Leben ist kost­bar. Lie­bens­wert und lebens­wert vom Anfang bis zum Ende.

»Das Leben lie­ben« – das war das Zweite.

Ein Drit­tes noch:

3. HOFFNUNG HABEN

Am Ende des Psalms steht das kleine Wort »ewig­lich«. »Vor dir ist Freude die Fülle / und Wonne zu dei­ner Rech­ten ewig­lich.«

Als ich mich mit der Geschichte der Zieg­ler­schen beschäftigt habe, bin ich auch auf die Geschichte gestoßen, warum Johan­nes Zieg­ler nach Wil­helms­dorf kam. Als 22-Jähri­ger hatte er von einem jun­gen Mädchen aus Wil­helms­dorf gehört. Ihm wurde erzählt, dass die­ses Mädchen schwer krank war und dabei aber vol­ler Zuver­sicht und Hoff­nung. Sie sei mit den Wor­ten gestor­ben »Heim, heim, heim.« Für Zieg­ler war das der Anlass, sich auf die Stelle eines Taub­stum­men­leh­rers in Wil­helms­dorf zu bewer­ben. Das war vor mehr als 150 Jah­ren. Ich frage mich: Wäre das heute noch für irgend­je­mand ein Kri­te­rium dafür, sich für eine Stelle zu bewer­ben?

Ich bin ganz offen – für mich war und wäre es das nicht. Und auch in Kir­che und Dia­ko­nie spie­len heute andere Kri­te­rien eine Rolle. Und doch frage ich mich: Wie können wir diese Per­spek­tive »Ewig­keit« in unse­rem Leben und in die­ser Welt wach­hal­ten?

Damit wir das Leben nicht als letzte Gele­gen­heit ver­ste­hen, in das wir alles hin­ein­pa­cken müssen? Damit wir ange­sichts von Leid und Elend, von Krank­heit und Tod nicht resi­gnie­ren, son­dern hof­fen können? Damit wir uns nicht ent­mu­ti­gen las­sen von Weg­stre­cken, die mühsam und schwer sind, son­dern das große Ziel im Blick behal­ten?

»Lebe die Zeit mit Per­spek­tive Ewig­keit« singt der Lie­der­ma­cher Samuel Harfst. Bei mei­ner Ein­ar­bei­tung war ich in den letz­ten Wochen auch in einer Wohn­gruppe für behin­derte Men­schen. Die Begeg­nung mit einer jun­gen Frau geht mir noch nach. Sie lag in einem run­den gepols­ter­ten Bett. Ihr Körper war völlig bedeckt von ver­schie­de­nen Decken. Die Heil­er­zie­hungs­pfle­ger haben mir erklärt, dass diese schwe­ren Decken, die Arm­schie­nen, die Bein­schie­nen, der Kopf­schutz ihr hel­fen, sich nicht zu ver­let­zen.

Per­spek­tive Ewig­keit 

Ich will glau­ben und hof­fen, dass da ein lie­ben­der Gott ist, zu dem sie am Ende ihres Lebens nach Hause kom­men kann. Ich will glau­ben und hof­fen, dass er sie und uns befreit zur herr­li­chen Frei­heit der Kin­der Got­tes. Ich will glau­ben und hof­fen, dass Gott uns hilft jetzt schon mit der Per­spek­tive Ewig­keit zu leben, um dann früher oder später ganz in sei­ner Nähe zu sein.

»Du tust mir kund den Weg zum Leben
vor dir ist Freude die Fülle
und Wonne zu dei­ner Rech­ten ewig­lich.«

AMEN