»Die Augen sind ein Spiegel der Seele« – dieses Bild wurde von einem suchtkranken Patienten gemalt | Foto: Annette Scherer

Predigt

August 2018

Du siehst mich

Autor: Pfarrer Gottfried Heinzmann

Gottesdienst Brüdergemeinde Wilhelmsdorf
Wilhelmsdorf, 05.08.2018

»Hast du mich gese­hen?« – diese Frage spielt in unse­rem All­tag, im tägli­chen Umgang mit­ein­an­der eine große Rolle. Wenn wir ein­an­der in die Augen sehen, spüren wir in Sekun­den­schnelle, ob der andere mich wahr­nimmt oder nur über mich hin­weg­sieht. Ob er mich sieht oder über­sieht. »Hast du mich gese­hen?« Die Frage kann aber auch schnell ins Nega­tive umschla­gen: »Hast du mich nicht gese­hen?« Da schwingt die Enttäuschung mit. Ich wurde nicht wahr­ge­nom­men. Ich wurde über­se­hen. Ich wurde viel­leicht sogar bewusst über­se­hen ...

Im Ring­gen­hof gab es eine Ver­nis­sage mit der Über­schrift »Auge in Auge«. Herr Deuß hat dort mit Pati­en­ten Bil­der gestal­tet. Die eige­nen Augen wur­den foto­gra­fiert und die Auf­gabe war, diese Augen in dem Bild unter­zu­brin­gen. Wenn man die Bil­der sieht, merkt man, wie inten­siv sich die sucht­kran­ken Künst­ler mit ihrer Bio­gra­fie und der aktu­el­len Situa­tion aus­ein­an­der­ge­setzt haben.

Die­ses Bild stammt von Oleg Sormu. Sei­nen Namen habe ich verändert. Er hat seine eige­nen Augen gemalt und schreibt dazu: »Die Augen sind ein Spie­gel der Seele. Dies sind meine Augen. Sie sehen müde aus. Müde von den gan­zen Dro­genex­zes­sen. Müde von den ver­schie­de­nen Lebens­er­eig­nis­sen und letzt­end­lich müde von der Schi­zo­phre­nie. Sie beschrei­ben nicht das »Hier und Jetzt«, son­dern die Ver­gan­gen­heit. Früher hatte ich oft Schwie­rig­kei­ten, den Men­schen in die Augen zu schauen, doch es hat sich geändert. Seit ich in die Augen schaue, sehe ich die Welt anders. Viel bun­ter und inter­essan­ter. Ich selbst fühle mich siche­rer und ener­gie­rei­cher. Glaub mir ... meine Augen sind längst nicht mehr so müde wie damals.«

»Hast du mich gese­hen?« – Ich war sehr beein­druckt als ich die­ses und auch die ande­ren Bil­der gese­hen habe. Bil­der die davon erzählen, wie wich­tig es ist, dass wir gese­hen wer­den. So wie wir sind. Mit unse­ren Wünschen und Sehnsüchten, mit unse­ren Fähig­kei­ten und Gren­zen, mit dem, was wir gerne vor­zei­gen und dem, was wir lie­ber ver­ste­cken.

Ich möchte die­ser Frage »Wer sieht mich und wie werde ich gese­hen?« in der Pre­digt nach­ge­hen und lade Sie zu einem Streif­zug durch die Bibel ein.

Bilder, die davon erzählen, wie wichtig es ist, dass wir gesehen werden.

1. GOTT SIEHT MENSCHEN AN UND HILFT IHNEN AUFRECHT ZU GEHEN

In der Bibel wird die Geschichte von Hagar erzählt. Das ist eine ziem­lich schräge Geschichte aus dem 1. Buch Mose Kapi­tel 16.

Hagar lebt als Skla­vin in der Fami­lie von Abra­ham und Sara. Ihr Name bedeu­tet über­setzt »die Fremde«. Weil das mit dem Nach­wuchs bei Abram und Sara nicht funk­tio­niert, macht sich Sara so ihre Gedan­ken. Sie sagt zu ihrem Mann: »Siehe, der Herr hat mich ver­schlos­sen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu mei­ner Magd, ob ich viel­leicht durch sie einen Sohn bekomme.« Abram hat damit anschei­nend kein Pro­blem. Er tut, was seine Frau ihm vor­schlägt, schläft mit Hagar. Hagar wird schwan­ger und merkt dann schnell, dass sie auf diese Weise ihren Sta­tus ver­bes­sern kann. Sara spürt das sehr genau. Sie fühlt sich sowieso schon abge­schrie­ben, unfähig und unnütz. Und sie bespricht das mit ihrem Mann: »Seit Hagar schwan­ger ist, lässt sie mich spüren, wie min­der­wer­tig ich bin. Ich bin gering geach­tet in ihren Augen.« Abram meint ganz nüchtern: »Siehe, deine Magd ist unter dei­ner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt. Da demütigte Sara sie.«

Wer sieht hier wen auf wel­che Weise an?

Sara sieht Hagar. Als Skla­vin hat sie keine Rechte. Sie ist Besitz, über den die Her­rin verfügen kann. Sie soll ein Kind bekom­men. Gefragt wird sie nicht. Ange­se­hen wird sie auch nicht. Sie wird benutzt.

Hagar sieht Sara. Sie spürt die Schwach­stelle ihrer Her­rin. Das will sie aus­nut­zen. Durch das Kind bekommt sie eine Macht, die sie nicht aus der Hand geben will.

Abram sieht keine von bei­den. Er geht den bequems­ten Weg. Er macht das, was am wenigs­ten Stress bringt. Was das für die Frauen bedeu­tet und auch für sein Verhältnis zu Gott, scheint ihn nicht zu kümmern.

Ich frage mich: Was wäre gesche­hen, wenn sie ein­an­der ange­se­hen hätten? Wie wäre die Geschichte aus­ge­gan­gen, wenn sie ihre Not und ihre Schwäche, ihre Fra­gen und ihr Lei­den mit­ein­an­der geteilt und bespro­chen hätten?

Am Ende hält Hagar diese Situa­tion nicht mehr aus und flieht. Wie ver­zwei­felt muss sie gewe­sen sein, dass sie die­sen Ent­schluss fast? Mit­ten in der Wüste kann eine hoch­schwan­gere Frau nicht über­le­ben. Sie fin­det eine Was­ser­quelle. Dort lagert sie sich. Dann wird berich­tet: »Der Engel des HERRN fand sie ...« Gott hat sie nicht aus den Augen gelas­sen. Und die Geschichte verändert sich an die­ser Stelle, weil Gott diese Skla­vin, die Fremde, ansieht. Ihren Stolz und ihre Demütigung, ihre Sehn­sucht und ihre Verzweif­lung, ihre Hoff­nung und ihre Aus­weg­losig­keit.

Ich frage mich: Was wäre geschehen, wenn sie einander angesehen hätten?

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