»Nach der ersten Sekunde wusste ich: Hier bin ich richtig«

Porträt

»Nach der ersten Sekunde wusste ich: Hier bin ich richtig«

Pit Niermann

Porträt

Oktober 2014

Pit Niermann war neun Jahre lang Direktor der Heim­sonder­schule Haslach­mühle – einer Ein­richtung der Zieglerschen für Schüler mit hör-sprach- und gleich­zeitiger geistiger Behin­derung. Kurz vor seiner Verab­schiedung in den Ruhe­stand traf Katharina Stohr den aner­kannten Päda­gogen und großen Menschen­freund zum Gespräch.

Text: Katharina Stohr

Men­schen sind für Pit Nier­mann wich­tig. Egal, ob es dabei um Kol­le­gen, Mit­ar­bei­tende, Schüler, seine Frau oder seine bei­den Söhne geht. Ruhig und beson­nen denkt er nach, wägt ab, wählt aus, exakt, pass­genau, takt­voll und dann bringt er es auf den Punkt: »Para­de­kenn­zei­chen einer Orga­ni­sa­tion ist für mich, in wel­chem Maß das Mensch-Sein zuge­las­sen wird«, sagt er.

Inhalt eines phi­lo­so­phisch geprägten, ver­reg­ne­ten Don­ners­tag­vor­mit­tags in der Heim­son­der­schule Has­lachmühle. Sätze vol­ler Lebens­weis­hei­ten und tief durch­leb­ter Erfah­rung durch­flu­ten den Raum, wenn Direk­tor Pit Nier­mann, 64, erzählt. Noch zwei Wochen, dann wird er sei­nen Schreib­tisch räumen und den Weg in den Ruhe­stand antre­ten. Gemischte Gefühle beglei­ten ihn, sagt er. Weh­mut und ein Hauch von Abschieds­schmerz umhüllen ihn, wenn er so durch die Schul­flure streift – gleich­zei­tig aber auch ein großes Ein­ver­stan­den-Sein mit dem, was war, was ist, und der Vor­freude auf das, was kom­men wird. Und dem Bewusst­sein, »dass ich ein Rie­senglück hatte«.

Vor neun Jah­ren wech­selte er vom Hör-Sprach­zen­trum Alts­hau­sen in die Has­lachmühle – wurde vom Abtei­lungs­lei­ter einer Real­schule zum Direk­tor einer Heim­son­der­schule für Men­schen mit Hör-Sprach- und gleich­zei­ti­ger geis­ti­ger Behin­de­rung: »Die Direk­to­ren­stelle war eine Lebens­schule für mich«, sagt er, der sich selbst als eher wei­chen Men­schen­typ beschreibt. Ein Har­mo­nie­mensch sei er außerdem, das habe einen anstren­gen­den Lern­pro­zess her­vor­ge­ru­fen. Denn es galt, »auf mutige Art und Weise ein Kol­le­gium von knapp 100 Men­schen zu beglei­ten, zu führen und bei der Stange zu hal­ten«. Führung – für ihn eine ständige Grat­wan­de­rung zwi­schen Zulas­sen und Gren­zen-Zie­hen. Dies habe die Zeit genauso gekenn­zeich­net, wie »eine rie­sige Band­breite fach­lich im Blick zu haben und diese wei­ter­zu­ent­wi­ckeln«. Her­aus­ge­kom­men sind dabei mehr als ein wert­vol­les Bündel an Führungs-Phi­lo­so­phien. Zahl­rei­che fach­li­che Pro­jekte, die unter Nier­manns Führung ange­stoßen wur­den, haben bun­des­weit Anklang und Nach­ah­mer gefun­den.

»Spe­zi­ell die Sta­tion Has­lachmühle war für mich die Krönung mei­ner beruf­li­chen Lauf­bahn, nicht nur wegen der Direk­to­ren­stelle, son­dern wegen der Schüler hier.« Aus­ein­an­der­ge­setzt hat er sich mit dem, was seine Schüler mit­brin­gen, deren Hören und Reden ein­ge­schränkt ist und die zusätzlich geis­tig behin­dert sind. Men­schen, die sich oft nicht aus­rei­chend verständi­gen können und zusätzli­che Hilfs­mit­tel wie Gebärden oder Sym­bol­kar­ten zur Kom­mu­ni­ka­tion benötigen. Er hat sich gerie­ben daran, wie sie ihren All­tag gestal­ten, und hat Erkennt­nisse gesam­melt: »Wenn Men­schen eine bestimmte Form von Ein­schränkung haben, sind sie nicht auto­ma­tisch damit behin­dert.« Im Gegen­teil – wenn eine bestimmte Umge­bung zur Verfügung stehe, könnten sie ein gleich­be­rech­tig­ter Teil der Gemein­schaft sein, Lebens­freude und -sinn ent­wi­ckeln. Und mit blit­zen­den Augen fügt er hinzu: »Als Sta­chel im Fleisch der Leis­tungs­ge­sell­schaft«.

Hand­lungs­lei­tend war für ihn stets die Son­derpädago­gik – »sozi­alpädago­gisch aus­ge­rich­tet«, wie er betont. Spätes­tens als er 1975 als Haupt­schul­leh­rer in Ber­lin-Tier­gar­ten vor 37 Schülern stand, wusste er: »Die Grund­lage mei­ner Arbeit muss Bezie­hungs­ar­beit sein, denn sobald die Bezie­hung zwi­schen zwei Men­schen steht, kann man völlig anders arbei­ten.« Dies sei bei einer herkömmli­chen Klas­sengröße nicht zu meis­tern. Und so führte ihn der Weg wei­ter an die Förder­schule Löffin­gen, danach zum son­derpädago­gi­schen Zusatz-Stu­dium in Hei­del­berg, bis er dann am Sprach­heil­zen­trum Calw zunächst als Son­der­schul­leh­rer arbei­tete und ansch­ließend, Anfang der 80er Jahre, die dor­tige Sprach­heil­schule auf­baute und lei­tete.

»Sehr schmerz­li­che Vorgänge im dama­li­gen Kol­le­gium haben meine Führungs-Phi­lo­so­phien ent­ste­hen las­sen.« Fra­gen wie: »Kann man trotz Machtrolle Mensch blei­ben?« trie­ben und trei­ben ihn bis heute an und führten nicht zuletzt durch die Zeit in der Has­lachmühle zu einer gewis­sen Gelas­sen­heit, wie er sagt. Die­ser liege die zen­trale Ein­sicht zugrunde: »Man muss sei­nen Frie­den damit machen, dass man als Führungs­kraft nicht alles rich­ten kann.«

Wie gut Pit Nier­manns den Men­schen zuge­wandte Art sei­ner Umge­bung tut, davon erzählen die trau­ri­gen Augen vie­ler Schüler, wenn sie ihm auf dem Flur begeg­nen und auf ihre Art und Weise über sei­nen bevor­ste­hen­den Abschied spre­chen oder mit den Händen gebärden.

»Ich wusste von der ers­ten Milli-Sekunde an, dass ich hier rich­tig bin«, sagt Pit Nier­mann. »Wenn ich in mei­nem nächs­ten Leben wüsste, dass ich genau diese Auf­gabe zuge­schanzt bekomme, würde ich es wie­der machen.«  

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