Titelthema

Oktober 2014

Gemeinsam auf dem Weg

Vor fünf Jahren wurde die »UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behin­derung« in Deutsch­land ratifiziert. Seit­dem ist die Ge­sell­schaft im Wandel: Schulen öffnen sich für gemein­sames Lernen, Wohn- und Arbeits­angebote für Menschen mit Behin­derungen werden viel­fäl­tiger. Die Dis­kus­sion um »Inklusion« hat die ganze Gesellschaft erfasst. Und die Zieglerschen? Die ändern sich auch. Was genau in den letzten fünf Jahren bei uns passiert ist, was sich verändert hat und was bleibt – davon berichtet unser Autorenteam.

Text: Sarah Benkißer, Sarah Emslander, Jürgen Schübel, Eva Huchler, Annette Scherer

Spei­se­saal Haus Höchs­ten, Wil­helms­dorf: »Ich hab jetzt eine neue Woh­nung mit­ten in Ravens­burg – da wo immer der Wochen­markt ist«, berich­tet Nadi­ne* stolz. »Für mich ist Ravens­burg top! Da kann ich mich auch mal mit mei­nem Freund ver­ab­re­den.« Bis­her hat Nadine zusam­men mit ande­ren Men­schen mit Behin­de­rung in einer Außenwohn­gruppe gelebt, ab Herbst will sie alleine woh­nen. Selbstständig sein. Trotz Behin­de­rung.

Bus­bahn­hof Ravens­burg: »Ent­schul­di­gung, wo hält denn hier der Bus nach Wan­gen?« ruft die ältere Dame durch die offene Tür des Bus­ses. »Ähhh«, gerät der Bus­fah­rer ins Sto­cken. Da lässt sich der junge Mann vom Sitz­platz gleich hin­ter dem Fah­rer ver­neh­men: »Der fährt dahin­ten.« »Ah genau«, sagt der Bus­fah­rer, »fra­gen Sie ein­fach den Tobi* der kennt alle Fahrpläne aus­wen­dig!« Tobi, des­sen Name hier geändert wurde, hat eine Behin­de­rung. Und er hat recht: In der Rich­tung, in die er zeigt, biegt gerade der Bus nach Wan­gen in die Hal­te­bucht ein. Die ältere Dame dankt und macht sich auf den Weg. Aner­ken­nung für die eige­nen Stärken bekom­men. Trotz Behin­de­rung. Oder gerade wegen der Behin­de­rung? Oder ein­fach nur: mit Behin­de­rung?

Wie nimmt unsere Gesell­schaft behin­derte Men­schen wahr? Und wie selbst­verständlich können Men­schen mit Behin­de­rung am gesell­schaft­li­chen Leben teil­ha­ben? Seit fünf Jah­ren wer­den diese Fra­gen mit einer neuen Dyna­mik öffent­lich dis­ku­tiert. Am 26. März 2009 trat in Deutsch­land die »UN-Kon­ven­tion über die Rechte von Men­schen mit Behin­de­rung« (auch: UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion oder kurz: UN-BRK) in Kraft und löste vor allem in der Bil­dungs­po­li­tik eine große Debatte aus. Was hat sich seit der Unter­zeich­nung der UN-BRK getan – in Deutsch­land, in Baden-Württem­berg und bei den Zieg­ler­schen?

Das Schlüssel­wort, das seit der Rati­fi­zie­rung durch die deut­schen Medien geht, lau­tet »Inklu­sion«. Dabei spielt die­ser Begriff in der UN-BRK selbst eine unter­ge­ord­nete Rolle, in der offi­zi­el­len deut­schen Über­set­zung taucht er gar nicht auf. Da ist in Arti­kel 3 die Rede von der »vol­len und wirk­sa­men Teil­habe an der Gesell­schaft und Ein­be­zie­hung in die Gesell­schaft«. Ledig­lich im eng­li­schen Text fin­det sich die Ent­spre­chung »inclu­sion in society«. Dass das eng­li­sche »inclu­sion« in der deut­schen Über­set­zung zur »Ein­be­zie­hung« wurde, kri­ti­sie­ren viele Inklu­si­ons­befürwor­ter in Deutsch­land (siehe das »Inter­view mit Dr. Sigrid Arnade).

Doch was unter­schei­det eigent­lich »Inklu­sion« von »Inte­gra­tion«? Ist die ganze Debatte am Ende nur Wort­klau­be­rei? Oder ste­cken tatsächlich unter­schied­li­che Kon­zepte dahin­ter? Sarah Ems­lan­der und Jürgen Schübel von der Behin­der­ten­hilfe der Zieg­ler­schen erklären es so: »In einer inklu­si­ven Gesell­schaft wer­den alle Men­schen gleich­be­rech­tigt in die Gemein­schaft ein­be­zo­gen. Eine inklu­sive Gesell­schaft heißt Men­schen will­kom­men, auch wenn sie anders sind. Nie­mand wird aus­ge­schlos­sen, alle gehören dazu. Die inklu­sive Gesell­schaft erteilt Bar­rie­ren, Aus­gren­zung und Son­der­struk­tu­ren eine Absage. Die Viel­falt mensch­li­chen Lebens wird als nor­mal und als Berei­che­rung aner­kannt. Je unter­schied­li­cher und vielfälti­ger die Men­schen, desto mehr kann die Gemein­schaft und jeder Ein­zelne in ihr pro­fi­tie­ren. Inklu­sion ist eine Hal­tung und ver­langt somit einen gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Wan­del. Die Hal­tung zeigt sich in unse­rem Den­ken und Han­deln.«

Während Inte­gra­tion also von den behin­der­ten Men­schen aus­geht, die es ein­zeln oder in klei­nen Grup­pen in die große Gruppe der Nicht­be­hin­der­ten ein­zu­ord­nen gilt, nimmt Inklu­sion die gesamte Gesell­schaft in den Blick, in die sich – so das Ideal­bild – alle Men­schen nach ihren Möglich­kei­ten ein­brin­gen können. Doch die Idee der Inklu­sion ist keine reine Uto­pie. Sie ist hand­lungs­lei­tend für kon­krete poli­ti­sche Verände­run­gen in Deutsch­land. Ins­be­son­dere in der Schul­po­li­tik hat die von der UN-BRK aus­gelöste Debatte um Inklu­sion bun­des­weit zu einem tief­grei­fen­den Wan­del geführt. Eine im Jahr 2013 von der Ber­tels­mann-Stif­tung veröffent­lichte Stu­die zeigt, dass mitt­ler­weile jeder vierte Schüler mit Förder­be­darf eine Regel­schule besucht, »während es zum Zeit­punkt der Rati­fi­zie­rung der UN-Kon­ven­tion 2009 noch nicht ein­mal jeder Fünfte war«. Dabei stellt die Stu­die deut­li­che Unter­schiede zwi­schen den ver­schie­de­nen Bun­desländern fest: Während bei­spiels­weise in Bre­men 55,5 Pro­zent aller Förderschüler eine Regel­schule besu­chen, sind es in Nie­der­sach­sen gerade mal 11,1 Pro­zent. Und in Baden-Württem­berg? Hier liegt laut Stu­die der Anteil der inklu­siv beschul­ten Kin­der mit Förder­be­darf bei über­durch­schnitt­li­chen 27,7 Pro­zent, aller­dings war die Quote schon 2009 mit 26 Pro­zent etwa auf die­sem Niveau. Die Auto­ren der Ber­tels­mann-Stu­die resümie­ren daher: »Die Inklu­sion im baden-württem­ber­gi­schen Schul­sys­tem sta­gniert.«

Viel verblüffen­der ist jedoch ein ande­res Ergeb­nis: Der Anteil der Förderschüler, die eine Son­der­schule besu­chen, ist nämlich nicht, wie die oben genann­ten Ergeb­nisse ver­mu­ten las­sen, gesun­ken, son­dern annähernd kon­stant geblie­ben. In Baden-Württem­berg ist diese soge­nannte Exklu­si­ons­quote seit 2009 sogar gestie­gen – von 4,7 auf fünf Pro­zent. Eine Ent­wick­lung, die dem Grund­ge­dan­ken der UN-Kon­ven­tion eigent­lich zuwi­derläuft. Die Auto­ren der Ber­tels­mann-Stu­die erklären die­ses Phänomen damit, dass ins­ge­samt mehr Kin­dern und Jugend­li­chen ein Förder­be­darf attes­tiert wird. Der Anteil der Schüler mit einem fest­ge­stell­ten Förder­be­darf stieg bis zum Schul­jahr 2011/12 um 0,4 Pro­zent an – bei ins­ge­samt rückläufi­gen Schüler­zah­len. Prof. Dr. Harald Rau, Vor­stands­vor­sit­zen­der der Zieg­ler­schen, fin­det für die Ent­wick­lung in Baden-Württem­berg noch eine wei­tere Erklärung: »Wir stel­len fest, dass bei unse­ren Son­der­schu­len zuneh­mend Eltern behin­der­ter Kin­der aus Bun­desländern anfra­gen, wo die Inklu­sion im Schul­we­sen in den letz­ten Jah­ren beson­ders vor­an­ge­trie­ben wurde. Dort müssten diese Kin­der eine Regel­schule besu­chen, fal­len aber bei­spiels­weise wegen ihres beson­ders auffälli­gen Ver­hal­tens durchs Ras­ter. Es mag bei­nahe zynisch klin­gen, aber wir müssen hier von ›Inklu­si­ons­ver­lie­rern‹ spre­chen. Das starke und fach­lich exzel­lente Son­der­schul­we­sen in Baden-Württem­berg ist für sol­che Schüler und ihre Eltern oft die letzte Hoff­nung auf eine gute, dem Kind gerecht wer­dende Beschu­lung.«

In der Öffent­lich­keit wird das Thema Inklu­sion inten­siv und kon­tro­vers dis­ku­tiert, wie ein Blick in Leser­briefe oder Online-Kom­men­tare zeigt. So diver­gie­rend die Ansich­ten dabei zum Teil sind, die leb­hafte Dis­kus­sion zeigt: Das Thema Inklu­sion ist fünf Jahre nach der Unter­zeich­nung der UN-BRK im Bewusst­sein der Gesell­schaft ange­kom­men. Was bedeu­tet dies für Träger sozia­ler Ein­rich­tun­gen wie die Zieg­ler­schen?

Auch bei den Zieg­ler­schen sind zual­ler­erst die Schul­an­ge­bote von der Inklu­si­ons­de­batte betrof­fen, bei­spiels­weise für hör-sprach­be­hin­derte Kin­der. Karin Lei­bold ist Sprach­heilpädago­gin der Sprach­heil­schule Fried­richs­ha­fen und arbei­tet seit drei Jah­ren in einer Außenklasse an der Som­mer­tal­schule in Meers­burg, einer Regel-Grund­schule. Was bedeu­tet es für die Leh­re­rin, »inklu­siv« zu unter­rich­ten? »Für mich liegt in der inklu­si­ven Beschu­lung von Kin­dern mit Hör-Sprach­be­hin­de­rung die Zukunft«, erklärt Karin Lei­bold. Gemein­sam mit ihrem Kol­le­gen aus der Grund­schule betreut sie eine Klasse von 21 Kin­dern, davon haben sechs eine Sprach­be­hin­de­rung. »Es war schon eine Verände­rung im Ver­gleich zum Unter­richt an der Sprach­heil­schule. In einer Klasse der Sprach­heil­schule sind etwa 12 Kin­der, hier sind es fast dop­pelt so viele. Und das Leis­tungs­spek­trum in einer Grund­schul­klasse ist viel größer.« In der Inklu­si­ons­klasse wird nach dem  Kon­zept des Team­te­a­chings gear­bei­tet. Das heißt, dass die Regel­schul- und die Sprach­heil-Lehr­kraft die Klasse zusam­men unter­rich­ten und gemein­sam die Verant­wor­tung für alle Kin­der – mit und ohne Behin­de­rung – tra­gen. Das gemein­same Unter­rich­ten war für Karin Lei­bold nicht neu, das war sie aus der Sprach­heil­schule gewohnt. Wohl war es aber neu für ihren Kol­le­gen aus der Grund­schule, sich auf die Vor- und Nach­teile, die das Team­te­a­ching mit sich bringt, ein­zu­stel­len: Für Abspra­chen wird zusätzli­che Vor­be­rei­tungs­zeit benötigt, dafür kann man sich die Auf­ga­ben aber auch auf­tei­len.

Doch die Grund­ge­dan­ken der UN-Kon­ven­tion betref­fen nicht allein die Schu­len. Die »Teil­habe an der Gesell­schaft« bezieht sich schließlich auf alle Aspekte des tägli­chen Lebens. Sarah Ems­lan­der und Jürgen Schübel arbei­ten im Stab der Geschäftsführung für die Behin­der­ten­hilfe der Zieg­ler­schen an der soge­nann­ten »Dezen­tra­li­sie­rung« von Wohnund Arbeitsplätzen für Men­schen mit Behin­de­rung, das heißt an der Ver­la­ge­rung von Ange­bo­ten aus großen zen­tra­len Ein­rich­tun­gen mit Heim­cha­rak­ter an klei­nere wohn­ort­nahe Stand­orte. Sie berich­ten: »Im Rah­men unse­res Dezen­tra­li­sie­rungs­pro­jekts ›DeziBel‹ wer­den neue, klei­nere und gemeind­ein­te­grierte Wohn­an­ge­bote geschaf­fen. Nach wie vor han­delt es sich hier­bei um ein beson­de­res Ange­bot für Men­schen mit Behin­de­rung, wel­ches dem Grunde nach mehr dem Prin­zip der ›Inte­gra­tion‹ als dem der ›Inklu­sion‹ ent­spricht, jedoch den Weg in eine inklu­sive Gesell­schaft berei­tet. Wir möchten damit das Wunsch- und Wahl­recht stärken und selbst­verständli­che Begeg­nungsmöglich­kei­ten von Men­schen mit und ohne Behin­de­rung schaf­fen, wes­we­gen durch­aus von einem inklu­si­ven Ansatz gespro­chen wer­den kann.«

Ein Bei­spiel für inklu­sive Ange­bote an einem dezen­tra­len Stand­ort ist ein gerade ent­ste­hen­des Arbeits­an­ge­bot der Zieg­ler­schen für Men­schen mit Behin­de­rung in Aulen­dorf, das einen naht­lo­sen Über­gang auf den ers­ten Arbeits­markt ermöglicht. In der neuen Betriebsstätte der Rotach-Werkstätten wer­den 36 Men­schen mit Behin­de­rung einen Arbeits­platz fin­den. Das Beson­dere an die­sem Pro­jekt ist die Koope­ra­tion zwi­schen einer Firma und einem sozia­len Träger unter dem Dach einer Werk­statt für Men­schen mit Behin­de­rung. Denn die Aulen­dor­fer Firma Hügler GmbH wird Teile ihrer Pro­duk­tion in die neuen Räumlich­kei­ten inte­grie­ren und zusam­men mit den Men­schen mit Behin­de­rung den Arbeit­sall­tag auf Augenhöhe gestal­ten. Die­ses Kon­zept über­zeugte auch den Förderaus­schuss des Lan­des Baden-Württem­berg für inno­va­tive und inklu­sive Pro­jekte. Das Ange­bot in Aulen­dorf ist das erste, das im Bereich Arbeit und Bil­dung als Vor­zei­ge­pro­jekt für gelebte Inklu­sion gefördert wer­den soll. »Wir betre­ten hier kom­plett neues Ter­rain. Men­schen mit und ohne Behin­de­rung wer­den in unse­rer inno­va­ti­ven und inklu­si­ven Werk­statt neben- und mit­ein­an­der ohne Bar­rie­ren zusam­men arbei­ten«, freut sich Olaf Sig­mund, Lei­ter der Rotach-Werkstätten.

Auch am Haupt­sitz der Zieg­ler­schen in Wil­helms­dorf geht es mit der Inklu­sion voran: Vier neue Appar­te­ments wer­den hier ein­ge­rich­tet. Dort können Men­schen mit Behin­de­rung weit­ge­hend selbstständig woh­nen. Unterstützung bekom­men sie von den ambu­lan­ten Diens­ten der Behin­der­ten­hilfe. Das Beson­dere: Alle diese Men­schen wohn­ten zuvor in einem sta­tionären Set­ting, wech­seln also in die selbstständi­gere Form des ambu­lant betreu­ten Woh­nens. Dass die­ser Über­gang gelingt, daran arbei­ten die Mit­ar­bei­ter des sta­tionären und des ambu­lan­ten Bereichs gemein­sam. »Grund­vor­aus­set­zung für einen Wech­sel ist die Bereit­schaft des Kun­den dazu. Für uns ist es im Ver­lauf wich­tig, durch rundum trans­pa­rente Infor­ma­tion dem Kun­den und allen ande­ren Betei­lig­ten ein sehr genaues Bild davon zu ver­mit­teln, wie eine Ambu­lante Wohn­form aus­se­hen kann«, erklärt Clau­dia Apel, Lei­te­rin der Ambu­lan­ten Dienste.

So wird bei den Zieg­ler­schen in vie­len Pro­jek­ten an der Umset­zung der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion gear­bei­tet. Doch gel­ten nicht gerade große soziale Träger wie die Zieg­ler­schen als »Brem­ser« im Inklu­si­ons­pro­zess? Der Vor­stands­vor­sit­zende, Prof. Dr. Harald Rau, fin­det hier deut­li­che Worte: »Wir las­sen uns weder von den radi­ka­len Inklu­si­ons-Befürwor­tern noch von den Geg­nern ver­ein­nah­men. Für uns steht der Mensch im Mit­tel­punkt, mit sei­nen indi­vi­du­el­len Stärken und Schwächen, sei­nen Wünschen und Möglich­kei­ten. Men­schen mit Behin­de­rung sol­len wählen können, wie sie leben möchten, dazu brau­chen sie Wahlmöglich­kei­ten.«

* Namen geändert

Erfahren Sie mehr

Auch bei den Zieglerschen geht es in der Inklusionsdebatte vor allem um die Schulangebote

Selbstständig Wohnen in Wilhelmsdorf – gut betreut durch die Ambulanten Dienste