Angedachtes_von

Pfarrer Ernest Ahlfeld

Inklusion bedeutet: Menschen mit Behinderung sollen ohne Hilfe anderer leben können. Macht das am Ende nicht einsam? Gedanken vom Pfarrer der Evangelischen Brüdergemeinde Wilhelmsdorf.

Angedachtes

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Pfarrer Ernest Ahlfeld

Inklusion bedeutet: Menschen mit Behinderung sollen ohne Hilfe anderer leben können. Macht das am Ende nicht einsam? Gedanken vom Pfarrer der Evangelischen Brüdergemeinde Wilhelmsdorf.

Angedachtes

Oktober 2014

Schafft Inklusion das Helfen ab?

Text: Ernest Ahlfeld

Jede Zeit hat ihre Wörter. Ein Wort unse­rer Zeit ist Inklu­sion. Men­schen ganz­heit­lich teil­ha­ben las­sen an den Ange­bo­ten und Möglich­kei­ten des Lebens und der Gesell­schaft. Geis­tige und körper­li­che Han­di­caps über­win­den, um Teil­habe zu ermögli­chen. Das will Inklu­sion. Und das ist im Grunde zu beja­hen. Doch im All­tags­le­ben einer Kir­chen­ge­meinde tau­chen bei der Umset­zung aller­lei Fra­gen auf. Ein Bei­spiel aus Wil­helms­dorf, unse­rer Brüder­ge­meinde: Bar­rie­re­frei sol­len Men­schen in den Bet­saal, unsere Kir­che, kom­men – also selbstständig, ohne jede Hilfe. Wir haben nach lan­ger Dis­kus­sion einen Zugang umge­baut, Trep­pen ent­fernt, keine Kos­ten gescheut. Jetzt ist der neue Zugang da und alle sind begeis­tert.

Doch eine kri­ti­sche Frage aus der Dis­kus­sion im Vor­feld blieb bei mir hängen: »Warum braucht man die­sen Umbau eigent­lich? Wir sind doch im Got­tes­dienst nie alleine, wir sind doch da, um ein­an­der zu hel­fen!« In der Tat kamen viele unse­rer Roll­stuhl­fah­rer auch vor­her durch gegen­sei­ti­ges Hel­fen in den Bet­saal. Soll die Inklu­sion also das Hel­fen abschaf­fen? Sicher nicht.

Der Theo­loge in mir denkt an 1. Kor. 12. Pau­lus ver­gleicht dort die Gemeinde mit einem Leib, der, vom Hei­li­gen Geist zusam­men­ge­hal­ten, aus vie­len ver­schie­de­nen Glie­dern besteht. Ziel der Gemeinde ist es nicht, die Ver­schie­den­heit auf­zu­he­ben und die Glie­der von­ein­an­der unabhängig zu machen, son­dern sie zusam­men­zu­hal­ten, dass sie sich gegen­sei­tig stärken. Dabei ist unbe­dingt aller Gleich­ma­che­rei zu weh­ren: Ein Auge ist nun mal kein Ohr.

Ein bar­rie­re­freier Zugang steht dem nicht im Weg, kri­tisch wird es für mich an ande­rer Stelle. Wir haben in Wil­helms­dorf viele Men­schen mit geis­ti­ger und Hörbe­hin­de­rung. Doch »künst­li­che« Sam­melorte sol­len abge­schafft wer­den. Inklu­sion in klei­nen Ein­hei­ten vor Ort liegt im Trend. Das hat sicher Stärken, aber ich sehe auch Schat­ten­sei­ten: Bei uns gehören Men­schen mit Behin­de­rung selbst­verständlich dazu. Ele­mente mit unterstützen­den Gebärden sind Teil der Got­tes­dienste. Das Vaterun­ser wird mit Gebärden gebe­tet und die Gemeinde hat sich an die manch­mal etwas ande­ren »Glie­der« gewöhnt. Ja, wir erle­ben sie als wirk­li­chen Reich­tum. Wir erle­ben einen leben­di­gen, vielfälti­gen Leib.

Wenn unsere behin­der­ten Geschwis­ter weg­ver­legt wer­den aus inklu­si­ons­po­li­ti­schen Gründen und am Ende nur noch ein oder zwei dann in ihrem Dorf oder Städtle leben, wird dort jemand noch so auf sie ein­ge­hen? Dürfen sie wei­ter­hin leben­dige Glie­der am Leib sein? Wird jeder Pfar­rer in jeder Gemeinde die Gebärden ler­nen? Dient diese Poli­tik noch den Glie­dern und dem Leib? Gelun­gen ist Inklu­sion nur dort, wo sie Men­schen zusam­menführt und nicht dort, wo sie Men­schen
nur unabhängi­ger und am Ende ein­sa­mer macht.