»Die Bewusstseinsbildung ist der größte Fortschritt«
Dr. Sigrid Arnade
»Die Bewusstseinsbildung ist der größte Fortschritt«
Dr. Sigrid Arnade
Interview
Oktober 2014
Interview mit Dr. Sigrid Arnade, Sprecherin der BRK-Allianz. Die mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Journalistin, die selbst im Rollstuhl sitzt, ist seit vielen Jahren behindertenpolitisch aktiv.
Text: Sarah Benkißer
Frau Dr. Arnade, die »BRK-Allianz«, ein Zusammenschluss von 78 Organisationen aus den Reihen der behindertenpolitisch arbeitenden Verbände in Deutschland, hat 2013 den ersten Bericht der Zivilgesellschaft zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention (BRK) in Deutschland vorgelegt. Wo steht Deutschland bei der Umsetzung?
Wir sind der Ansicht, dass die strukturelle Umsetzung der Behindertenrechtskonvention mit Focal Point(s) (Staatliche Anlaufstellen, Anm. d. Red.), der Monitoringstelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte und einem Koordinierungsmechanismus (Inklusionsbeirat) gut gelungen ist und sich im internationalen Vergleich sehen lassen kann. Demgegenüber fällt die inhaltliche Umsetzung mit einem unzureichenden Nationalen Aktionsplan schwach aus.
In ihrem Bericht bemängelt die BRK-Allianz, dass die inhaltliche Umsetzung der UNBRK »entweder gar nicht oder unzureichend erfolgt«. Wo sehen Sie Nachholbedarf?
Es besteht in vielen Bereichen enormer Handlungsbedarf. So fehlt der deutschen Behindertenpolitik generell und dem Nationalen Aktionsplan insbesondere eine durchgängige Menschenrechtsperspektive. Zudem werden die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen im Nationalen Aktionsplan unter Kostenvorbehalt gestellt. Es fehlen verpflichtende Zielvorgaben und überprüfbare Zwischenschritte. Querschnittsthemen wie Migration oder Assistenz werden zwar anfangs benannt, später aber kaum aufgegriffen. Und die Zivilgesellschaft hat wiederholt kritisiert, dass bislang keine echte Partizipation realisiert wurde. Beispielsweise wurde die Zivilgesellschaft bei der amtlichen Übersetzung der BRK ins Deutsche nicht einbezogen, sodass es dort viele Fehler gibt. Der schwerwiegendste ist die Übersetzung des englischen Wortes »inclusion« mit dem deutschen Wort »Integration«, obwohl es im Englischen wie im Deutschen beide Begriffe gibt, mit denen unterschiedliche Konzepte verbunden sind.
Und wo sehen Sie die größten Fortschritte?
Außer der bereits positiv erwähnten strukturellen Umsetzung möchte ich hier die Bewusstseinsbildung nennen. Weniger durch staatliches Handeln als vielmehr durch den Protest zum Beispiel gegen die fehlerhafte Übersetzung oder den Stillstand bei der Umsetzung haben sich viele Menschen und Organisationen mit der BRK auseinandergesetzt. Die vielen Diskussionen, die beispielsweise rund um das Thema Inklusion geführt werden, tragen zur Bewusstseinsbildung bei.
»Echte Inklusion ist teurer als die Spezialeinrichtung«, diese These hat unser Vorstandsvorsitzender Prof. Dr. Harald Rau aufgestellt. Sind Sie seiner Meinung?
Nein, im Gegenteil. Kurzfristig mag es durch die parallele Existenz von Doppelstrukturen teurer werden. Mittelfristig lässt sich die Inklusion durch eine vernünftige Umschichtung der Gelder fast kostenneutral realisieren. Und langfristig müsste es meiner Meinung nach zu Einspareffekten kommen, weil man sich teure Integrationsprogramme sparen kann, wenn man nicht erst aussondert.
Wie würden Sie diesen Satz vervollständigen? »Die UNBehindertenrechtskonvention haben wir in Deutschland erfolgreich umgesetzt, wenn...«
...die BRK in Vergessenheit gerät.
Vielen Dank für das Interview!