Porträt
April 2014
Ordnung, Disziplin, Gehorsam, Schläge und Gewalt – so sahen die Lebensbedingungen von »Heimkindern« nach dem zweiten Weltkrieg aus. Erst mit den gesellschaftlichen Umwälzungen in den 1970er Jahren änderten sich die Heime radikal. Aber wie ist es heute in einem Heim? Wie lebt und denkt ein Heimkind heutzutage? Der 17-jährige Arno gibt Auskunft.
Text: Katharina Stohr
Frisches Gel im leicht strubbligen Haar, weißes Kapuzen-Shirt und eine Brille mit schwarzem Rand: Der 17-jährige Arno sitzt am runden Tisch und erzählt mit ausgewählten Worten aus seinem Leben. »Mittlerweile habe ich viele Freiheiten in meiner Wohngruppe, das vermeidet Ärger«. Mit seiner »Selbstverantwortlichkeit« habe das zu tun, sagt er. »Als ich mit 14 hierher kam, dachten meine Erzieher vermutlich, ›das ist so ein kleiner Soicher‹ und waren entsprechend streng. Mit 15 merkten sie wahrscheinlich: ›Der macht sein Ding‹ und ließen die Leine zunehmend locker.«
»Aggressionsprobleme haben mich ins Martinshaus Kleintobel geführt«, sagt Arno mit ruhiger, sanfter Stimme. Viel Gewalt in der Schule sei dabei im Spiel gewesen. Er habe einiges probiert, damals, sei von einer Schule zur nächsten gewechselt – in der letzten Schule habe er dann den Unterricht boykottiert. »Schulverweigerung « nennt er das. Dann besuchte er vier Monate lang gar keine Schule, bis ihm das Jugendamt vorschlug, einen frei gewordenen Platz in der Jugendhilfe der Zieglerschen anzunehmen. Deren Schule für Erziehungshilfe ist seit drei Jahren also Station Nummer sechs. Mit den Fingern zählt er auf, wo er zuvor schon überall war.
Weg von Vater und Mutter, Schwester und Bruder – rein in eine Innenwohngruppe auf dem Martinshaus-Gelände, zusammen mit sechs anderen Jungs und fünf Erziehern im Wechseldienst. So sah sein neues Zuhause damals aus – bis heute ist es so geblieben. »Hierher zu kommen, das war zu Beginn ungewohnt und heimwehmäßig«, sagt er. »Körperlich ging es mir gut, aber psychisch hat sich dann wohl unterbewusst gezeigt, dass ich von zuhause weg bin.« So wurde er auch mal mit Bauchschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Nach etwa drei Monaten habe sich aber alles gelegt. »Ich kam dann klar mit der Situation.«
Arnos Stimme ist immer noch ruhig, als er so erzählt. Sein anfängliches Misstrauen hat sich gelegt. Er weiß, was er will: Sein richtiger Name soll nicht in diesem Porträt stehen, überhaupt möchte er nicht erkannt werden, er, der sich mittlerweile in mehreren ortsansässigen Vereinen sozial engagiert, viele Freunde gefunden und Fuß gefasst hat. »Der Bezug zu einem Jugendverein als erstes soziales Netz hat mir in der Anfangsphase hier sehr geholfen.« Genauso wie die regelmäßigen Gespräche mit dem Seelsorger der Jugendhilfe. »Der sprach im Reli-Unterricht über Seelsorge und ich dachte: Was ist das denn für ein komischer Typ?« Nach einer kurzen Pause setzt er fort: »Dem bin ich dann auf den Grund gegangen und habe ihn nach seinem Angebot gefragt – seither spricht man miteinander.« Über was? »Situation zuhause, was im Haus hier so läuft, Tipps, was man tun kann oder wenn es Ärger in der Schule gibt.«
Arno besucht die 10. Klasse der Realschule in Kleintobel, die Prüfungen zur Mittleren Reife stehen bevor. »Ich möchte nach der Schule hier bleiben, alle meine Freunde sind hier.« Dann bringt er wieder das Wort »Selbstverantwortung« ins Spiel, die er seit seinem Aufenthalt hier übernommen hat. Gemeint ist damit, dass er sich selbst um sein Leben kümmert, Arzt-Termine selbst organisiert, sich selbst Ferienjobs sucht, selbst mit dem Fahrrad zu den drei Vereinsabenden in der Woche fährt, bei Bedarf Vertretungen für Wohngruppendienste wie Spülen oder Esstisch decken managt, eigenständig Bewerbungen für Ausbildungsplätze schreibt und sich Hilfe holt, wenn nötig. Dieses eigenständige Verhalten und sein starker Wille würde sich mit den Eltern zuhause schneiden, da gebe es dann immer Knatsch. Zuletzt war er vor über sieben Wochen daheim. »Wenn ich nach Hause fahre, dann nur, um meine Eltern oder Geschwister zu sehen.«
Nach der Schule will er mit einer Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker starten. Im Moment steht er mit drei interessierten Firmen in Kontakt. Und er wünscht sich eine Einzelwohnung im Betreuten Jugendwohnen. Die Innenwohngruppe findet er zwar gut: »Ich strenge mich an und meine Erzieher merken das und kommen mir entgegen.« Aber manche Regeln »nerven«, sagt er etwas resoluter. Von 7:10 Uhr bis zum Abend gibt es für ihn klare Dinge zu beachten. Zum Beispiel auch, dass er abends zu bestimmten Zeiten wieder in der Gruppe sein oder andernfalls entsprechend Bescheid geben muss. Er liebt die Freiheit: »In einer eigenen Wohnung kann ich tun und lassen was ich will.«
Seine drei Vereinsabende sind Lebenselixier für ihn. Sich sozial zu engagieren und gleichzeitig Kontakt zu tollen Menschen zu haben, macht im Spaß. Daher soll das nach seiner Ausbildung zum Beruf werden. Glasklare Pläne hat er dazu geschmiedet, die er flüssigst aufzählt und durchblicken lässt: Eine Ausbildung wird auf der anderen aufbauen. »Es hat sich schon einiges bei mir verändert«, sagt er rückblickend. »Ich hätte wohl nie den Bezug zu meinen Vereinen gefunden oder mich selbstständig um Ausbildungsplätze gekümmert, wenn ich nicht hierher gekommen wäre.« Er wisse selber nicht, was exakt ihm hier geholfen habe. Aber eines weiß er genau: »Man muss versuchen, das Beste aus seinem Leben zu machen und daran festhalten, wenn man etwas will – und mit Händen und Füßen daran arbeiten.«
Dezember 2013
Thomas Lämmle
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Thomas Lämmle hatte einen Traum. Vier 8.000er wollte er besteigen, die höchsten Berge der Welt. Der Traum hat sich für den leidenschaftlichen Extrembergsteiger erfüllt. Zumindest fast. Der 48-Jährige, im Hauptberuf Lehrer an der Leopoldschule in Altshausen, nahm ein Sabbatjahr und reiste auf das Dach der Welt. Das Porträt.
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Sie haben morgens recht und nachmittags frei – so zumindest das gängige Vorurteil gegenüber Lehrern aller Art. Bei Alexandra Hoffmann (35), Leiterin der Sprachheilschule Sigmaringen, stimmt das alles nicht so ganz. Wir haben die engagierte Lehrerin und Schulleiterin einen Schultag lang begleitet. Das Porträt.
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Sie organisieren Erholungswochenenden für Mütter behinderter Kinder. Sie klappern Firmen ab, um Gelder für behinderte Künstler lockerzumachen ... Seit mehr als 30 Jahren engagiert sich Ina Ströbele und seit 13 Jahren ihr Mann Walter ehrenamtlich für Menschen mit Behinderungen. »Die Aufgaben haben immer uns gefunden«, so die beiden 66-Jährigen in unserem Porträt.
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Antonio Nuzziello
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