»Man kann es schaffen – wenn man sich Hilfe sucht«

Porträt

»Man kann es schaffen – wenn man sich Hilfe sucht«

Tobias

Porträt

Juli 2012

Tobias, 24, lächelt leise vor sich hin, als er über sein Leben nach­denkt. Als Drei­jähriger kam er ins Sprach­heil­zentrum Ravens­burg, besuchte dort den Früh­förder­bereich, später die Schule. Er lernte, seine Sprache zu verbessern und selbst­ständig zu lernen. Er lernte selbst­bewusst zu werden. Heute ist Tobias Mechaniker in einem Maschinen­bau­unter­nehmen und sagt: »Ich habe meine Ziele erreicht«. Das Porträt.

Text: Katharina Stohr

Tobias lehnt ent­spannt im Stuhl und lächelt leise vor sich hin, als er über sein bis­he­ri­ges Leben nach­denkt. Er mag‘s gerne ruhig – das ist ihm lie­ber als überfüllte Ver­an­stal­tun­gen oder Arbeitsplätze mit extrem hohem Geräusch­pe­gel. Die ein­zige Aus­nahme macht Tobias bei Joy, die fremde Besu­cher erst mal laut ankläfft. Denn eines ist klar: Sie ist Hun­de­che­fin im Haus und würde ihr 24-jähri­ges Herr­chen ver­tei­di­gen, ohne mit der Wim­per zu zucken.

Tobias hin­ge­gen kann sehr gut selbst für sich spre­chen und sich selbst weh­ren. Das war nicht immer so. Vor über 20 Jah­ren, als gut Dreijähri­ger, schritt er an der Hand sei­ner Mut­ter Wal­burga zur Frühförde­rung für sprach­auffällige Kin­der im Sprach­heil­zen­trum Ravens­burg. »Außer Mama, Papa, Auto und Bag­ger konnte Tobias damals keine verständli­chen Worte spre­chen«, sagt Wal­burga Sko­ru­pin­ski. Mit die­sem Schritt begann ein lan­ger Weg für die ganze Fami­lie.

Über ein Jahr lang besuchte Tobias zunächst wöchent­lich den Frühförder­be­reich im Sprach­heil­zen­trum, spielte zusam­men mit drei ande­ren Kin­dern und wurde indi­vi­du­ell von einer Sprach­heilpädago­gin beglei­tet. »Kin­der wie er müssen andere Wege ein­schla­gen, um Dinge wahr­zu­neh­men«, sagt seine Mut­ter und erklärt, dass bei einem sprach­auffälli­gen Kind zuerst ein­mal des­sen Sinne geweckt und berei­chert wer­den müssen. Gegenstände anfas­sen oder schau­keln, während die Leh­re­rin einen Reim oder ein Lied mit dem Wort Schau­kel anstimme, könne dabei hel­fen. »Beim Schau­keln wurde mit den Kin­dern damals zum Bei­spiel der Dop­pel­laut ›au‹ aus dem Wort Schau­kel wie­der­holt«, sagt Wal­burga.

Tobias kann sich heute nicht mehr daran erin­nern. Aus der Zeit im Sprach­heil­kin­der­gar­ten des Sprach­heil­zen­trums, die ansch­ließend zwei Jahre lang folgte, fal­len ihm jedoch viele Freunde ein. Zu man­chen hat er heute noch Kon­takt. »Über face­book.« Gemein hat er mit den meis­ten die­ser Freunde, dass er im Alter von vier Jah­ren die Spra­che zwar ver­stand und eine Vase zei­gen konnte, wenn er nach einer Vase gefragt wurde. In sei­nem Inners­ten konnte er jedoch die Worte nicht ent­spre­chend abru­fen, um sie auch aus­spre­chen zu können. Das hieß für ihn, im har­ten und schweißtrei­ben­den Trai­ning Worte und deren Auss­pra­che zu ler­nen. Was zu die­sem Ler­nen gehört, beschreibt Mut­ter Wal­burga: »Wo muss die Zunge beim Spre­chen lie­gen oder wie muss die Mund­stel­lung sein?«

Sie fin­det, dass ihr Sohn immer sehr viel an sich gear­bei­tet und trai­niert hat, um seine Spra­che zu ver­bes­sern. Für den Besuch einer all­ge­mei­nen Grund­schule reichte das Sprach­vermögen jedoch noch nicht aus, wes­we­gen Tobias die Grund­schule im Sprach­heil­zen­trum Ravens­burg besuchte. »Mathe hat mir immer total viel Spaß gemacht«, sagt er. Als er in der Schule ein­zelne Buch­sta­ben ver­ste­hen lernte und dar­aus Worte bas­teln und inner­lich als Wort-Bil­der verknüpfen konnte, ging es auch mit der Sprach­ent­wick­lung vorwärts. »Ich habe immer die Buch­sta­ben auf dem Vor­la­ge­pa­pier mit dem Stift nach­ge­zo­gen«, erin­nert er sich. Der spe­zi­ell auf ihn abge­stimmte Unter­richt im Sprach­heil­zen­trum mit den klei­nen Klas­sen bis zu 12 Schülern hat ihm gut gefal­len und gehol­fen. Für Sko­ru­pins­kis lag es daher auf der Hand, dass Tobias auch die Klas­sen 5 und 6 der Haupt­schule im Sprach­heil­zen­trum Ravens­burg besuchte.

Dass er dabei stets selbst­mo­ti­viert gelernt hat, ist ihm beim Wech­sel in der sieb­ten Klasse in eine all­ge­meine Haupt­schule zum Vor­teil gewor­den. »Ich war dort auf mich selbst ange­wie­sen«, sagt er, »die Leh­rer haben erwar­tet, dass ich sel­ber schaue, ob ich mit­komme«. So hat er daheim stun­den­lang Dik­tate geübt und gebüffelt. Mit Erfolg: Nach drei Jah­ren hatte er den Haupt­schul­ab­schluss in der Tasche. »Gehänselt wurde ich wegen mei­ner Spra­che während der gan­zen Jahre nie«, sagt Tobias. Im Gegen­teil – er habe immer sehr schnell Freunde gefun­den. Und außerdem hat er gelernt, für sich ein­zu­ste­hen und seine Inter­es­sen ver­bal zu ver­tei­di­gen.

Keine Selbst­verständlich­keit für Kin­der mit die­sen Pro­blem­la­gen, fin­det Mut­ter Wal­burga, die in ihren Beruf als Erzie­he­rin zurückkehrte, nach­dem Tobias eine Aus­bil­dung zum KFZ-Mecha­tro­ni­ker begon­nen hatte. Dass sie damals aus­ge­rech­net in einem Sprach­heil­kin­der­gar­ten zu arbei­ten begann, hat nicht unwe­sent­lich mit den Erfah­run­gen aus den Jah­ren davor zu tun. Ein Anlie­gen ist ihr dabei zur Her­zens­sa­che gewor­den: »Es ist ganz wich­tig, das Selbst­be­wusst­sein sprach­auffälli­ger Kin­der zu stärken«, sagt sie. Das funk­tio­niere nur, wenn die Eltern selbst stark seien und in der fach­li­chen Beglei­tung gestärkt würden. Denn nicht sel­ten tau­che die Frage bei betrof­fe­nen Eltern auf: »Was machen wir falsch und wel­che Möglich­kei­ten gibt es für uns?«

Einig sind sich Mut­ter und Sohn, dass die ganze Fami­lie auf ihrem Weg immer sehr viel Glück gehabt hat und dass sie oft auf Men­schen tra­fen, die sie in ihren Anlie­gen unterstützten. Heute arbei­tet Tobias als Mecha­ni­ker in einem Maschi­nen­bau­un­ter­neh­men. »Ich habe meine Ziele erreicht«, sagt er und strei­chelt Joy, die Löwchen-Hündin, die mitt­ler­weile auf sei­nen Schoss gehüpft ist und weit ihr Maul auf­reißt und gähnt. »Wer in einer sol­chen Lage ist, wie ich es war, soll Hilfe suchen und Hilfe anneh­men. Man kann es schaf­fen!«