Sind mehrsprachige Kinder öfter sprachbehindert?

Interview

Sind mehrsprachige Kinder öfter sprachbehindert?

Interview

Juli 2012

Interview mit Dr. Margit Berg, Akademische Ober­rätin an der Päda­gogischen Hoch­schule Heidel­berg, über den Zusammen­hang von Migrations­hinter­grund, Mehr­sprachig­keit und Sprach­behin­derung.

Text: Katharina Stohr

Frau Dr. Berg, Sie haben beim Fach­tag des Hör-Sprach­zen­trums einen inter­essan­ten Vor­trag zum Thema »Sprach­verständnis und -pro­duk­tion an der Schnitt­stelle von Sprach­be­hin­de­rung und Mehr­spra­chig­keit« gehal­ten. Darin haben Sie jene Gruppe mehr­spra­chi­ger Kin­der betrach­tet, die sprach­be­hin­dert ist. Sind mehr­spra­chige Kin­der öfter sprach­be­hin­dert als ein­spra­chige Kin­der und hängen Mehr­spra­chig­keit und Sprach­be­hin­de­rung zusam­men?
Zunächst ein­mal: Die Mehr­spra­chig­keit ist keine Ursa­che von Sprach­be­hin­de­rung, son­dern eine Kom­pe­tenz von Men­schen! Es ist tatsächlich so, dass mehr­spra­chige Kin­der nicht häufi­ger sprach­be­hin­dert sind als ein­spra­chige Kin­der. Man ging lange davon aus, dass Mehr­spra­chig­keit ein Ent­wick­lungs­ri­siko ist und häufig zu Sprach­be­hin­de­rung führt. Das ist nicht der Fall. Was wir mer­ken, ist, dass mehr­spra­chige Kin­der zum Teil Struk­tu­ren aus ihrer ers­ten Spra­che in die zweite Spra­che über­neh­men. Dass sie sich zum Bei­spiel schwer­tun, die Laute des Deut­schen zu bil­den, wenn es Laute sind, die in ihrer Spra­che nicht vor­kom­men. Da gibt es durch­aus Zusam­men­hänge. Die machen aber nicht den Kern der Sprach­be­hin­de­rung aus.

Etwa sechs bis acht Pro­zent aller Kin­der haben eine Sprach­be­hin­de­rung – unab­hän­gig von der Spra­che des Kin­des. Erst etwa seit den 90er Jah­ren wurde der Bereich mehr­spra­chige Kin­der mit Sprach­be­hin­de­rung verstärkt for­schungsmäßig ange­gan­gen. Wieso ist die­ses Thema seit­her so ange­sagt?
Wir wis­sen aus neue­ren Stu­dien, wie zum Bei­spiel der Pisa-Stu­die, dass sprach­li­che Kom­pe­tenz einen star­ken Zusam­men­hang hat mit Schu­ler­folg, mit Bil­dungs­er­folg und mit der gesam­ten Ent­wick­lung von Kin­dern und Jugend­li­chen. Und das zieht sich bis ins Erwach­se­nen­al­ter hin­ein. Das heißt, eine geringe Sprach­kom­pe­tenz ist auch wirk­lich ein Hemm­nis für andere Ent­wick­lungs­be­rei­che. Lange Zeit wurde die­ser Zusam­men­hang nicht gese­hen, mehr­spra­chige Kin­der waren gar nicht im Blick. Es kommt noch dazu, dass die Dia­gnose von Sprach­be­hin­de­rung bei Mehr­spra­chig­keit unglaub­lich schwie­rig ist – also her­aus­zu­krie­gen: Warum macht das Kind bestimmte Feh­ler? Hängt es zusam­men mit dem Deut­sch­er­werb oder ist es wirk­lich sprach­be­hin­dert?

Bekom­men sprach­be­hin­derte Kin­der mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund genauso viel Sprachförde­rung wie deutsch­spra­chige Kin­der? Fällt eine Sprach­be­hin­de­rung bei einem Kind mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund weni­ger auf?
Auffällig ist, dass in Sprach­heil­schu­len mehr­spra­chige Kin­der unter­repräsen­tiert sind. Das wird in der Regel anders ein­geschätzt. Oft wird ange­nom­men, dass betrof­fene Kin­der ein­fach in die Sprach­heil­schu­len rein­ge­steckt wer­den. Das stimmt sta­tis­tisch nicht. In allen ande­ren Son­der­schu­len sind mehr­spra­chige Kin­der deut­lich über­repräsen­tiert. Das könnte ein Hin­weis dar­auf sein, dass bei mehr­spra­chi­gen Kin­dern die Sprach­be­hin­de­rung gar nicht erkannt wird, son­dern es oft zu einer Fehl­deu­tung kommt: dass die Kin­der zum Bei­spiel als lern­be­hin­dert iden­ti­fi­ziert wer­den, obwohl sie es nicht sind.

Wie wich­tig sind die Eltern bei der Sprachförde­rung?
Das Eltern­haus spielt inso­fern eine wich­tige Rolle, als man zum Bei­spiel die Eltern bera­ten muss, wie sie zu Hause mit den Kin­dern spre­chen. Gene­rell ist es hilf­reich, wenn die Eltern – sofern sie nicht sehr gut deutsch spre­chen – zu Hause die Fami­li­en­spra­che spre­chen. Das wirkt sich offen­bar bes­ser auf die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ent­wick­lung des Kin­des aus, als wenn die Eltern selbst ein nicht so gutes deut­sches Sprach­mo­dell geben. Natürlich muss dann aber auch frühzei­tig eine Förde­rung in Deutsch hin­zu­kom­men, damit der deut­sche Wort­schatz bis zur Ein­schu­lung weit genug ent­wi­ckelt ist.

Vie­len Dank für das inter­essante Gespräch!