
»Ich bewunderte ihre Leistungen und ihre Frömmigkeit«

»Ich bewunderte ihre Leistungen und ihre Frömmigkeit«
Mathilde Ziegler
Porträt
März 2024
Über Johannes Ziegler, den Namensgeber der Zieglerschen, ist viel bekannt. Was aber weiß man über seine Frau? Über »Frau Direktor«, »Mama Ziegler« oder »mein Fraule«. Kurz vor seinem Tod schrieb er über sie: »Nur im Bunde mit meiner lieben Frau konnte ich das Werk, dass er mir aufgetragen hatte, hinausführen.« Versuch einer Annäherung an Mathilde Ziegler – fast 100 Jahre nach ihrem Tod. Das Porträt.
Text: Petra Hennicke
Die Geschichte von Mathilde Ziegler ist eine durch und durch Wilhelmsdorfer Geschichte. Alle wichtigen Stationen ihres Lebens – Geburt, Kindheit, Berufsleben, Alterssitz und letzte Ruhestätte – liegen in einem Radius von weniger als 200 Metern um den zentralen Saalplatz herum. Ein Lebenskreis, den man zu Fuß in 20 Minuten durchschreiten könnte. War es ein kleines Leben? Sicher nicht.
Geboren wurde Mathilde am 19. Februar 1840. Drei Jahre zuvor war ihr Vater, August Friedrich Oßwald, nach Wilhelmsdorf gekommen, um hier taubstumme Kinder zu unterrichten. Der Lehrer fand eine Frau und gründete mit ihr die Taubstummenanstalt. In dieser Anstalt wurde Mathilde geboren – 50 Meter vom Saalplatz entfernt. Als sie vier war, starb ihre Mutter. Der Vater heiratete neu, die Familie wuchs um 11 weitere Kinder an. »Zu fröhlichem Spiel« blieb nur selten Zeit, denn da waren all die Geschwister, die es zu versorgen galt. Als sie noch nicht groß genug war, »um die Suppe auf dem Herd umzurühren, tat sie es auf einem Schemel stehend«. Eine Kindheit in Armut und ständiger Not.
Mathilde ist 24, da kommt Johannes Ziegler in die Taubstummenanstalt. Der junge Lehrer hat mit den »Töchtern des Hauses« wenig zu tun. Doch etwas muss ihn an ihr angezogen haben: »Ich bewunderte ihre Leistungen und ihre Frömmigkeit, hörte gern die Lieder, welche sie aus voller Brust sang«, schreibt er. Als er erfährt, dass ein Missionar eine Oßwald- Tochter um ihre Hand bitten wolle, kommt sein »Herz in unerklärliche Bewegung.« Nach längerem Zaudern und »viel Gebet« vertraut er Mathilde seine Gefühle an. Als sie Ja sagt, fallen beide zum Gebet »auf die Knie«.
Dass erst 1868, also gut eineinhalb Jahre später, geheiratet wird, hat auch damit zu tun, dass Mathilde das »einzige Mal in ihrem Leben« Wilhelmsdorf für längere Zeit verließ. Im 102 Kilometer entfernten Zürich pflegt sie für ein halbes Jahr kleine Kinder, kehrt dann aber – für immer – nach Wilhelmsdorf zurück. Der Anfang als junges Paar war schwer. In der Taubstummenanstalt ist kein Platz, Häuser zur Miete gab es nicht. Also ziehen sie ins Gasthaus zur Post, das zu dieser Zeit Mathildes Bruder gehört. Für die Unterkunft direkt am Saalplatz muss sie täglich bis tief in die Nacht »Frondienst« tun.
Am 1. Mai 1873 übernimmt Johannes Ziegler von seinem Schwiegervater die Taubstummenanstalt und das Knabeninstitut. Damit »beginnt der eigentliche Beruf« von »Frau Direktor« oder »Mama« Ziegler: Die 33-Jährige ist nun Hausmutter zweier Anstalten und gestaltet eine Geschichte, die wir aus Sicht ihres Mannes gut kennen, wesentlich mit. Der Anteil Mathildes an vielen Entscheidungen scheint groß gewesen zu sein. Jedes Bauvorhaben, den Umzug der Taubstummenanstalt – all das, was den »äußeren Rahmen dieses großen Werkes markierte« – besprach er mit seiner Frau.
Während Johannes Ziegler als Direktor und Stratege wirkte, lag »das Ausstatten der Häuser im Innern, die vielen Anschaffungen, die Anstellung und Anleitung der Dienstboten, das Versorgen der immer größer werdenden Anstaltsgemeinde «, ganz in Mathilde Zieglers Händen. Tag für Tag organisiert sie eine Großküche für mehr als 200 Internatsinsassen, schneidet selbst das Brot, teilt Butter zu, zerlegt Fleisch. Daneben sind Häuser zu reinigen, Wäsche zu pflegen, der Schlafsaal zu säubern. Der unendliche Kreislauf von Hausarbeiten, die niemals wirklich enden. Viele Jahre litt sie »unter heftigem Nervenkopfweh, das morgens besonders schmerzhaft war. Trotzdem stand sie auf, band ein Tuch straff um den Kopf und ging an die Arbeit.«
1907 stirbt »Direktor Ziegler«. In seinem letzten Willen verfügt er, dass man die Anstalten künftig als Verein organisieren solle. Seiner Witwe räumt er wichtige Entscheidungsmacht ein, die sie auch wahrnimmt, indem sie darauf dringt, »daß die Neuerung nunmehr endgültig durchgeführt werde«. Ihre Arbeit setzt sie noch zwei Jahre fort. Dann zieht sie, mit fast 70, ins »Haus Salem« am Saalplatz und findet dort ihre lange ersehnte Ruhe. 16 Jahre später, am 16. August 1926, schließt die 86-Jährige für immer ihre Augen. »Ein Stück Wilhelmsdorfer Geschichte hat damit seinen Abschluss gefunden «, heißt es im Nachruf. Heute liegen Mathilde und Johannes Ziegler gemeinsam auf dem Friedhof in Wilhelmsdorf – rund 150 Meter vom Saalplatz entfernt.

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