»Das war das Beste, was mir passieren konnte«

Porträt

»Das war das Beste, was mir passieren konnte«

Vanessa Hirrlinger

Porträt

März 2015

Vanessa Hirrlinger, von den Menschen, die ihr nahestehen, liebevoll Vanne genannt, kennt einen Tag der Wiedergeburt in ihrem Leben: den 13. März 2007. Nicht religiös gemeint, wie festzustellen ihr sehr wichtig ist, sondern so, wie es das Wort hergibt: nochmals geboren. Ein Porträt.

Text: Rainer Kössl

Angekündigt hatte sich die­ses Ereig­nis schon einige Tage vor­her. Durch Träume. Der Auslöser am Tag der Wie­der­ge­burt war ein bana­ler: Ihre Katze hatte sich irgend­wie dane­ben benom­men, Vanessa ver­suchte sie zu ver­scheu­chen, was ihr aber nur mit einem lau­ten, sicher auch leicht aggres­si­ven Ton aus ihrer Kehle gelang. Die ver­meint­lich ver­lo­ren gegan­gene Stimme hatte wie­der ans Licht der Welt gefun­den. Ihre Mut­ter, die sie gleich dar­auf anrief, um ihr von dem Wun­der zu erzählen, weinte vor Glück.

Vier Jahre zuvor, im Mai 2003, war ihre Stimme lang­sam hinüber­ge­gan­gen. Nach einer Stimm­band­entzündung, einem von den Ärzten auf­er­leg­ten zweiwöchi­gen Sprech­ver­bot und einem Hus­ten war die Stimme nur noch im Flüster­mo­dus zurückge­kehrt. Es folgte eine Odys­see durch die War­te­zim­mer vie­ler Ärzte und The­ra­peu­ten. Vanessa Hirr­lin­ger ist im Rückblick sehr skep­tisch, was die Ursa­chen­su­che betrifft. »Man macht es sich da heute zu leicht. Wenn man in der Dia­gnose nicht mehr wei­ter­kommt, dann schiebt man die Schuld viel zu schnell und viel zu leicht auf psy­chi­sche Ursa­chen«. Und wei­ter: »Du kommst dir da recht bald rich­tig abge­stem­pelt vor.«

Ihre dama­lige Schule, eine Real­schule, kommt mit der neuen Situa­tion kaum bis gar nicht mehr zurecht. Vanessa Hirr­lin­ger erin­nert sich zwar noch an einen Leh­rer, der sich neben sie hin­ge­setzt und ihr wahr­haft sein Ohr gelie­hen habe. Ansons­ten aber fühlte sie sich ins Abseits gestellt, sie wurde ein­fach nicht mehr dran­ge­nom­men.

Der Schul­wech­sel, drei Tage vor Schu­lende angekündigt, war für sie zwar ein Schock. Im Nach­hin­ein aber kann sie sagen: »Das war das Beste, was mir pas­sie­ren konnte.« Sowohl dem ehe­ma­li­gen Hör-Sprach­zen­trum (heute Leo­pold­schule) in Alts­hau­sen wie der Gott­hilf-Vöhrin­ger-Schule in Wil­helms­dorf gegenüber fühlt sie sich zu tie­fem Dank ver­pflich­tet. Die Alts­hau­se­ner Schule führte sie zur Mitt­le­ren Reife, in der Gott­hilf-Vöhrin­ger-Schule legte sie vor nicht allzu lan­ger Zeit ihre Prüfung zur staat­lich geprüften Heil­er­zie­hungs­pfle­ge­rin ab.

Die vier Jahre, in denen ihre Stimme zwi­schen Sprach­lo­sig­keit und Flüstern oszil­lierte, wer­den letzt­lich ein Geheim­nis blei­ben. Irgen­det­was war ins Ungleich­ge­wicht gera­ten und blo­ckierte den freien Fluss ihrer Rede. Das Ein­le­ben in der neuen Alts­hau­se­ner Schule war schwie­rig. Setzte sich im Spei­se­saal jemand zu ihr, so rutschte sie zum nächs­ten Tisch. Und das über meh­rere Sta­tio­nen. Es gab inner­fa­miliäre Tur­bu­len­zen.

Es zeigte sich aber auch die Vanne, zu der ihre Mitschülerin­nen in ihren großen und klei­nen Nöten kom­men konn­ten. »Bahn­hofs­mama« nannte man sie, in Anklang an die Bahn­hofs­mis­sion. Es offen­barte sich die Schülerin Vanessa, die ihre Deutsch­leh­rer durch einfühlsame, stil­si­chere Äußerun­gen schrift­li­cher Art immer wie­der
zu über­ra­schen ver­mochte. Dass hin­ter der allzu stil­len Flüster­spra­che ein Schatz im Acker war­tete, war unüber­seh­bar. Vanessa war die zuverlässigste Tage­buch­ord­ne­rin der Welt. Die Schule ver­lieh ihr einen Sozi­al­preis.

Die heute immer noch pas­sio­nierte Puzz­le­rin (1.000 Teile an einem Sonn­tag) scheint in ihren vier Flüster­jah­ren vor der Auf­gabe gestan­den zu haben, die Puzzle-Teile ihres Lebens wie­der an ihren Platz zu brin­gen. Vor allem das größte die­ser Lebens-Puzzle-Teile: Ihre Liebe zu Men­schen mit Behin­de­rung. Schon als Neuntklässle­rin in der Real­schule arbei­tete sie ehren­amt­lich auf einer Außenwohn­gruppe der Has­lachmühle mit. Ihr Berufs-, bes­ser ihr Beru­fungs­weg zur HEP, zur Heil­er­zie­hungs­pfle­ge­rin, zeich­nete sich immer kla­rer ab.

In der Woh­nung der 24-Jähri­gen grüßt ein T-Shirt an der Wand: »End­lich 18 – jetzt muss ich nur noch erwach­sen wer­den«. »Ja, ich bin erwach­sen gewor­den«, so Vanessa Hirr­lin­ger. Und fügt ver­schmitzt hinzu: »an man­chen Tagen«. Sie arbeite gern und viel. Sie liebe die behin­der­ten Men­schen, ihre spon­tane, ungekünstelte und gänzlich unver­stellte Art. »Ich komme aber auch gerne wie­der heim und fühle mich erwar­tet von mei­nen bei­den Mit­be­woh­nern Han­ni­bal und Ein­stein.« Han­ni­bal ihr Hase, Ein­stein ihre Katze.

Ihre wei­te­ren Ziele: Sie hofft, dass ihr Arbeits­platz erhal­ten bleibt. Sie kann sich, irgend­wann, eine eigene Fami­lie vor­stel­len. Sie denkt daran Gebärden­dol­met­sche­rin zu wer­den. Denn zu gebärden ist für Vanessa Hirr­lin­ger die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­form schlecht­hin: »Die hätte ich mir in mei­ner flüstern­den Schul­zeit gewünscht.«