Titelthema

März 2015

Hochbegabte Bildungsverlierer?

Alles schreit nach Inklusion: Weg mit den Sonder­schulen! Und dann schlägt aus­gerechnet unser Martins­haus Klein­tobel einen scheinbar anderen Weg ein. Etabliert neue Gym­na­sial-­ und Asper­ger­klas­sen in der Schule für Erziehungs­hilfe – bundes­weit ein­malig! Macht das Martins­haus Klein­tobel etwa neue Sonder­welten auf?

Text: Katharina Stohr

»Nein«, sagt Jona­than Hörster, Geschäftsführer in der Jugend­hilfe. »Bei der Schul­wahl sollte der Fokus grundsätzlich auf dem Wohl des Kin­des lie­gen«. Er spricht aus Erfah­rung. Denn bis vor kur­zem erlebte er im Mar­tins­haus Klein­to­bel viele junge Men­schen, die unter ihrem Bega­bungs­ni­veau beschult wur­den und dement­spre­chend unter­for­dert und benach­tei­ligt waren. So wie beim hoch­be­gab­ten Gym­na­sias­ten Michael*, der 2009 nach Klein­to­bel kam, auf das Real­schul­niveau abge­schult wurde und in der Erzie­hungs­hil­fe­schule die Mitt­lere Reife mit der Note 1,2 ablegte. »Ein Klas­si­ker«, sagt Schul­lei­ter Tho­mas Frick, »für ihn blieb als Weg zum Abi ansch­ließend nur der Besuch des beruf­li­chen Gym­na­si­ums. Dort hat er es auf­grund der Schulgröße als Asper­ger-Schüler beson­ders schwer.« Heute wäre das anders. Schüler wie Michael könnten bei ent­spre­chen­dem Fort­schritt aus den Gym­na­si­al­klas­sen des Mar­tins­hau­ses her­aus an ein all­ge­mein­bil­den­des Regel-Gym­na­sium zurückge­schult wer­den.

Das Mar­tins­haus Klein­to­bel ist eine von über 80 Erzie­hungs­hil­fe­schu­len in Baden Württem­berg. Der­zeit besu­chen etwa 100 ver­hal­tens­auffällige junge Men­schen die
Schule. Sie leben vor Ort – unter der Woche von ihren Fami­lien getrennt – in Innen- oder Außenwohn­grup­pen. Rund 45 davon haben das soge­nannte Asper­ger-Syn­drom, eine tief­grei­fende Ent­wick­lungsstörung, die der Autis­mus-Spek­trum-Störung zuge­ord­net wird. Allen gemein ist: Hin­ter ihnen lie­gen meist meh­rere Schulabbrüche und sie brin­gen jede Menge Erleb­nisse und Beson­der­hei­ten mit, die par­al­lel zum Schul­be­such auf­ge­ar­bei­tet wer­den müssen. Ein Mar­tins­haus-Auf­ent­halt dau­ert zwi­schen einem und meh­re­ren Jah­ren. Ein Teil der Schüler ist in den ver­gan­ge­nen drei Jah­ren wie­der an eine Regel­schule zurückge­schult wor­den. Von den rest­li­chen haben nahezu 100 Pro­zent die Mitt­lere Reife im Mar­tins­haus abge­legt.

»Wir haben viele begabte und hoch­be­gabte junge Men­schen an unse­rer Schule«, sagt Hörster. Mit dem bis­he­ri­gen Real­schul­an­ge­bot ist das Mar­tins­haus in Württem­berg ein­ma­lig. Die­ser sel­tene Bil­dungs­gang mit klei­nen Klas­sengrößen habe ent­spre­chend viele junge Men­schen nach Klein­to­bel geführt, die an Regel-Real­schu­len kein pas­sen­des Ange­bot gefun­den hätten. Zahl­reich aber auch jene Mar­tins­haus-Schüler, die zuvor ein Gym­na­sium besucht hat­ten und wie Michael mit der Tat­sa­che kon­fron­tiert wur­den, dass bis­lang keine Erzie­hungs­hil­fe­schule den Gym­na­si­al­gang anbot. Die Folge: Run­ter vom Gymi, abge­schult auf die Rea. Vie­len Durch­gangsschülern wurde dadurch der Weg nach dem Mar­tins­haus-Auf­ent­halt zurück ans all­ge­mein­bil­dende Gym­na­sium ver­baut.

Für Hörster, die Schul­lei­tung und Leh­re­rin­nen und Leh­rer war klar: Gerade eine Schule für Erzie­hungs­hilfe muss ver­mei­den, dass junge Men­schen in schwie­ri­gen Lagen einen wei­te­ren Knick in ihrer Schul­kar­riere erlei­den. »Ver­hal­tens­auffällig­keit bedeu­tet ja nicht, dass ich den Bil­dungs­gang ver­las­sen muss«, sagt Frick, der das Vor­ha­ben ent­spre­chend mit vor­an­trieb. Und Daniel Murr, Stell­ver­tre­ten­der Schul­lei­ter erklärt, was die Abwärtss­pi­rale vom Gym­na­sium auf die Real­schule und von dort aus auf die Haupt­schule mit sich brin­gen kann: »Ein klas­si­sches Abschu­len heißt, jedes Mal einen Abbruch zu erle­ben. Gerade Kin­der mit Bin­dungsstörun­gen und Defi­zi­ten fan­gen dann immer wie­der von vorne an.« Erfah­run­gen des nicht Wahr­ge­nom­men-Wer­dens seien die Folge und würden an der Psy­che nagen. »Das sind klare Ver­sa­gens­er­fah­run­gen, die man auf­fan­gen muss«, so Murr.

»Wir brau­chen pass­ge­naue Bil­dungs­an­ge­bote, um möglichst allen Kin­dern gerecht wer­den zu können«, fasst Hörster das Ziel zusam­men. Sel­bi­ges stieß bei den zuständi­gen Behörden auf Gehör. Im Okto­ber 2014 wurde nach einem lan­gen Pla­nungs- und Ver­hand­lungs­pro­zess die »Bil­dungs­gan­gu­n­abhängige Beschu­lung Sekun­dar­stufe I« geneh­migt – rückwir­kend ab dem Schul­jahr 2013/2014. Als Schul­ver­such und damit auf drei Jahre befris­tet, unter­rich­tet die Schule für Erzie­hungs­hilfe nun offi­zi­ell 15 Gym­na­sias­ten in einer Kom­bi­klasse 6/7 und in der Klasse 8.

Linda Ohne­mus ist Klas­sen­leh­re­rin der 6/7 G. Sie war mit als Erste dabei, als das Mar­tins­haus im Schul­jahr 2013/2014 pro­be­weise zwei Gym­na­si­al­klas­sen eta­blierte. In einem eigens gebil­de­ten Schul­pro­jekt-Team hat sie gemein­sam mit Kol­le­gen einen neuen Fächer­ka­non für den Gym­na­si­al­gang ent­wi­ckelt, sich auf Latein als zweite Fremd­spra­che ein­ge­las­sen, sich mit dem Bil­dungs­plan aus­ein­an­der­ge­setzt und die Kom­pe­tenz­ras­ter auf per­so­na­li­sier­tes Ler­nen im Gym­na­si­al­be­reich über­ar­bei­tet. Bei all der fach­li­chen Aus­rich­tung gibt sie zu beden­ken: »Man muss schon sehen, dass wir es hier mit Erzie­hungs­hilfe-Schülern zu tun haben.« Es sei her­aus­for­dernd, den rich­ti­gen Weg zu fin­den, um dem Bil­dungs­ni­veau einer­seits, aber auch den gan­zen Beson­der­hei­ten der jun­gen Men­schen ande­rer­seits Rech­nung zu tra­gen. »Meine Schüler könnten kogni­tiv wahr­schein­lich viel mehr leis­ten, wenn ihr Ver­hal­ten sie nicht blo­ckie­ren würde.«

Daher ste­cken sie und das Kol­le­gium viel Zeit und Mühe in sozia­les Ler­nen, um die Schüler fit zu machen und über­haupt an Lern­in­halte her­anführen zu können. »Mit Mathe, Deutsch und Eng­lisch hat dies erst mal gar nichts zu tun«, sagt Murr, »es gibt Kin­der, die müssen erst ein­mal ler­nen, wie man ohne körper­li­che und ver­bale Gewalt spricht«.

Bewährtes Hilfs­mit­tel ist dabei das Basis­kom­pe­tenz-Trai­ning. Erleb­nispädago­gi­sche, künst­le­ri­sche oder pro­jekt­be­zo­gene Ange­bote sol­len den jun­gen Men­schen einen Zugang zu sich selbst ver­schaf­fen. Der zwölfjährige Mar­cel* etwa fährt jeden Diens­tag­vor­mit­tag mit ande­ren Schülern auf einen Bau­ern­hof, hilft beim Stall-Aus­mis­ten oder lässt Alpa­kas auf die Weide. Er mag Tiere, lernt, Verant­wor­tung für sie zu über­neh­men und wenn er Schulhündin Gin­ger an der Leine hält und strei­chelt, strahlt er und streckt den Dau­men in die Höhe: »Super!«

Noch­mals Jona­than Hörster: »Die Viel­falt des­sen, was in den jun­gen Men­schen steckt und nur dar­auf war­tet, ent­deckt und ans Tages­licht gebracht zu wer­den, ist für mich einer der ganz großen Vor­teile und Geschenke, die hier in unse­rer Schule mit der Arbeit in der Jugend­hilfe verknüpft sind.«

Doch bis sich die­ser nötige Zugang zu sich selbst und die Fähig­keit des kon­zen­trier­ten Ler­nens begeg­nen, ist der Weg oft stei­nig und hart. »Es geht mühsam und
lang­sam«, sagt Ohne­mus, »aber wenn man sich die Zeit nimmt und den Lern­stoff so vor­be­rei­tet und struk­tu­riert, dass die Schüler auch die Chance haben die­sen zu begrei­fen, dann kom­men tolle Sachen dabei her­aus.«

Als »gelun­gene Idee« bezeich­net der 14-jährige David* die neuen Gym­na­si­al­klas­sen im Mar­tins­haus. Er war zuvor auf einem Hoch­be­gab­ten-Gym­na­sium und sieht den neuen Bil­dungs­gang als Vor­teil für sich: »Ich kann mein Wis­sen zei­gen«. Geschichte gefällt ihm gut und seine sprach­li­che Bega­bung kommt voll zur Gel­tung: »Hier kann ich eine Fremd­spra­che von Beginn an ler­nen«, sagt er. Für die Zukunft hat er genaue Pläne: »Nach dem Abi will ich zur Bun­des­wehr gehen, mich 12 Jahre ver­pflich­ten las­sen und danach ein Phi­lo­so­phie­stu­dium machen.«

Anto­nia*, 16, weiß auch ganz genau, was sie will. »Ich habe schon immer das Ziel gehabt, einen guten Abschluss zu machen. Ent­we­der ent­falte ich mein vol­les Poten­zial oder ich mache kei­nen Abschluss.« Anto­nia besucht eine der vier Asper­ger-Inten­siv­klas­sen des Mar­tins­hau­ses. Diese sind auf einer eige­nen Etage in einem Neben­gebäude der Stamm­schule unter­ge­bracht. »Der Vor­teil in mei­ner Klasse ist, dass wir hier nur zu sechst sind. Das ist von der Lautstärke her sehr ange­nehm und die Leh­rer können auf jeden von uns ein­ge­hen«, so Anto­nia. Genau das würden Men­schen wie sie brau­chen. Früher saß sie mit 30 ande­ren Schülern in einer Klasse auf dem Gymi. »Das hat mich über­for­dert.«

»Die Autis­mus-Spek­trum-Störung umfasst eine rie­sige Band­breite«, sagt Leh­re­rin Heidi Fischer-Deu­rin­ger, die sowohl an der Stamm­schule des Mar­tins­hau­ses als auch in den Inten­siv­klas­sen unter­rich­tet. »Es gibt die klas­si­schen Asper­ger, die akku­rat und ord­nungs­lie­bend sind, aber auch kom­plett chao­ti­sche Schüler, die sich nicht selbst orga­ni­sie­ren können. Sie sind völlig unter­schied­lich. « Bestimmte Fra­gen hätten sie aber gemein­sam: »Wie ver­halte ich mich im nor­ma­len All­tag? Wie knüpfe ich soziale Kon­takte? Wie gehe ich mit Leu­ten um?« So müsse sie bei­spiels­weise per­ma­nent erklären, was im Kon­takt zu ande­ren ange­bracht sei und was nicht. »Meine Schüler können das ein­fach nicht unter­schei­den.«

Viele ihrer Schüler sind ziel­stre­big und ler­nen sehr eif­rig. Gerade in den Fächern Geschichte und in den natur­wis­sen­schaft­li­chen Fächern muss sie sich daher sehr gut auf den Unter­richt vor­be­rei­ten: »Es gibt Schüler, die wis­sen manch­mal mehr als ich.« Beim Fach Deutsch sehe es jedoch anders aus. »Die Recht­schrei­bung klappt meist sehr gut, wenn es jedoch um Tex­tin­ter­pre­ta­tion geht, wird es für meine Schüler schwie­rig, weil sie sich in andere Figu­ren hin­einfühlen müssen.« Klein­schrit­tig bringt sie ihnen daher über den Ver­stand bei, wie sich andere Men­schen fühlen. »Das ist anstren­gend, funk­tio­niert aber gut«, sagt sie und gibt als Bei­spiel: »Wenn jemand das Gesicht so oder so ver­zieht oder ein Autor etwas so oder so schreibt, dann bedeu­tet das trau­rig oder zor­nig.«

»Wir haben hier Asper­ger-Schüler, die ein­fach schon durch meh­rere Schu­len gegan­gen sind«, sagt die Leh­re­rin. »Viele wur­den an ihrer früheren Schule gemobbt«. Immer wie­der hört sie von den Schülern der Inten­siv­klas­sen, dass der kleine und geschützte Rah­men ihnen hel­fen würde. Man­che wol­len nicht ange­fasst oder ange­schaut wer­den. »Für diese Men­schen bedeu­tet das den vol­len Stress und Psy­cho­fol­ter.«

Schul­lei­ter Frick ist vom Dop­pel­sys­tem im Mar­tins­haus über­zeugt: »Einer­seits reine Asper­ger-Inten­siv­klas­sen, ande­rer­seits gemischte Autis­ten-Klas­sen in der Stamm­schule«. Es gehe um die gezielte Aus­wahl für beide Sys­teme und darum, jenen Asper­gern den Schutz der Inten­siv­klas­sen zu bie­ten, die anders ein­fach nicht zurechtkämen. »Natürlich führen wir aber auch Schüler gezielt an die Stamm­schule zurück, wenn sich ein ent­spre­chen­der Fort­schritt abzeich­net. « Fast täglich errei­chen ihn Anrufe hil­fe­su­chen­der Eltern von Asper­ger-Kin­dern, die über Berichte im Inter­net aufs Mar­tins­haus gestoßen sind.

Dass die Not vom Autis­mus betrof­fe­ner Per­so­nen groß ist, erfah­ren die Mit­ar­bei­ten­den im Mar­tins­haus kon­ti­nu­ier­lich. Ent­spre­chend wer­den auch landläufige »Autis­mus-Stem­pel« abge­lehnt: »Asper­ger-Schüler sind für mich Men­schen mit Beson­der­hei­ten, die man aber auch wertschätzen muss und kann«, sagt Fischer-Deu­rin­ger. Und mit Blick auf alle Schülerin­nen und Schüler der Erzie­hungs­hil­fe­schule fin­det Murr, dass die innere Hal­tung eines jeden Mit­ar­bei­ten­den für den Hei­lungs­pro­zess der jun­gen Men­schen das Wich­tigste ist: »Die Kin­der ent­spre­chend ihrer Möglich­kei­ten, Fähig­kei­ten, Res­sour­cen und Defi­zite so zu neh­men, wie sie sind.«

Dem pflich­tet Hörster bei: »Wir ver­su­chen hier, Men­schen eine Chance zu geben und die­sen Men­schen über die Augenhöhe des Ange­nom­men-Seins als Men­schen zu begeg­nen.« Denn wo ein Mensch sich ange­nom­men fühle, könne er sich auch selbst irgend­wann anneh­men. »Durch die Selb­st­an­nahme können unsere jun­gen Men­schen tatsächlich zu dem wer­den, was als Poten­zial in ihnen steckt.«

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Das Martinshaus Kleintobel bei Ravensburg gehört zur Jugendhilfe der Zieglerschen.