»Durch Corona bin ich schon ins Wanken gekommen«

Porträt

»Durch Corona bin ich schon ins Wanken gekommen«

Regina S.

Porträt

September 2020

Regina S. ist 74. Nächstes Jahr im April hat sie Grund zum Feiern: Ihren »Trockengeburtstag«, den Tag, an dem sie vor 30 Jahren zum letzten Mal Alkohol getrunken hat. Damals, am Tiefpunkt ihres Lebens, bezog sie ihr Zimmer in der Fachklinik Höchsten. Als Regina S. die Klinik nach vier Monaten wieder verlässt, weiß sie: »Ich kann es schaffen«.

Text: Petra Hennicke

»In mei­ner Fami­lie haben eigent­lich alle getrun­ken«, beginnt Regina S.* die Geschichte ihres Lebens. Die kleine Regina, gebo­ren 1946, wach, freund­lich, hilfs­be­reit, lebt auf einem abge­le­ge­nen Hof in Ober­bay­ern. Was eine Idylle sein könnte, wird für das Mädchen zum Trauma: ein­ge­sperrt, ver­las­sen, schutz­los den Gewal­tex­zes­sen des trin­ken­den Vaters aus­ge­setzt. Als sie zehn ist, erschüttert ein Unfall die Fami­lie: Regina erlebt mit, wie der Vater in eine Land­ma­schine gerät. Nach sei­nen Tod wird es anders – aber bes­ser wird es nicht. Die Mut­ter macht dem Kind Vorwürfe, redet ihr wie­der und wie­der ein: »Das ist alles deine Schuld«. Regina hört auf zu essen. Sie will nicht mehr, sie kann nicht mehr, sie ver­sucht mehr als ein­mal, sich das Leben zu neh­men. Doch etwas in ihr ist stärker: »Irgend­wann habe ich ver­stan­den, dass nicht ich das Ende mei­nes Lebens bestimme, son­dern Gott.«

Also hält sie durch. Über­nimmt Verant­wor­tung für alle und alles, ist »die Mut­ter mei­ner vier Geschwis­ter und die Mut­ter mei­ner Mut­ter«, wie sie später erkennt. Nur Kind ist sie nie. Erst mit 22, inzwi­schen aus­ge­bil­dete Leh­re­rin, verlässt sie den Hof. »Das Gefühl, an allem schuld zu sein, hat mich lange gelähmt.« Sie fin­det Arbeit in einer kirch­li­chen Ein­rich­tung, ver­sucht Kin­dern eine schöne Kind­heit zu berei­ten. 1972 geht sie nach Bam­berg, an eine Grund­schule, an der sie im Grunde bis zum Ende ihres Berufs­le­bens bleibt. Sie trifft einen Mann, erwar­tet ein Kind. Die Ver­gan­gen­heit scheint weit weg – und holt sie doch wie­der ein.

»Bei vie­len sind die Trau­mata wie­der da, wenn sie eigene Kin­der bekom­men«, weiß Regina heute, viele Jahre und The­ra­pie­stun­den später. Damals wächst der 29-Jähri­gen alles über den Kopf: Die Kind­heits­er­in­ne­run­gen, ihre alko­hol­kranke Fami­lie, deren Pro­bleme sie nicht lösen kann. Sie will eine gute Mut­ter sein, muss ihren Voll­zeit­job bewälti­gen, die Bezie­hung geht in die Brüche &hel­lip; Regina S. liegt nachts wach, die Gedan­ken rotie­ren. Und irgend­wann greift sie zum Alko­hol, jenem unheil­vol­len Beglei­ter, den sie 29 Jahre gemie­den hat. »Ich hab die Tür auf­ge­macht und da hatte es mich am Haken.« Aus einem Glas »zum Ein­schla­fen« wer­den zwei, später drei. Am Ende »habe ich alle zwei Stun­den nach­ge­kippt«. 17 Jahre geht das so. Regina S. trinkt immer allein, immer mehr. Sch­ließlich funk­tio­niert sie nicht mehr in ihrem Beruf und lan­det am »Tief­punkt ihres Lebens«.

Das ist 1991. Kurz dar­auf bezieht Regina S. ein Zim­mer in der Fach­kli­nik Höchs­ten bei den Zieg­ler­schen. Der Ort wird zum Wen­de­punkt ihres Lebens: Sie trifft Men­schen, die auf sie ein­ge­hen, sich für sie inter­es­sie­ren. Sie erlebt eine Kli­nik, in der man »sehr behut­sam vor­geht und guckt, was geht«. Sie bleibt vier Monate, lernt viel über Sucht. Und Regeln, die ihr bis heute hel­fen: Setz dich, wenn du isst. Nimm ein Glas, wenn du trinkst.

Als sie die Kli­nik verlässt, spürt sie: »Ich kann es schaf­fen«. Sie »durch­trennt die Nabel­schnur« zu ihrer Fami­lie, baut sich Stück für Stück ein neues Leben auf. Heute, 30 Jahre später, ist aus Regina S. eine aktive, lebens­be­ja­hende Frau gewor­den. Sie singt im Chor, ist in ihrer Kir­chen­ge­meinde und bei den Anony­men Alko­ho­li­kern aktiv, hat ange­fan­gen, Trom­pete zu spie­len. Sie ist Ersat­zoma für Kin­der, malt, reist, macht Musik. Die Depres­sio­nen sind weg. Auch das Verhältnis zu ihrem Sohn ist gut, »mit allen Höhen und Tie­fen, die eine Bezie­hung so hat«. Letz­tes Jahr waren beide in Rom.

Regina S. nennt das »die Geschenke mei­ner Tro­cken­heit«. Sie weiß aber auch: »Ich habe jeden Tag 24 Stun­den Gna­den­frist. Mor­gens bitte ich Gott darum, nicht trin­ken zu müssen und abends bin ich dank­bar, dass es so gekom­men ist.« Durch Corona kam sie anfangs »ein biss­chen ins Wackeln«. Sie lebt alleine, konnte Freunde und Bekannte nicht sehen. »Da kamen alte Ver­las­sen­heits­gefühle hoch.« Ande­ren geht es ähnlich, die Zahl der Rückfälle sei gestie­gen. Zum Glück ist es jetzt bes­ser gewor­den. Ein Mal pro Woche trifft sie wie­der ihre The­ra­peu­tin, mit einer Freun­din fährt sie regelmäßig Rad. Und im Som­mer war sie zur Senio­ren­frei­zeit im Allgäu. »Es hat sich eini­germaßen ein­ge­pen­delt «, sagt sie. »Aber eine Sache fehlt mir wirk­lich sehr: Jeman­den umar­men oder ein­fach mal fest­ge­hal­ten wer­den. All das, was ich als Kind nie hatte und erst spät end­lich gewon­nen habe.«