»G´floge bin i scho viel, aber nie auf d´Gosch«

Porträt

»G´floge bin i scho viel, aber nie auf d´Gosch«

Gisela Eberl

Porträt

Dezember 2018

In die Haslachmühle hätte sie eigentlich nie hingehört. Als sie schließlich doch einwilligt, in diese Einrichtung für Menschen mit Behinderung zu ziehen, verspricht sie sich selbst: nicht länger als ein Jahr! Aus einem Jahr werden zwei, aus zweien werden zehn. Am Ende bleibt Gisela Eberl 50 Jahre in der Haslachmühle und der Ort wird ihr zur Heimat. Bis die 67-Jährige noch einmal umziehen muss ... Das Porträt.

Text: Sarah Benkißer

Es beginnt mit einem Unfall. Gisela Eberl, Jahr­gang 1950, wächst mit zwei Brüdern in Wan­gen im Allgäu auf. Epi­lep­sie muss sie wohl schon gehabt haben, aber das hatte noch nie­mand dia­gno­s­ti­ziert. Eines Tages rutscht sie auf einer Oran­gen­schale aus, stürzt, ver­letzt sich schwer am Kopf. Im Kran­ken­haus kann man ihr nicht hel­fen, sie wird in die Psych­ia­trie nach Ravens­burg-Weißenau ver­legt. »Ich hab alles neu ler­nen müssen: essen, lau­fen. Nur spre­chen konnte ich noch«, erzählt sie und lacht: »G‘floge bin i scho viel, aber nie auf d‘ Gosch!« Die­sen Satz könnte man als Gisela Eberls Lebens­motto bezeich­nen. Denn die lei­sen Töne lie­gen ihr nicht, sie sagt, was ihr nicht passt und setzt sich ein – für sich und für andere.

Nach der The­ra­pie ver­ord­net der Arzt dau­er­hafte ärzt­li­che Auf­sicht. Da er selbst häufig auf Visite in der Has­lachmühle ist, einer Ein­rich­tung für Men­schen mit geis­ti­ger und Hör-Sprach­be­hin­de­rung bei Hor­gen­zell, emp­fiehlt er, Gisela Eberl dort unter­zu­brin­gen. »Ich hab mir das ange­schaut und gesagt: nicht länger als ein Jahr!«, erin­nert sie sich.

Es habe sie belas­tet, dass die Bewoh­ner dort mehr­heit­lich nicht spre­chen konn­ten. »Da hab ich immer nur die Erzie­her zum Reden gehabt.« Auch die vie­len Beschränkun­gen sind für sie schwer aus­zu­hal­ten: Schlafsäle mit Vier­bett­zim­mern, das Per­so­nal sucht aus, was die Bewoh­ner anzie­hen müssen, nur Eltern und Geschwis­ter haben Besuchs­recht, Freunde müssen draußen blei­ben. So sind die Regeln 1966. Aber Gisela Eberl weiß sich zu hel­fen: Klei­der, die ihr nicht zusa­gen, stopft sie ein­fach unter die Matratze und zieht an, was ihr gefällt. »Die Matratze wurde immer höher«, lacht sie. Als sie länger ins Kran­ken­haus muss, ent­de­cken Mit­ar­bei­ter das Ver­steck. Von da an dürfen die Bewoh­ner ihre Klei­dung selbst aus­su­chen. Es sind Anek­do­ten wie diese, die erklären, warum Gisela Eberl im Jahr 2000 zur Vor­sit­zen­den des Heim­bei­rats gewählt wird. 16 Jahre lang ver­tritt sie die Inter­es­sen der Bewoh­ner der Has­lachmühle. »Was zu bewe­gen – das war mir immer schon wich­tig«.

Fragt man Gisela Eberl, was für sie Hei­mat ist, dann sagt sie: »Hei­mat ist da, wo ich mich wohlfühle, wo ich zu jedem hin­ge­hen kann, wo ich mich aus­kenne – so wie in der Mühle.« Ihre Wur­zeln habe sie dort, sagt sie, und den­noch: »So rich­tige Freunde hatte ich da nicht, obwohl ich mit allen gut aus­ge­kom­men bin.« Zu eini­gen Mit­ar­bei­te­rin­nen haben sich Freund­schaf­ten ent­wi­ckelt. Außerdem hat sie eine Freun­din in Bre­men. »Als ich noch in der Mühle war, hab ich jede Woche mit ihr tele­fo­niert, ich hatte doch nie­man­den zum Reden«, erzählt sie.

Über fünfzig Jahre lang wohnt und arbei­tet Gisela Eberl in der Has­lachmühle. Streit­bar und pfif­fig, wie sie ist, ergat­tert sie irgend­wann ein Zim­mer nur für sich, später ein zwei­tes, sodass sie am Ende eine Zwei­ein­halb-Zim­mer-Woh­nung ihr Eigen nennt. »Ich hab immer mei­nen eige­nen Weih­nachts­baum gehabt, ich bin nämlich eine Roman­ti­ke­rin«, erzählt sie seuf­zend. Seuf­zend des­halb, weil 2017 eine große Verände­rung über die mitt­ler­weile 67-Jährige her­ein­bricht: Sie muss umzie­hen, obwohl sie es nicht will. Das alte Haus ent­spricht nicht der Lan­des­heim­bau­ver­ord­nung und kann auch nicht umge­baut wer­den. Am Rande von Wil­helms­dorf wird statt­des­sen ein moder­ner Ersatz­bau errich­tet. Zuerst will Gisela Eberl auf kei­nen Fall dort­hin: »Ich musste auf so viel ver­zich­ten!« Doch lang­sam freun­det sie sich mit dem neuen Haus an, sieht sogar Vor­teile: »Hier in Wil­helms­dorf kann ich ein­kau­fen oder zum Fri­seur, zum Arzt oder ein­fach einen Kaf­fee trin­ken.« Das alles war für die rüstige Rent­ne­rin in der abge­le­ge­nen Has­lachmühle nur schwer möglich.

War­mes Holz, Stoffe in rot und orange, ein klei­ner Ess­tisch mit Stick­ar­bei­ten und einem Tel­ler Kekse. Ein gemütli­ches Sofa, eine Küchen­zeile, eine Ter­ras­sentür, die ebener­dig in den Gar­ten führt, Deko-Stan­gen &hel­lip; Mit viel Liebe zum Detail hat die Roman­ti­ke­rin ihr neues 24-Qua­drat­me­ter-Zim­mer in eine gemütli­che Woh­nung ver­wan­delt. Bald wird auch hier ein eige­ner Weih­nachts­baum ste­hen. Und auch im neuen Domi­zil hat sie sich wie­der als Heim­beirätin wählen las­sen. »Ich hab das Beste draus gemacht«, sagt Gisela Eberl. Ein Satz, der ihr gan­zes Leben beschreibt.