Titelthema
September 2020
Corona-Krise
Und plötzlich war alles anders: Wie haben die Menschen in den Zieglerschen die Corona-Zeit erlebt?
Text: Sarah Benkißer, Petra Hennicke, Vanessa Lang, Nicola Philipp und Volkmar Schreier
Und plötzlich war alles anders. Der März, genauer gesagt der 13. März 2020, ist in der Erinnerung vieler der Moment, in dem die Corona-Pandemie Deutschland endgültig erreichte. Angekündigte Schulschließungen, Besuchsverbote in Senioren- und Behinderteneinrichtungen, ab sofort beinahe täglich neue Vorgaben und Richtlinien für praktisch alle Bereiche … Mit aller Macht war die Corona-Krise da – und nichts mehr, wie es war. Auch bei den Zieglerschen. Ein Rückblick.
»Als klar war, dass das Besuchsverbot kommt, war ich völlig geschockt«, erinnert sich Susanne Olhorn an den Tag, an dem »ihre persönliche Corona-Krise« begann. Die 48-Jährige arbeitet im Seniorenzentrum Taläcker in Wendlingen und ist dort Mitarbeiterin im Team der Sozialen Betreuung. Wo gerade noch fröhliche Aktionen wie »Deckelweitwurf « stattgefunden hatten, herrschte nun »eine Mischung aus Verzweiflung, Angst und Unwissenheit«.
»Ich war überfordert, verängstigt und verzweifelt, wusste aber auch: Mein Gott, jetzt müssen wir auffangen, was die Bewohner sonst von ihren Angehörigen bekommen«, erzählt die ausgebildete Betreuungsassistentin. Und berichtet, wie sie immer mehr an ihre Grenzen kam. »Gefühlt 500.000 Mal habe ich das gleiche erzählt, immer mit der Botschaft ›Sie brauchen keine Angst zu haben‹. Aber die Bewohner schauen ja fern, haben die leeren Regale gesehen und gedacht, dass der dritte Weltkrieg kommt. Da sind tiefe Ängste hochgekommen.« Susanne Olhorn setzte die Situation zu. »Ich war immer müde und ausgelaugt. Ich sollte den Bewohnern Mut geben, war aber selbst mutlos. Ich sollte den Bewohnern Kraft geben, war aber selbst kraftlos.« Und dann fügt sie hinzu: »Ich habe noch nie so viele Tränen gesehen wie in dieser Zeit.«
So emotional wie in den Pflegeheimen ging es nicht überall in den Zieglerschen zu. Aber überall stellte der Lockdown von heute auf morgen alles auf den Kopf. Wie hält man den Therapiebetrieb in einer Suchtklinik aufrecht? Wie setzt man Home-Schooling für Kinder um, die Probleme mit dem Hören oder Sprechen haben? Wie beschafft man Schutzkleidung für Pflegepersonal, wenn der Markt leergefegt ist? Wie informiert man Eltern, Angehörige, Bewohner und was sagt man? Und: Wie leistet man Krisenmanagement, wenn alle im Home-Office sind?
Die kurze Antwort lautet: mit Engagement, Kreativität und moderner Technik. »Die Pandemie hat bei uns einen Digitalisierungsschub ausgelöst«, zieht Gottfried Heinzmann, Vorstandsvorsitzender der Zieglerschen, erste Bilanz. »Vieles hatten wir sowieso vor, die Pandemie hat es beschleunigt.« So erhielten etwa Senioren- und Behinderteneinrichtungen schnell und unbürokratisch Tablets, um mit Angehörigen wenigstens per Videochat in Kontakt zu bleiben. »Was mich besonders gefreut hat, war die große Unterstützung durch unsere Spender, die uns das ermöglicht haben«, betont Gottfried Heinzmann. Aber auch Besprechungen per Video oder Telefonkonferenz boomten bei den Zieglerschen. Silke Schietinger, Referentin für Strategische Entwicklung in der Altenhilfe, hat ihren Rekord notiert: 16 virtuelle Konferenzen in nur einer Woche!
Von diesen täglichen Telefonkonferenzen schwirrte Andreas Schmidt, Geschäftsbereichsleiter der Suchthilfe, mitunter der Kopf. Besonders am Anfang waren in den Fachkliniken viele Entscheidungen zu treffen: Doppelzimmer? Ab sofort unmöglich – also Halbierung der Bettenzahl. Therapiesitzungen in Gruppen? Nicht mehr machbar, also Umstellung des Therapiekonzepts. »Wir mussten trotz geringerer Belegung mit einem höheren Personalaufwand fahren«, berichtet Schmidt. Und auch komplett zu schließen war keine Option: »Wir hatten auf dem Ringgenhof rund 30 Patienten, die wohnsitzlos geworden wären – die konnten wir ja nicht einfach auf die Straße setzen.« Besonders hart traf es die Patientinnen der Fachklinik Höchsten: Therapie forführen? Oder nach Hause und die Kinder versorgen, die nicht mehr zur Schule können? Tatsächlich brachen viele ab. Immerhin: Die Mitarbeitenden der Suchthilfe haben ihre Patientinnen und Patienten nicht vergessen, sondern posteten auf Facebook und Instagram Fotobotschaften: #STARKbleiben – Corona trotzen.
An den Schulen des Hör-Sprachzentrums wiederum standen die Lehrer vor der Herausforderung, ihre Schüler trotz Schulschließung möglichst individuell zu fördern. Der virtuelle Kontakt – für Kinder mit Problemen beim Hören oder Sprechen besonders schwierig – richtete sich nach dem, was ging. Telefonsprechstunden, Videokonferenzen, Schulaufgaben, die auf eine Lernplattform hochgeladen oder verschickt wurden. »Einmal pro Woche haben die Kinder von mir ein Paket bekommen: Brief, Wochenplan, Aufgaben und Hilfsmaterial«, erzählt Rebecca Kresse, Lehrerin an der Lassbergschule Sigmaringen. Viel Zeit hat sie in die Pakete investiert, weil sie »handlungsorientiertes Lernen« ermöglichen wollte, »ohne die Eltern zu überfordern«. Und weil sich die Pakete nicht immer verschicken ließen, brachte sie sie zweimal persönlich zu den Schülern nach Hause – zwei Stunden Fahrt, quer durch den Landkreis Sigmaringen.
In der Jugendhilfe der Zieglerschen waren die Wege meist kürzer, denn nicht alle Kinder und Jugendlichen konnten während der Schulschließung nach Hause zurückfahren. »In zwei Tagen haben wir ein Konzept für Home-Schooling auf den Wohngruppen entworfen«, erzählt Johannes Beck, Schulleiter am Martinshaus Kleintobel. Für die Jugendlichen eine enorme Umstellung, wie Finnja*, 13, berichtet: »Es war nervig, dass Lehrer, die ich nicht so mochte, auf meine Wohngruppe gekommen sind.« Für die, die zu Hause waren, änderte sich ebenfalls alles. »Mir hat die Atmosphäre und die Struktur der Schule gefehlt«, erzählt Simon: »Es war wie ständiges Hausaufgaben-Machen.« Der 13-Jährige hofft auf »normalen Unterricht« im neuen Schuljahr: »Ich freue mich auf eine komplette Klasse!«
So verständlich der Wunsch nach Normalität auch ist: Die Pandemie wird uns noch länger begleiten. Immerhin: Die restriktiven Besuchsbeschränkungen in der Alten- und Behindertenhilfe sind mittlerweile aufgehoben (Stand: September). Vor allem in der Altenhilfe hatte dies zu großen Belastungen geführt. Ruth Fischer, die im Seniorenzentrum Wilhelmsdorf als Pflegekraft arbeitet und zugleich Mitglied der Mitarbeitervertretung (MAV) ist, berichtet, dass es seit den Lockerungen »viel besser« gehe, »da es den Bewohnern gut tut und diese wieder fröhlicher sind.« Gleichzeitig sei die Arbeit nun aufwändiger, da Besucher abgeholt und über Hygiene-Richtlinien aufgeklärt werden müssen. Als Mitarbeitervertreterin ist ihr vor allem der anfängliche Stress wegen fehlender Schutzkleidung und Masken im Gedächtnis. Dazu kamen »fragliche Anordnungen, wie Mund-Nasenschutz mehrmals zu nutzen oder laut Robert Koch-Institut im Backofen zu desinfizieren«, wie sie kritisiert.
Zum Thema Schutzmasken kann Sina Krüger, Regionalleiterin in der Altenhilfe, eine besondere Geschichte beisteuern. In der schlimmsten Phase, als händeringend nach Schutzkleidung gesucht wurde, meldete sich Klaus Ruatti, ein Feuerwehrmann, der die Zieglerschen von einer Brandschutzübung kannte. Ruatti wollte seine Kontakte nach China nutzen und sammelte Anfragen für eine Großbestellung. Sina Krüger griff zu und orderte kurzentschlossen 20.000 Schutzmasken. Und tatsächlich: Wochen später, an einem Freitagnachmittag, landeten die ersehnten Pakete auf dem Frankfurter Flughafen. Nach einer abenteuerlichen Auslöse-Aktion beim Zoll und einer nicht minder abenteuerlichen Überweisung auf ein Konto in Hongkong hielt schließlich mitten in der Nacht ein Lkw am Wendlinger Seniorenzentrum – mit 20.000 Masken und einem Problem weniger ...
Aber zurück zu Ruth Fischer. Als MAV-Vertreterin hat sie noch etwas auf dem Herzen, was viele Pflegekräfte ebenso empfinden: »Es war ja schön, dass die Gesellschaft unser Engagement mit Klatschen um 21 Uhr und Begriffen wie ›Alltagshelden‹ und ›systemrelevant‹ gewürdigt hat.« Aber Klatschen und warme Worte gehen am Hauptproblem vorbei: »Wir brauchen eine ständige Anerkennung der Pflegenden mit ausreichend Personal und endlich eine Entlohnung, die der Arbeit gerecht wird!«
Negatives, aber auch Positives nah beieinander – das ist es, was Krisen gemeinhin beschreibt. Und tatsächlich hat die Pandemie auch in den Zieglerschen Gutes hervorgebracht. In der Fachklinik Höchsten etwa nähten die Patientinnen in der Arbeitstherapie gemeinsam Masken – als angewandte Übung in Selbstwirksamkeit. Rebecca Kresse, die engagierte Lehrerin von der Lassbergschule, die wie viele Eltern erst abends zum Arbeiten kam, weil sie tagsüber ihre Kinder im Home-Schooling betreute, hat die Zeit als »sehr intensiv« erlebt. »Privat kommt man sich wieder sehr nahe. Meine Kleine wäre sonst in der Kita und die Große rennt von Termin zu Termin. Wir genießen die familiäre Situation sehr. Und auch beruflich sind die neuen Herausforderungen erfrischend.«
Auch Kreativität hat die Pandemie freigesetzt. So legte Peter Deuß, Kunsttherapeut an der Fachklinik Ringgenhof, einen Video-Podcast auf. Und Barbara Stockmayer, Theaterpädagogin an der Schule am Wolfsbühl, veröffentlichte jede Woche eine Folge »Theater zuhause«, mit Themen wie »Gefühle zeigen – trotz Mundschutz«.
Und dann natürlich die Solidarität. »Es war so schön, dass so viele an uns gedacht haben«, erinnert sich Elisabeth Staudenmaier, Bewohnerin im Seniorenzentrum Henriettenstift in Kirchheim. Kurz vor Ostern landeten hier plötzlich haufenweise handgeschriebene Briefe, bemalte Steine und Kinderzeichnungen. Auch die spontanen Konzerte unter dem Motto »Kunst vorm Fenster« haben viele Emotionen ausgelöst. Im »abgeschotteten« Henriettenstift selbst entstand ebenfalls etwas Schönes: die »Clique vom Henri«. Nurhan Broszczak, 62, Helga Reppert, 79, Elisabeth Staudenmaier, 93, und Heinrich Schadt, 93, verbringen »seit Corona« viel Zeit zusammen. »Wir haben laufend neue Stücke auf der Veeh-Harfe gelernt und stärker zusammengefunden. Das ist für uns sehr wertvoll«, erzählt Elisabeth Staudenmaier. Ähnliches ist aus der Behindertenhilfe zu hören. Auch hier haben die Nachbarn an die Menschen mit Behinderungen gedacht und Briefe geschickt, die gemeinsam geöffnet und gelesen wurden. Und in Wilhelmsdorf gab der Posaunenchor um Pfarrer Ernest Ahlfeld vor den Häusern der Behindertenhilfe kleine Platzkonzerte.
Also war und ist »das mit Corona« alles gar nicht so schlimm? Ruth Fischer sieht es nicht so: »Es ist immer noch sehr unruhig in den Häusern, da ist Anspannung, dass Corona ins Haus kommt.« Markus Lauxmann, Kaufmännischer Vorstand, befürchtet wirtschaftliche Konsequenzen (siehe Interview). Und auch Gottfried Heinzmann ist nachdenklich.
»Mit insgesamt 63 Fällen (Stand 10. September) sind wir bisher gut durch die Krise gekommen. Meine größte Sorge besteht aber in der Distanzierung im zwischenmenschlichen Kontakt. Wenn der andere nur noch ein Infektionsrisiko darstellt, verändert das unsere Gedanken und Gefühle, macht misstrauisch und gefährdet unser Miteinander. Die Folgen für die Seele sind erst viel später erkennbar.«
Für die Zieglerschen sieht er hier die größte Aufgabe der nächsten Zeit: Nähe leben, trotz Distanz. Denn »gerade die, für die wir da sind, brauchen Nähe«, sagt der Vorstandsvorsitzende. »Ein Lächeln, eine Berührung, eine Umarmung ist durch nichts zu ersetzen.«
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Besuchsverbote in Seniorenheimen: »Da sind tiefe Ängste hochgekommen.«
Home-Schooling in Pandemie-Zeiten: »Es war wie ständiges Hausaufgaben-Machen. Mir hat die Schule gefehlt.«
Ein Zeichen der Solidarität waren die »Konzerte vorm Fenster« – hier vom Polizeiorchester in Bempflingen.