Titelthema
November 2019
Urgesteine
Sie tun viele Jahre Gutes. Ihre Geschichten sind beeindruckend. Ihre Beständigkeit tut gut: die »Urgesteine« der Zieglerschen. Eine Würdigung.
Text: Petra Hennicke und Volkmar Schreier
Es gibt sie überall: in der Politik, im Sport, in der Musik und natürlich auch in den Zieglerschen – Urgesteine. Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler, war ein »politisches Urgestein«. Otto Waalkes gilt als »Urgestein der deutschen Fernsehunterhaltung«. Und die Rolling Stones sind die »Urgesteine des Rock ‘n‘ Roll«. Urgesteine sind gefühlt schon ewig da. Um sie herum kann sich kaum jemand die Zeit ohne sie vorstellen. Sie geben ein gutes Gefühl, denn sie stehen für Stabilität und Verlässlichkeit. Aber wer sind die Urgesteine in den Zieglerschen? Wir haben uns umgehört.
Fragt doch mal den Hausmeister. Oder die Leute aus der Haslachmühle. Oder Ursel Belli ... So ungefähr lauten die Antworten, wenn man in den Zieglerschen nach Urgesteinen fragt. »Ursel Belli«, das ist Ursula Belli-Schillinger, aktuell Geschäftsführerin im Hör-Sprachzentrum. Ihr Name fällt eigentlich immer. Kein Wunder, denn die sympathische Pädagogin arbeitet seit 40 Jahren bei den Zieglerschen.
Es beginnt 1979. Im Iran wird der Schah gestürzt, in England kommt Margaret Thatcher an die Macht, in Deutschland gründen sich die Grünen – und an die Schule der Haslachmühle kommt eine frischgebackene Musik- und Deutschlehrerin: Ursula Belli. »Ich war geschockt, wie es da zugeht«, erinnert sie sich und lacht: »Es hat mir total gefallen.« Kollegium und Schulleiter empfangen die junge Frau mit offenen Armen. Und eröffnen ihr eine neue Welt: die Arbeit mit geistig behinderten Kindern, die zum Teil nicht sprechen und nicht hören können. Wie ein Sog muss es gewesen sein damals: Unterrichten mit Gebärden, die sie selbst erst lernen muss, unglaublicher Freiraum, intensive Begegnungen mit behinderten Menschen ... Und tolle Kollegen, mit denen »rauschende Feste« gefeiert wurden. Zugleich bekommt die junge Frau Einblicke in Lebensrealitäten, die sie bis dahin nicht kannte. »Ich weiß noch, wie ich zur Frühförderung gefahren bin, zu Bauernhöfen im tiefsten Allgäu. Da saßen junge Mütter mit ihren kleinen Kindern und man hat die Verzweiflung gespürt, dass ihr Kind sich anders entwickelt als alle anderen. Das hat mich sehr berührt.«
Für Ursula Belli war – und ist – die Arbeit »sehr viel mehr als ein Job«. Nach drei Jahren in der Haslachmühle drückt sie noch einmal die Schulbank und studiert Sonderpädagogik Da ist Ehrgeiz zu spüren, der Wunsch, etwas wirklich gut zu machen. Aber auch: »Es gab in den Zieglerschen immer Menschen, die in mir etwas gesehen haben, was ich mir vielleicht selbst nicht zugetraut habe. Diese besondere Kultur hier – Gemeinschaft, Zusammengehörigkeitsgefühl und Vertrauen in den Einzelnen – für mich war das genau der Boden, um zu wachsen.«
Und die zierliche, freundliche Frau wächst. Hinein in Verantwortung, in Leitungsaufgaben. Sie wird Abteilungsleiterin in der Haslachmühle-Schule, dann Direktorin, ab 2004 schließlich Geschäftsführerin in der Behindertenhilfe. 2007 tritt sie in die Fußstapfen von Urgestein Karl Wollmann und wird zur Geschäftsführerin des Hör-Sprachzentrums berufen. »Der Abschied aus der Behindertenhilfe war nicht einfach. Aber es hat mich auch gereizt, etwas Neues zu probieren.«
Immer wieder neue Aufgaben, Bereiche, Kollegen – ist es das, warum Ursula Belli-Schillinger den Zieglerschen so lange treu geblieben ist? »Ich war nie unzufrieden, nie gelangweilt, nie überfordert«, sagt sie selbst. »Meine Begeisterung habe ich mir immer erhalten können.« Und so kommt die 65-Jährige auch heute noch über ihre Arbeit ins Schwärmen: »Irgendwie war jede Stelle meine Traumstelle. Und auch jetzt kann ich mir nichts besseres vorstellen.«
»Wenn sich Menschen mit ihrer Arbeit und ihrem Unternehmen identifizieren, sind sie am zufriedensten«, bestätigt Arbeitspsychologe Theo Wehner. Er ist Professor an der Technischen Hochschule Zürich und forscht zur Zufriedenheit am Arbeitsplatz. Die Frage, wie man Mitarbeiter zu Urgesteinen macht, beantwortet er so: »Man sollte ihnen so viel Handlungs- und Entscheidungsspielraum lassen wie möglich. Und Sinn ist die beste Motivationsquelle überhaupt.«
An Sinn hat es Beatrice Ofenheusle noch nie gemangelt. »Es vergeht eigentlich kein Tag, an dem nicht etwas passiert, was mich freut, amüsiert oder glücklich macht«, erzählt die 62-Jährige. Heute sei sie zum Beispiel mit dem Satz empfangen worden: »Du, Bea, Reiten fällt aus. Die Pferde sind in der Reparatur.« Beatrice Ofenheusle ist Heilerziehungspflegerin im Förder- und Betreuungsbereich (FuB) der Haslachmühle. Liest man ihren flammenden Spendenaufruf für eine Rollstuhlschaukel, den sie gerade veröffentlicht hat, wird deutlich, wie ernst sie jedes Wort davon meint. Wer mit »Bea« zu tun hat, erlebt einen engagierten, lebensfrohen, humorvollen, klugen und herzlichen Menschen, der für das brennt, was er tut. »Ich hab schon früh gewusst, was ich werden will«, erinnert sie sich. Und: »Ich hab meine Aufgabe immer geliebt.«
Beatrice Ofenheusle, die übrigens selbst im Rollstuhl sitzt, kommt mit 17 als Praktikantin zu den »Zieglerschen Anstalten «. Und dort ist sie – abzüglich Ausbildung – immer geblieben. 45 Jahre insgesamt, 41 Jahre in der Haslachmühle. Sieht sie sich selbst als Urgestein? Eher nicht. Klar freut sie sich, wenn Eltern sagen: »Es ist so schön, das Sie noch da sind. Ich weiß, dass mein Stefan bei Ihnen gut aufgehoben ist.« Sie lacht, wenn junge Kollegen fragen: »Was? Du bist schon 41 Jahre da? Merkt man dir gar nicht an.« Und sie ist besorgt, dass die Fluktuation in letzter Zeit so gestiegen ist. »Eigentlich wundert es mich, dass unsere Bewohner überhaupt noch zu Beziehungen fähig sind. Sie sind ja nie diejenigen, die verlassen, sondern immer wieder die, die verlassen werden.«
Vermutlich ist das auch der Grund, warum Beatrice Ofenheusle, inzwischen 62, das Thema Ruhestand ganz nach hinten schiebt. »Ich weiß noch nicht, wann ich aufhöre«, sagt sie auf die entsprechende Frage. »Man geht nicht einfach leichtfertig. Und so, wie es jetzt ist, ist es gut.«
Dass gleich zwei »Urgesteine« aus der Behindertenhilfe kommen, ist kein Zufall. Denn hier – und im Hör-Sprachzentrum – sind die meisten der acht Kolleginnen und Kollegen zu finden, die es 40 Jahre und länger bei den Zieglerschen gehalten hat. Ebenfalls in der Behindertenhilfe trifft man denjenigen, der am längsten in den Zieglerschen betreut wird: Kurt Alber. Vor 79 (!) Jahren, im November 1940, kam er in die »Taubstummenanstalt«. Über welche Irrwege der damals 7-Jährige von Stuttgart nach Wilhelmsdorf gelangte, lässt sich nicht mehr ermitteln. Alber, heute 86, ist weitgehend dement. Sein langjähriger Betreuer Kurt Lamprecht weiß jedoch, dass er sein Leben lang körperlich gearbeitet hat – erst auf dem Holzplatz bei der Taubstummenanstalt, später in der Landwirtschaft der Haslachmühle. Heute verbringt Kurt Alber seinen Lebensabend im Seniorenbereich »Haus Schild«.
Szenenwechsel in die Altenhilfe. Mit Anneliese Neumann, 85, lebt hier im Tübinger Karolinenstift der Mensch, der am längsten in einem Pflegeheim der Zieglerschen zu Hause ist: 30 Jahre! Anneliese Neumann war 55, als sie nach einer schweren Hirn-OP einen Platz im damaligen »Altenheim für Damen« bekam. Das war 1989. Im »Karo« fühlte sie sich gleich zu Hause. Obwohl sie ihr Leben in Trossingen verbracht und dort beim Instrumentenhersteller »Hohner« Mundharmonikas und Akkordeons produziert hatte, gefiel es ihr in Tübingen. Sie fand Freundinnen, genoss den Garten, hat Post verteilt und den Tisch gedeckt.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute, so findet Anneliese Neumann, sei es »nemme des«, nicht mehr wie früher. Die Freundinnen sind verstorben, und die neuen Bewohner ... »mit denne kosch nedd schwätza«. Ja, die Pfleger seien nett, aber hätten »koi Zeid«. Nur das Essen – das sei besser geworden. Schnitzel und Salzkartoffeln sind ihr Leibgericht. Dennoch betont die wache Seniorin: »I leb scho gerne«. Ihre Tochter, die selbst bald in Ruhestand geht, hat ihr das Versprechen abgenommen, dass sie 100 wird. »Honderd Johr?! Des isch abbr no lang«, sagt Anneliese Neumann und lacht. Die Vorstellung gefällt ihr.
Doch nicht nur Menschen werden zu Urgesteinen. Kulleraugen, freundliches Gesicht und Wuschelfell: Der Alpakahengst Ricchardo ist das dienstälteste tierische Urgestein der Suchthilfe. Seit fast 20 Jahren begleitet er die Patientinnen der Fachklinik Höchsten während der Therapie und hat sich in viele Herzen geschlichen. Aus der ihm ursprünglich zugedachten Karriere als Zuchthengst im »Alpakaparadies« wurde nichts, und so landete Ricchardo in der Höchsten-Klinik. Seither lebt er in einem wunderschönen Offenstall mit vier Alpakas und drei Lamas in einer Herde. Seinem biblischen Alter von 21 Jahren entsprechend – Alpakas haben eine Lebenserwartung von 20 bis 25 Jahren – hat er keine Zähne mehr und kann nur noch eingeweichtes Futter fressen. Dennoch ist Ricchardo im täglichen Einsatz und durch seine ruhige und gelassene Art ein idealer Therapeut.
Tiere, Menschen – aber auch Gebäude erzählen Geschichten. Zum Beispiel das traditionsreiche Karlsstift in Schorndorf. Hier stößt man gleich auf zwei Urgesteine: Hannelore Gogolinski und Siegfried Russ. Sie, 64, ist seit 16 Jahren die engagierte und allgegenwärtige Einrichtungsleiterin des schönen Hauses. Und einer dieser Menschen, ohne die man sich einen Ort einfach nicht vorstellen kann.
Im letzten Jahr hat sie das Kronenkreuz erhalten – für 25 Jahre treuen Dienst in der Diakonie. Siegfried Russ ist sogar schon 36 Jahre dabei! Russ, ehemals Banker an der Wall Street, Unternehmer, Chef über 250 Mitarbeiter eines Autohauses und seit 1983 ehrenamtlich für das Karlsstift Schorndorf engagiert – wie passt das zusammen? »Gut«, findet er. »Denn ich komme aus einer pietistischen Unternehmerfamilie. Meine Mutter war sehr gläubig, ich war früh bei den Pfadfindern und habe gelernt, dass man sich in die Gesellschaft einbringen soll.« Als Siegfried Russ nach seiner Sturm- und Drang-Zeit in Amerika, Indien und Marokko dann doch das Erbe des elterlichen Autohauses übernimmt, wird er vom Kirchheimer Dekan gefragt, ob er einen Anbau ans Karlsstift beaufsichtigen kann. »Okay, mach ich«, sagt er. »Ich bin da zwei Mal pro Woche hingefahren und hab versucht, alles richtig zu machen.«
Als der Bau fertig ist, geht es für Siegfried Russ aber erst richtig los: Er wird Vorstand im Trägerverein, dem Verein der Evangelischen Altenheime (VEA) und sorgt später mit dafür, dass VEA und Zieglersche fusionieren – ehrenamtlich. Es ist ein ungewöhnliches Ehrenamt, denn Russ setzt vor allem sein unternehmerisches Talent dafür ein, dass das Leben in den Pflegeheimen lebenswert bleibt.
2004 wird Siegfried Russ in den Aufsichtsrat der Zieglerschen gewählt. Hier ist er bis heute aktiv – immer noch ehrenamtlich. Warum tut er sich diesen Stress mit 78 eigentlich noch an? »Es ist die Freude an der Arbeit in den Zieglerschen«, sagt er. »Und die Anerkennung. Ich habe immer wesentlich mehr zurückbekommen, als ich eingebracht habe.«
Es fällt schwer, an dieser Stelle aufzuhören. Denn je tiefer man gräbt, desto mehr faszinierende Menschen und beeindruckende Geschichten kommen zum Vorschein. Fragt man die »Urgesteine« selbst, was sie so lange in den Zieglerschen gehalten hat, so hört man immer wieder: Freude und Begeisterung für die Arbeit, Anerkennung und Respekt. So »einfach« wird man also ein Urgestein ...
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Ursula Belli-Schillinger (r.) begann vor 40 Jahren als junge Lehrerin bei den Zieglerschen. Heute ist die 65-Jährige, hier mit Landesbildungsministerin Susanne Eisenmann (l.), Geschäftsführerin des Hör-Sprachzentrums.
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An Sinn hat es Beatrice Ofenheusle noch nie gemangelt. »Es vergeht eigentlich kein Tag, an dem mich nicht etwas freut, amüsiert oder glücklich macht.«
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Hannelore Gogolinski ist seit 16 Jahren die engagierte Hausleiterin im Karlsstift Schorndorf.
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Große Kulleraugen, freundliches Gesicht: Der Alpakahengst Ricchardo, 21, ist das dienstälteste tierische Urgestein in der Suchthilfe.
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Siegfried Russ (l.) mit seinen »Kollegen« vom Freundeskreis Henriettenstift im ehrenamtlichen Einsatz.
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