Titelthema

September 2019

›Brennpunkt‹ Schule?

Der Trend ist eindeutig: Immer mehr Schulen im Land brauchen Schulsozialarbeit. Warum? Was ist da los? Wir haben nachgefragt.

Text: Katharina Stohr und Sarah Benkißer

Was ist los an unse­ren Schu­len? Immer wie­der schla­gen Rek­to­rin­nen oder Bürger­meis­ter, Leh­re­rin­nen oder Erzie­her Alarm. Es gebe mehr Gewalt und mehr Schul­ver­wei­ge­rer; Flücht­lings­kin­der, die beson­dere Hilfe brau­chen und nicht zuletzt die Her­aus­for­de­rung Inklu­sion. Ein gan­zes Bündel von Auf­ga­ben also, die den Unter­richt belas­ten und die Leh­rer nicht sel­ten über­for­dern. Zur Ent­las­tung set­zen immer mehr Gemein­den auf Schul­so­zi­al­ar­beit. Grund genug, bei den Schul­so­zi­al­ar­bei­ter/innen der Zieg­ler­schen ein­mal nach­zu­fra­gen: Wie sieht es wirk­lich aus am »Brenn­punkt« Schule?

Mochen­wan­gen ist ein altes »Arbei­ter­dorf«. Im 19. Jahr­hun­dert eröffnete in dem damals unbe­deu­ten­den Wei­ler eine Papier­fa­brik, Arbei­ter sie­del­ten sich mit ihren Fami­lien in der ländli­chen Idylle an. Par­al­le­len zwi­schen dem beschau­li­chen Örtchen im Land­kreis Ravens­burg und den »Pro­blem­be­zir­ken« Ber­lin-Neukölln oder Duis­burg-Marx­loh würde wohl kaum jemand zie­hen. Und den­noch: Auch in der örtli­chen Grund­schule von Mochen­wan­gen arbei­tet mit Joy Gütler eine Schul­so­zi­al­ar­bei­te­rin der Zieg­ler­schen. Warum? Hat der kleine Ort doch mehr mit Neukölln oder Marx­loh zu tun, als gedacht? Sind die Pro­bleme der Städte auf dem Land ange­kom­men?

Dr. Chris­tiana Ber­ner ist Bereichs­lei­te­rin für sozi­al­rau­m­ori­en­tierte Ange­bote in der Jugend­hilfe der Zieg­ler­schen und somit auch für die Schul­so­zi­al­ar­beit zuständig. Sie bestätigt das: »Oft ist in Gemein­de­rat­s­sit­zun­gen zu hören, dass sich Men­schen aus den Städten in den ländli­chen Raum zurückzie­hen, weil der Wohn­raum dort günsti­ger ist oder Neu­bau­ge­biete ent­ste­hen. Damit verändern sich klas­si­sche ländli­che Struk­tu­ren.« Aber, so Ber­ner, das seien nicht die ein­zi­gen Verände­run­gen. Auch die Zahl der Patchwork-Fami­lien und Allein­er­zie­hen­den nehme zu. Die damit ver­bun­de­nen Her­aus­for­de­run­gen für die Schu­len fände man in Stadt und Land glei­chermaßen. Auch das Pro­blem­feld neue Medien beträfe Stadt und Land glei­chermaßen. »Ob (Cyber-)Mob­bing, Zukunftsängste, schu­li­sche oder familiäre Pro­bleme – damit haben nicht nur sozial benach­tei­ligte oder bil­dungs­ferne junge Men­schen tun«, schätzt Dr. Ber­ner ein. »Des­halb ist die Bedeu­tung von Schul­so­zi­al­ar­beit über­all gestie­gen – in Stadt und Land.«

Auch Monika Schauf­ler, Rek­to­rin an der Grund­schule in Mochen­wan­gen, bestätigt, dass sich vie­les geändert hat. »Wir mer­ken sehr deut­lich, dass die sozia­len und kul­tu­rel­len Unter­schiede immer größer wer­den.« Es gebe an ihrer Eugen-Bolz-Grund­schule inzwi­schen Kin­der aus Syrien, Kin­der, die mit nur einem Eltern­teil oder Kin­der, die ganz ohne Eltern auf­wach­sen. Auch beob­ach­tet sie immer mehr Kin­der, die in Armut groß wer­den oder sozi­alpädago­gisch betreut wer­den müssen. »Hete­ro­ge­nität wird im Schulall­tag immer sicht­ba­rer«, stellt sie fest und fügt hinzu: »Kogni­ti­ves Ler­nen kann aber erst statt­fin­den, wenn das Klas­senklima und auch das persönli­che Klima in Ord­nung sind.«

Gleich­zei­tig würden die Bil­dungspläne immer vol­ler, berich­tet die Schul­lei­te­rin. Dazu komme: »Wir müssen in der Grund­schule, vor allem in Klasse 1, immer öfter Dinge ans Kind brin­gen, die mit Unter­richtss­toff nichts zu tun haben. Sei es das Schuhe-Bin­den oder das Wie­de­rer­ken­nen der eige­nen Jacke. Die Kin­der brin­gen immer mehr Pro­bleme von zu Hause mit.« 135 Schülerin­nen und Schüler gehen an ihrer Schule werk­tags ein und aus. Viele davon ver­brin­gen den gan­zen Tag dort. Vor­mit­tags büffeln sie im Unter­richt, nach­mit­tags wer­den sie von Sozi­alpädago­gen oder ehren­amt­li­chen Müttern betreut und machen Haus­auf­ga­ben.

Die­ses bunte Durchein­an­der zu ord­nen, beschreibt sie als Wahn­sinns­auf­gabe, die nur mit der Schul­so­zi­al­ar­beit mach­bar sei. »Wir stel­len hier die Wei­chen. Wir neh­men jedes Kind so auf, wie es kommt, und behal­ten es in der Regel auch über die gesamte Grund­schul­zeit.« Das erfor­dere dif­fe­ren­zier­tes und indi­vi­dua­li­sier­tes Ler­nen – auch, um eine chan­cen­glei­che und bil­dungs­ge­rechte Basis zu schaf­fen: »Das Schwie­rige ist, dass wir mitt­ler­weile nicht mehr tren­nen können: Was ist Schule und was ist Erzie­hungs­ar­beit? Ich habe Angst, dass die Waage irgend­wann kippt. Aber sie kippt so lange nicht, solange wir Schul­so­zi­al­ar­bei­ter haben, die dann jeder­zeit ein­grei­fen.«

Mit Joy Gütler steht Monika Schauf­ler eine Schul­so­zi­al­ar­bei­te­rin zur Seite, die Brücken zwi­schen Schülern, Eltern, Leh­rern, Gemeinde, Ämtern und Bera­tungs­stel­len baut. Bei­spiel­haft zählt Joy Gütler auf, was dies im Arbeit­sall­tag bedeu­tet: »Ein­zel­fall­hilfe, kleine und große Grup­pen­an­ge­bote, Klas­sen­trai­nings, Netz­wer­ken mit ver­schie­de­nen Bera­tungs­stel­len wie dem Amt für Immi­gra­tion und Migra­tion oder der Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie sowie Kon­takt mit dem Jugend­amt und Aus­tausch mit der Gemeinde.«

Ein Blick in Gütlers Büro an der Eugen-Bolz-Grund­schule zeigt viele hand­ge­schrie­bene Briefe und von Kin­der­hand gemalte Bil­der. »Danke Joy«, ist mehr­fach dar­auf zu lesen. »Das sind wich­tige Rückmel­dun­gen für mich«, sagt die mit einem Deut­schen ver­hei­ra­tete Aus­tra­lie­rin, die neben ihrem Haupt­an­teil an Ein­zel­fall­hilfe auch eine wöchent­li­che, frei­wil­lige Foto­gruppe anbie­tet. »In der Gruppe geht es nicht nur ums Foto­gra­fie­ren, son­dern vor allem um Mädchen­freund­schaf­ten «, erklärt Gütler. Sie fin­det es wich­tig, dass Mädchen Selbst­be­wusst­sein haben. »Im ver­gan­ge­nen Jahr hatte ich Mädels in der Gruppe, die nichts Posi­ti­ves über sich sagen konn­ten.« Mit ihrer Arbeit will die 36-Jährige den Mädchen etwas bei­brin­gen und sie gleich­zei­tig unterstützen, sel­ber han­deln zu können. Vor allem auch für die nach­fol­gende Zeit in einer wei­terführen­den Schule.

Joy Gütlers Credo für gute Schul­so­zi­al­ar­beit ist: »Wir unterstützen hier und beein­flus­sen nicht.« Das sei eine Auf­gabe, die hoher Selbs­t­re­fle­xion bedürfe. Ent­spre­chend froh ist sie über die regelmäßigen Team-Mee­tings aller 18 Schul­so­zi­al­ar­bei­ter der Zieg­ler­schen. Hier können sie sich aus­tau­schen, zum Bei­spiel zur Risi­koeinschätzung von Ein­zelfällen.

Wo gegen­sei­ti­ges Ver­trauen herrscht, kann viel Gutes gedei­hen. Daniel Stei­ner, Bürger­meis­ter der Gemeinde Wol­perts­wende, zu dem Mochen­wan­gen als ein Teilort gehört, freut sich, dass Joy Gütler und ihre Arbeit in der Schule gut ange­nom­men wer­den. Als Träger der Eugen-Bolz-Schule finan­ziert die Gemeinde die Schul­so­zi­al­ar­bei­ter­stelle. Unterstützt wird sie durch das Land Baden-Württem­berg und den Land­kreis Ravens­burg, die je ein Drit­tel der Per­so­nal­kos­ten zusteu­ern. Zum neuen Schul­jahr wurde Gütlers Stel­le­n­um­fang von 50 auf 70 Pro­zent erhöht – ein Zei­chen, nicht nur für einen gestie­ge­nen Bedarf, son­dern eher für die Qua­lität ihrer Arbeit. »Wir mer­ken, dass Frau Gütler als Schul­so­zi­al­ar­bei­te­rin sehr nach­ge­fragt wird«, so das Gemein­deober­haupt. Und auch wenn er zwar denke, dass »ein Großteil unse­rer Schüler Schul­so­zi­al­ar­beit gar nicht in Anspruch neh­men muss«, so sei das Ange­bot doch »struk­tu­rell bedeut­sam«, da es auch in Wol­perts­wende Schüler gäbe, die ein her­aus­for­dern­des familiäres Umfeld hätten. »Ins­be­son­dere die­sen Kin­dern«, so der Bürger­meis­ter, »wol­len wir über die Schul­so­zi­al­ar­beit ermögli­chen, dass sie einen guten Weg gehen können.«

Bis vor sechs Jah­ren hatte Wol­perts­wende-Mochen­wan­gen auch noch eine Haupt­schule. Die Schul­so­zi­al­ar­beits­stelle war eigent­lich dafür gedacht. »Ursprünglich ging man davon aus, dass vor allem ältere Schüler Pro­bleme haben«, so Stei­ner. Das habe sich deut­lich verändert. »Mit zuneh­men­der Tages­be­treu­ung an der Grund­schule wer­den viele Dinge in die Schule ver­la­gert, die nor­ma­ler­weise in der Fami­lie gere­gelt wer­den.«

Diese Beo­b­ach­tung deckt sich mit der von Schul­lei­te­rin Monika Schauf­ler: Das Verhältnis zwi­schen schu­li­schem Bil­dungs­auf­trag und Erzie­hungs­auf­trag der Eltern ver­schiebt sich immer mehr in Rich­tung Schule. Dass die Kom­mune durch die Finan­zie­rung der Schul­so­zi­al­ar­beit quasi für Erzie­hungs­auf­ga­ben der Fami­lie auf­komme, sorge für Dis­kus­sio­nen im Gemein­de­rat, berich­tet der CDU-Bürger­meis­ter. »Fakt ist aber, dass wir diese Fälle haben. Und wenn wir diese Kin­der nicht unterstützen, dann gera­ten sie mögli­cher­weise auf eine Schiene, die wir gar nicht wol­len.« Der bes­sere Weg sei daher, das Geld in die Hand zu neh­men und präven­tive Maßnah­men zu ergrei­fen. »Wer weiß, wie es wäre, wenn wir keine Schul­so­zi­al­ar­beit hätten.«

Familiäre The­men kennt auch Niko Andre­sen. Er arbei­tet seit 13 Jah­ren als Schul­so­zi­al­ar­bei­ter am Schul­zen­trum Wein­gar­ten, das Gym­na­sium und Real­schule umfasst. Gemein­sam mit zwei Kol­le­gen aus den Zieg­ler­schen bil­det er ein Team, das den 1.300 Schülerin­nen und Schülern bei Bedarf Hilfe bie­tet. »Meine Arbeit ist so vielfältig, dass es gar nicht so ein­fach ist, sie abzu­bil­den«, sagt Andre­sen. Er macht präven­tive Grup­pen-Ange­bote zum sozia­len Ler­nen, zum Schutz vor Mob­bing oder zu den Gefah­ren neuer Medien. Er hilft Schülerin­nen und Schülern, die Angst in der Schule oder Ärger zu Hause haben, unterstützt Eltern und Lehrkräfte, hält Kon­takt zum Jugend­amt und zu Bera­tungs­stel­len.

»Bei die­ser Viel­falt ist es gut zu über­le­gen, was Prio­rität hat«, sagt Niko Andre­sen. Für ihn sind es die Ein­zelfälle. »Da merke ich, dass es Zeit und viele Gesprächs­ter­mine braucht.« Beim Ein­zel­fall gehe es um das Kind in der Fami­lie, wes­halb Eltern­ge­spräche dazu­gehören. Je nach Schwere ver­lau­fen diese über einen länge­ren Zeit­raum. »Natürlich gibt es auch mal kurz­fris­tige Bera­tun­gen, nur auf Schülere­bene. Oder ich nehme auch mal einen Leh­rer dazu. Es kommt ein­fach drauf an.« Damit seine Arbeit gelin­gen kann, ist Ver­trauen nötig: »Im Grunde ist es von Anfang an Bezie­hungs­sa­che«, sagt er. Des­halb macht er den Schülern von vorn­her­ein klar: »Du wirst nicht hier­her geschickt, du musst nicht hier sein. Ich bin da und wir können schauen, was dir hilft. Ich biete dir das an. Mehr nicht.«

Auch Lukas W., des­sen Name hier geändert wurde, hat die­sen Weg gewählt und das Gespräch mit Niko Andre­sen gesucht. Aus einem Gespräch wur­den viele. Lukas‘ Vater Frank erzählt: »Ich war damals viel und lange auf Mon­tage. Meine bei­den Kin­der haben dadurch ein biss­chen Ver­trauen zu mir ver­lo­ren.« Seine dama­lige Frau war viel alleine mit den Kin­dern, es kam zu schwie­ri­gen Situa­tio­nen. Die Kin­der konn­ten sich nicht an den Vater wen­den, weil er fort war. »Dann ist Lukas Gott sei Dank auf Herrn Andre­sen zuge­gan­gen und hat da offen­sicht­lich Halt und jeman­den gefun­den, bei dem er sich aus­spre­chen konnte.« Andre­sen habe dann den Kon­takt zu den Eltern gesucht. Daraus erga­ben sich zig Gespräche und zwei her­aus­for­dernde Jahre für die Fami­lie. Heute ist Frank W. geschie­den, arbei­tet zu Hause. Die Kin­der woh­nen bei ihm. »Herr Andre­sen hat bei mir ein Umden­ken bewirkt. Ich habe gese­hen, dass da ein Mensch sitzt, der an mei­nem Kind inter­es­siert ist«, erzählt der Vater dank­bar. »Ich denke, dass ich meine Kin­der emo­tio­nal ver­lo­ren hätte, wenn Lukas damals die­sen Platz bei Herrn Andre­sen nicht gefun­den hätte.«

Das Bei­spiel von Fami­lie W. bestätigt, ebenso wie die Erfah­run­gen in Mochen­wan­gen und anderswo, wie wich­tig Schul­so­zi­al­ar­beit gewor­den ist. Vater Frank W. fasst es so zusam­men: »Unsere Welt ist sehr kom­plex gewor­den. Kin­der wer­den – aus wel­chen Gründen auch immer – alleine gelas­sen. Ich denke, wir soll­ten mehr Geld für unterstützende Ange­bote aus­ge­ben, sonst wer­den ent­wur­zelte Jugend­li­che zu ent­wur­zel­ten Erwach­se­nen.«

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