Die berüchtigten »grauen Busse« fahren am 24. März 1941 auch in Wilhelmsdorf vor. Das Bild stammt aus der hessischen Landesheilanstalt Eichberg, aus Wilhelmsdorf gibt es keine Fotos der Ereignisse.


1941

»Die Verantwortung ist schwer … « – Euthanasiemorde an Pfleglingen

1941 geschieht Furchtbares in den Zieglerschen Anstalten: Am 24. März halten die berüchtigten »grauen Busse« vor den Toren der Taubstummenanstalt. 19 Pfleglinge nehmen sie mit – nur einer von ihnen kehrt zurück. Die übrigen werden nur wenige Wochen später in der Tötungsanstalt Hadamar vergast. Damit gehören auch die Zieglerschen zu jenen Einrichtungen, deren Pfleglinge Opfer des nationalsozialistischen »Euthanasie«-Programms wurden. Zwischen Januar 1940 und August 1941 fanden mindestens 70.000 geistig behinderte und psychisch kranke Menschen einen gewaltsamen Tod.

Dem mutigen Handeln des damaligen Hausvaters Heinrich Hermann ist zu verdanken, dass viele weitere »Pfleglinge« von diesem Schicksal verschont bleiben. Er weigert sich, für das Reichsinnenministerium in Berlin die sogenannten Meldebogen zur Erfassung der »Kranken« auszufüllen: »Ich kenne den Zweck dieser planwirtschaftlichen Erfassung. Ich weiss von den vielen Todesnachrichten, welche die Angehörigen verschiedener württembergischer und badischer Heil- und Pflegeanstalten in den letzten Monaten erhalten haben. Ich kann da gewissenshalber nicht schweigen und nicht mitmachen… Ich habe einfach die Ueberzeugung, daß die Obrigkeit mit der Tötung gewisser Kranker ein Unrecht begeht. (...) Das ist es, warum ich in dieser Sache nicht mitmachen kann. Es tut mir leid, aber man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.«

Nach Hermanns Weigerung wird im Oktober 1940 eine Gutachterkommission des württembergischen Innenministeriums nach Wilhelmsdorf geschickt. Sie füllen vor Ort selbst 45 Meldebogen aus. Hermann quält das zu erwartende Schicksal seiner Patienten. Er schreibt Eingaben ans württembergische Innenministerium in Stuttgart und bittet immer wieder, Kranke zu verschonen: »Ist es nicht möglich, noch einige Bögen zu zerreissen?«

Am 24. März 1941 werden schließlich 19 Pfleglinge abgeholt. Der einzig Überlebende dieses Abtransportes ist der »hörstumme« Ernst Weiss. Warum gerade er die Euthanasie überlebt hat, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit rekonstruieren. Sicher ist, dass Hausvater Hermann wiederholt darum bittet, ihn von der Verlegungsliste streichen zu lassen. Zugleich hält seine Mutter von Stuttgart aus regelmäßigen Kontakt, besucht ihn zum Teil in 14-tägigem Abstand. Im September 1941 kehrt Ernst Weiss nach Wilhelmsdorf zurück. Hier verbringt er in Frieden sein weiteres Leben, malt und zeichnet ungewöhnlich detailgetreue Motive. Am 20. September 2009 verstirbt Ernst Weiss in Wilhelms­dorf – hoch­betagt, im Alter von 89 Jahren.

Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse finden Sie  auf unserer Sonderseite

»Vor Gott ist nicht einer vergessen«: Aufarbeitung der NS-Zeit in den Zieglerschen

Die Auseinandersetzung mit der »Euthanasie« beginnt in Wilhelmsdorf 40 Jahre danach. Dietrich Berg, damals Leiter des Rotachheims, ist der Erste, der systematisch forscht. Er findet die Liste mit den Abtransportierten wieder, dokumentiert ihr Schicksal. Und er erinnert an einen fast Vergessenen in Wilhelmsdorf, Hausvater Heinrich Herrmann, der einzige Heimleiter in der deutschen Diakonie, der sich offen gegen die Euthanasie aussprach. Berg publiziert die Broschüre »Vor Gott ist nicht einer vergessen«.
2010 widmen sich die Zieglerschen dann gründlich diesem Abschnitt. Zusammen mit anderen diakonischen Einrichtungen und dem Diakonischen Werk in Württemberg geben sie eine Broschüre zur »Euthanasie-Aktion« heraus. Gedenkorte werden darin publiziert. In Wilhelmsdorf sind dies ein Gedenkstein (siehe Foto) und ein großes Wandgemälde im Rotachheim. 2011, genau 70 Jahre, nachdem die »grauen Busse« in Wilhelmsdorf hielten, stellt die Historikerin Inga Bing-von Häfen eine umfassende Untersuchung der Ereignisse in einem Buch vor: »Die Verantwortung ist schwer… Euthanasiemorde an Pfleglingen der Zieglerschen Anstalten«. Die Untersuchung stößt auf großes Interesse innerhalb und außerhalb Wilhelmsdorfs und wird vom Thorbecke-Verlag in einer Nachauflage veröffentlicht.