Titelthema

Dezember 2018

Was ist Heimat?

Man kann sie haben, verlieren, vermissen, neu finden oder zu ihr zurückkehren. Doch was ist Heimat eigentlich? Eine Spurensuche.

Text: Volkmar Schreier, Herbert Guth und Nicola Philipp

Hei­mat ist sprichwörtlich: Man hat eine Hei­mat. Manch­mal ver­liert man seine Hei­mat. Und manch­mal hat man das Glück, eine neue Hei­mat zu fin­den. Doch was ist »Hei­mat« über­haupt? Gibt es eine Defi­ni­tion für die­sen Begriff, dem der Schrift­stel­ler Max Frisch ein­mal Unüber­setz­bar­keit attes­tierte? Ist Hei­mat der Ort der Her­kunft? Oder der Ort, an dem man gerade lebt? Oder schlicht und ein­fach nur ein Gefühl? Und: Wie sieht das mit der Hei­mat in den Zieg­ler­schen aus? Eine Spu­ren­su­che.

»Im schönsten Wie­sen­grunde ist mei­ner Hei­mat Haus, ich zieh‘ zur Mor­gen­stunde ins Tal hin­aus ...« beginnt ein Gedicht des schwäbischen Lyri­kers Wil­helm Ganz­horn, der diese Zei­len im Jahre 1851 ver­fasste. Schon bald dar­auf fan­den sie Ein­gang in das deut­sche Lied­gut – 2004 wurde das »Wie­sen­grund-Lied« sogar von den Zuschau­ern der »Krone der Volks­mu­sik« zum belieb­tes­ten volkstümli­chen Lied gewählt. Die Hei­mat als Haus, da, wo man her­kommt: Hei­mat ist »der Ort, in den der Mensch hin­ein­ge­bo­ren wird«, schreibt der Brock­haus. Hei­mat ist aber mehr, sagt der Tübin­ger Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Her­mann Bausin­ger. Er forscht seit Jahr­zehn­ten zu die­sem Thema. »Hei­mat ist ver­trau­tes Gelände, dort, wo ich mich wohl fühle und mich mit den Men­schen in mei­ner Umge­bung ver­stehe«, plädierte er unlängst in einem Zei­tungs­in­ter­view für einen wei­ter gefass­ten Hei­mat­be­griff.

Eine Sicht­weise, die zumin­dest beim Blick auf die Gemeinde Wil­helms­dorf nicht so ganz falsch sein kann. Denn für viele Men­schen in den Zieg­ler­schen ist Wil­helms­dorf so ein »ver­trau­tes Gelände«. Die Geschichte des Ortes und der Zieg­ler­schen sind eng mit­ein­an­der verknüpft – seit über 175 Jah­ren hat hier die dia­ko­ni­sche Arbeit einen fes­ten Platz. Ähnlich wie Bausin­ger macht der Wil­helms­dor­fer Pfar­rer Ernest Ahl­feld, 53, Hei­mat nicht an einem Ort fest. Viel­mehr seien es die Men­schen, mit denen man es zu tun habe. »Hei­mat ist da, wo wir mit­ein­an­der gut leben können «, for­mu­liert er nach kur­zem Nach­den­ken.

Was Wil­helms­dorf so ein­ma­lig mache, sei die Tat­sa­che, dass die Men­schen hier völlig selbst­verständlich mit behin­der­ten und betreu­ten Men­schen zusam­men leben. »Unsere Behin­der­ten wer­den ange­nom­men, sie wer­den ernst genom­men, sie sind keine Men­schen zwei­ter Klasse. Sie dürfen so sein, wie sie sind und fühlen sich des­halb hei­misch.« Vor dem Got­tes­dienst im Bet­saal wer­den behin­derte Gläubige vom Pfar­rer mit Hand­schlag begrüßt. Und Gebete wer­den gehörlo­sen Men­schen mit Gebärden­spra­che ver­mit­telt. »Auch das schafft Hei­mat«, ist Ahl­feld über­zeugt. Auf Wil­helms­dorf bezo­gen schätzt er – der selbst in Ost­fries­land gebo­ren wurde –, dass weni­ger als die Hälfte der Ein­woh­ner direkt aus der Gemeinde stam­men. Doch Ein­hei­mi­sche und Zuge­zo­gene fin­den sich gemein­sam in Gre­mien und Verei­nen und prägen in alter und neuer Hei­mat das Orts­bild.

Noch so ein Zuge­zo­ge­ner ist Franz Mayer. 1977 kam er das erste Mal nach Wil­helms­dorf – als Pati­ent in die Sucht­kli­nik Ring­gen­hof. Mayer war damals schwerst­mehr­fachabhängig, wie er erzählt. Nach erfolg­rei­cher The­ra­pie ließ die Gemeinde ihn nicht mehr los. 1981, vier Jahre später, kehrte er zurück in den Ort. Er fand Arbeit, erst im Hoff­mann­haus, dann bei den Zieg­ler­schen, wo er später als The­ra­peut in der Sucht­hilfe arbei­tete (siehe Foto, das Franz Mayer im Kräuter­gar­ten der Fach­kli­nik Ring­gen­hof zeigt).

Ursprünglich kommt Mayer aus einem klei­nen Ort auf der Schwäbischen Alb bei Bur­la­din­gen. Als Hei­mat sieht er sei­nen Geburts­ort heute nicht mehr. »Das ist für mich keine Hei­mat im ursprüngli­chen Sinne, wo ich mich wohl und hei­misch fühle« erzählt er. Fahre er heute durch den Ort, sehe er zu, dass er möglichst schnell wie­der davon­komme. Mit 17 ist er damals von zu Hause weg: »Wenn man nicht mehr Teil des Gan­zen ist, geht Hei­mat ver­lo­ren.« Muss man sich eine neue Hei­mat erar­bei­ten? »Ich glaube nicht. Aber man mus offen sein für Men­schen, Kon­takte knüpfen. Man muss sich bewe­gen, um Hei­mat zu fin­den«, sagt Franz Mayer. »Die Men­schen im Umfeld, auch beruf­lich, geben Hei­mat«, sagt er, der sich über die Jahre hin­weg auf vielfältige Weise ehren­amt­lich im Ort enga­giert hat. So führte er lange den Förder­kreis ehe­ma­li­ger Pati­en­ten, sorgte mit dafür, dass zwei kleine Got­teshäuser neben der Kli­nik Höchs­ten und dem Ring­gen­hof ent­stan­den sind, die auf ihre Weise eben­falls zur Hei­mat auf Zeit für Pati­en­ten gewor­den sind. Heute setzt sich Franz Mayer für Flücht­linge ein.

Und was bedeu­tet Hei­mat für ihn? »Gebor­gen­heit, Aner­ken­nung, Dabei­sein und als Mensch erkannt wer­den«, sagt Mayer. Und ergänzt: »Aber auch Land­schaft gibt Hei­mat. Das Pfrun­ger Ried zum Bei­spiel ist mir see­len­ver­wandt. In Wil­helms­dorf habe ich meine Hei­mat gefun­den.«

»Müßt’ aus dem Tal ich schei­den, wo alles Lust und Klang; das wär’ mein herbs­tes Lei­den, mein letz­ter Gang ...« beginnt die zweite Stro­phe des Wie­sen­grund-Lie­des. Die alte Hei­mat ver­las­sen müssen, irgendwo anders neu anfan­gen und sich eine neue Hei­mat auf­bauen: Vor die­ser Her­aus­for­de­rung ste­hen Men­schen mit Behin­de­run­gen in der Behin­der­ten­hilfe. Denn im Zuge der Dezen­tra­li­sie­rung haben die Zieg­ler­schen in den ver­gan­ge­nen Jah­ren neue Wohn­an­ge­bote geschaf­fen, etwa in Wil­helms­dorf in der Frie­den­straße, in Aulen­dorf, Bad Saul­gau oder in Engen. Viele Bewoh­ner aus der Has­lachmühle – teil­weise haben sie dort Jahr­zehnte gelebt (siehe auch das Porträt) – sind umge­zo­gen. Wie ist das dann mit der Hei­mat am neuen Wohn­ort?

Karin Roth-Hieke lei­tet den Bereich »Leben und Woh­nen« in Aulen­dorf. Ende 2015 wurde das Haus eröffnet. 20 Men­schen mit Behin­de­run­gen leben dort mit­ten in der Stadt. »Was heißt es, sich einen neuen Lebens­rah­men zu erschließen? « sei die Leit­frage aller Umzugs­pla­nun­gen gewe­sen, erzählt sie. Für alle – die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner wie auch das 20-köpfige Team – war der Pro­zess nicht ein­fach. »Die neue Hei­mat zu erwer­ben kos­tet Kraft.«

Begon­nen hat das »Hei­mat erwer­ben« schon in der Bau­phase. »Die zukünfti­gen Bewoh­ner haben das Haus wach­sen sehen«, berich­tet Karin Roth-Hieke aus die­ser Zeit. Als der Roh­bau stand, ging es an die Ver­tei­lung der Zim­mer, dann um prak­ti­sche Fra­gen: »Wo steht das Bett? Wo kommt das Regal hin?« So konn­ten sich die künfti­gen Bewoh­ner eine Vor­stel­lung davon machen, wie es bald im Haus aus­se­hen würde. Wie wich­tig das für das Gelin­gen eines sol­chen Umzugs ist, lesen Sie auch in unse­rem Exper­ten­tipp.

Der Neu­bau war die eine Sache, das Orga­ni­sie­ren des Zusam­men­le­bens nach dem Umzug die andere. »Es geht auch um die Klei­nig­kei­ten, die am Ende Hei­mat schaf­fen« macht Roth-Hieke deut­lich. »Wie räumen wir den Kühlschrank ein? Wer hat wo seine Sachen?« sei ebenso ein Thema gewe­sen wie das gemein­same Ver­ein­ba­ren von Regeln zum Zusam­men­woh­nen: Wann wer­den die Zim­mer auf­geräumt? Was steht wo? Was sind die Auf­ga­ben, die erle­digt wer­den müssen und wann? »Es hat ein Jahr gedau­ert, bis sich unsere Leute im Haus hei­misch gefühlt haben«, sagt Karin Roth-Hieke. Inter­essan­ter Neben­ef­fekt die­ser Kon­zen­tra­tion auf das Neue: Der Ver­lust des alten Umfel­des wurde gar nicht als sol­cher wahr­ge­nom­men. »Wir haben natürlich ver­sucht, die Ver­bin­dun­gen zu den ande­ren Stand­orten zu hal­ten, durch Besu­che, Ausflüge. Aber das war am Anfang über­ra­schen­der­weise gar nicht so wich­tig«, denn die Bewoh­ner waren erst ein­mal mit der neuen Situa­tion beschäftigt. »Die Fra­gen nach Besu­chen kom­men erst jetzt wie­der.«

Für Karin Roth-Hieke ist hei­misch wer­den ein mehr­stu­fi­ger Pro­zess: »Zuerst kommt der Innen­raum und dann das Ersch­ließen des Sozi­al­raums hin­ter­her.« Heute gehen die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner der Aulen­dor­fer Ein­rich­tung gerne in die Stadt und wer­den beim Kaf­fee­trin­ken von der Bedie­nung erkannt: »Jetzt ken­nen die Leute am Ort unsere Leute – auch das ist Hei­mat«.

Bis­wei­len ist das Schaf­fen von Hei­mat aber auch ein zwei­schnei­di­ges Schwert. Denn es kann vor­kom­men, dass das aktu­elle Leben­sum­feld eben nicht zur Hei­mat wer­den soll. Bei­spiels­weise im Inter­nat der Leo­pold­schule Alts­hau­sen des Hör-Sprach­zen­trums. Hier sind es zwei getrennte Lebens­wel­ten, mit denen es die Schülerin­nen und Schüler zu tun haben: Unter der Woche das Inter­nat, an den Woche­n­en­den und in den Ferien das elter­li­che Zuhause, wel­ches Bezugs­punkt und Hei­mat blei­ben soll. Natürlich seien alle im Inter­nat sehr bemüht, eine hei­me­lige Stim­mung bei­spiels­weise durch die Gestal­tung der Räume zu schaf­fen, sagt Inter­nats­lei­te­rin Elke Hal­ler. Wich­tig seien auch viele Gespräche, eine indi­vi­du­elle Lern­be­glei­tung und die Persönlich­keitsförde­rung im All­tag. Sie schränkt aber ein: »Das Inter­nat ist nicht für jedes Kind die Hei­mat. Zum Glück, muss ich sagen, denn das ist nicht unser Ziel.«

Während sie also das Inter­nat bes­ten­falls als »Hei­mat auf Zeit« sieht, hat Jan, 15, damit kein Pro­blem. Er wohnt seit vier­ein­halb Jah­ren im Inter­nat. »Ich finde, dass die WG mein Zuhause ist, denn ich lebe hier öfter und kenne jeden. Es ist fast wie zu Hause, nur ent­spann­ter.« Und Hei­mat? Die WG sei auch seine Hei­mat, sagt er: »Dort, wo ich mich wohl und sicher fühle«. Und dann verrät er noch, dass er schon seine »nächste Hei­mat« plant. Er freut sich dar­auf, irgend­wann mit sei­nen Freun­den in einer WG zu woh­nen, denn das Zusam­men­le­ben mit ande­ren jun­gen Men­schen ist genau das, was ihm im Inter­nat am meis­ten gefällt.

»Sterb ich, – im Tales Grunde will ich begra­ben sein ... « beginnt Wil­helm Ganz­horn die letzte Stro­phe sei­nes Gedichts. Gibt es ihn, den Wunsch, am Ende des Lebens wie­der in die »alte Hei­mat« zurückzu­keh­ren? Hil­de­gard und Ernst Fischer leben in Kirch­heim unter Teck im Betreu­ten Woh­nen neben dem dor­ti­gen Hen­ri­et­ten­stift. Die Fischers, er ist 85, sie ist 83 Jahre alt, sind tatsächlich vor nicht allzu lan­ger Zeit nach Kirch­heim zurückge­kehrt. Über 40 Jahre haben die bei­den zuvor in der Schweiz gelebt. »Das war eine sehr bewusste Ent­schei­dung«, erzählt Hil­de­gard Fischer über die gemein­same Rückkehr. Klar, auch in der Schweiz hätten sich die bei­den hei­misch gefühlt, aber: »Jedes Mal, wenn wir nach Kirch­heim gefah­ren sind, haben wir gesagt: Wir fah­ren heim.« Über die Jahre sei die Ver­bin­dung nach Kirch­heim nie abge­ris­sen: »Wir haben unsere Kon­takte immer ganz bewusst gepflegt«.

Dabei ist die Frage nach der Hei­mat bei den Fischers auf den ers­ten Blick gar nicht so ein­fach zu beant­wor­ten. Ernst Fischer hat es nach dem Krieg als Kind von Flücht­lin­gen nach Hep­sisau, einen klei­nen Ort unweit von Kirch­heim ver­schla­gen. Und Hil­de­gard Fischer kam auch erst mit sechs, sie­ben Jah­ren hier her. Denn eigent­lich stammt sie, die sich als Kirch­hei­me­rin bezeich­net, aus Essen im Ruhr­ge­biet: »Über die Kin­der­land­ver­schi­ckung im 2. Welt­krieg bin ich nach Kirch­heim gekom­men.« Nach dem Krieg fand sich nach und nach ihre gesamte Fami­lie in Kirch­heim ein. Zu ihrer Geburts­stadt Essen hat sie kei­nen Bezug mehr: »Dafür bin ich dort zu früh weg.«

Woran die Fischers ihre Defi­ni­tion von Hei­mat fest­ma­chen? »Da, wo ich bin und mich wohlfühle ist Hei­mat«, sagt Hil­de­gard Fischer und stellt für sich fest: »Es ist ein Gefühl: Ent­we­der es funkt oder es funkt nicht.« Zumin­dest ihr persönli­ches Hei­mat­gefühl sei aber von meh­re­ren Fak­to­ren abhängig. Wich­tig seien die Men­schen, der Ort und das Umfeld. »Hei­mat­gefühl ist eine Kom­bi­na­tion.«

Hei­mat schaf­fen, Hei­mat erhal­ten, Hei­mat fin­den und Hei­mat haben &hel­lip; Wie ist das nun mit der Hei­mat in den Zieg­ler­schen? Viel­leicht ganz ein­fach, so, wie es Pfar­rer Gott­fried Heinz­mann, der Fach­lich-theo­lo­gi­sche Vor­stand der Zieg­ler­schen, in einer Pre­digt gesagt hat: »Beim Nach­den­ken merke ich: Hei­mat hat viel­leicht gar nicht so sehr mit Orten, Häusern oder Woh­nun­gen zu tun. Hei­mat, das sind Men­schen, mit denen ich ver­bun­den bin. Men­schen, die mir etwas bedeu­ten. Men­schen, die mir das Gefühl geben, zu Hause zu sein.«

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Hat in Wilhelmsdorf eine Heimat gefunden: Franz Mayer im Kräutergarten der Fachklinik Ringgenhof.

Ende 2015 sind 20 Menschen mit Behinderung nach Aulendorf gezogen. Ein Jahr hat es gedauert, bis sich die Menschen im Haus heimisch gefühlt haben – nun sind die Bewohnerinnen und Bewohner am neuen Ort angekommen.

Gibt es ihn, den Wunsch, am Ende des Lebens wieder in die »alte Heimat« zurückzukehren?