»Ich kann bis heute kein Schwäbisch«

Porträt

»Ich kann bis heute kein Schwäbisch«

Dr. Inge Jens

Porträt

Oktober 2016

Das Tübinger Karolinenstift ist ein besonderes Haus. In diesem Seniorenzentrum der Zieglerschen spiegelt sich das geistige Leben der Universitätsstadt wie in einem Brennglas. So kann es passieren, dass beim Frühstück zwei emeritierte Professoren ein philosophisches Phänomen diskutieren. Oder abends eine passionierte Pianistin auf dem hauseigenen Klavier spielt. Direkt neben dem »Karo« liegen 34 betreute Wohnungen. In einer lebt eine bekannte Persönlichkeit: Dr. Inge Jens, Autorin, Wissenschaftlerin und Witwe des Rhetorikprofessors Walter Jens. Ein Porträt.

Text: Gerlinde Wicke-Naber

Den größten Teil ihres Lebens hat Inge Jens in Tübin­gen ver­bracht. »Ich kam mit Anfang 20 hier­her«, sagt sie, mitt­ler­weile 89 Jahre alt. Doch ihre Her­kunft aus Ham­burg kann die groß gewach­sene Frau nicht ver­leug­nen. Nord­deut­sche Nüchtern­heit und han­sea­ti­sches Under­state­ment strahlt sie aus, der Ton­fall lässt auf­hor­chen. »Ich kann bis heute kein Schwäbisch.« Und doch nennt Inge Jens Tübin­gen »meine Hei­mat«. Diese möchte die bekannte Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin, deren Bücher es häufig in die Best­sel­ler­lis­ten schaff­ten, auch im Alter nicht ver­las­sen: »Hier habe ich meine Freunde.« Vor zwei­ein­halb Jah­ren, nach dem Tod ihres Man­nes, dem inter­na­tio­nal bekann­ten Rhe­to­rik­pro­fes­sor Wal­ter Jens, ver­kaufte sie das Acht-Zim­mer-Haus auf dem Tübin­ger Apfel­berg und zog in eine Drei-Zim­mer-Woh­nung des Betreu­ten Woh­nens. Es liegt direkt neben dem Karo­li­nen­stift der Zieg­ler­schen und wird von die­sem mit betreut.

Ihre Woh­nung mit klei­nem Bal­kon hat sie mit Möbeln aus ihrem Haus ein­ge­rich­tet, auch einen klei­nen Teil ihrer Biblio­thek nahm sie mit. Vom größten Teil aber musste sie sich tren­nen. »Das ging an ein Anti­qua­riat hier in Tübin­gen.« Umzug und Abschied seien ihr nicht schwer gefal­len, sagt Inge Jens. Froh sei sie über die neuen Haus­ei­gentümer. »Eine Fami­lie mit vier Kin­dern. Ich kann sie jeder­zeit besu­chen.« Manch­mal brächten sie ihr Blu­men. »›Aus Ihrem Gar­ten‹, sagen sie dann. Ich betone: ›Das ist nun Ihr Gar­ten.‹«

Selbst­verständlich hat auch die neue Woh­nung ein Arbeits­zim­mer. Ein Com­pu­ter steht darin, an dem die Wis­sen­schaft­le­rin auch mit 89 Jah­ren noch arbei­tet. Im März erschien ihr jüngs­tes Buch. »Lang­sa­mes Ent­schwin­den. Vom Leben mit einem Demenz­kran­ken.« Briefe, die sie in den zehn Jah­ren der Erkran­kung ihres Man­nes an Freunde und Ver­wandte schrieb, sind darin zusam­men­ge­fasst. Sie doku­men­tie­ren, was es bedeu­tet, wenn ein Mann, der einer der führen­den Den­ker der Repu­blik war, nach und nach alle kogni­ti­ven Fähig­kei­ten ver­liert. Zu einem Men­schen wird, der sich nicht mehr arti­ku­lie­ren kann und nur noch im Augen­blick lebt.

Bekannt war Inge Jens schon länger – als Auto­rin, Pub­li­zis­tin und als Ehe­frau des berühmten Wal­ter Jens. Doch rich­tig populär wurde Inge Jens mit der Demen­zer­kran­kung ihres Man­nes, über die sie offen sprach. Ihre Arbeit hielt sie während der lan­gen Krank­heits­phase über Was­ser – auch finan­zi­ell. »Die Betreu­ung eines Demenz­kran­ken ist teuer. Dafür reicht selbst die üppige Pro­fes­so­ren­pen­sion nicht aus.«

Die gemein­same intel­lek­tu­elle Arbeit hat das Ehe­paar fast sechs Jahr­zehnte ver­bun­den. Gemein­sam hat es meh­rere Bücher ver­fasst: über die Geschichte der Uni­ver­sität Tübin­gen, vor allem aber über die Lite­ra­ten­fa­mi­lie Mann. Es ist das Lebensthema der 89-Jähri­gen, an das sie eher zufällig geriet. Ende der 1950er Jahre sei der Ver­le­ger Günther Neske mit einem Bündel Briefe gekom­men. »Es waren Briefe, die Tho­mas Mann an den Schrift­stel­ler Ernst Ber­tram geschrie­ben hatte. Neske wollte sie her­aus­ge­ben und bat mei­nen Mann, diese zu edi­tie­ren.« Der aber hätte auf seine Frau ver­wie­sen, damals bereits eine pro­mo­vierte Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin, die für den Rund­funk arbei­tete. »Ich wusste nicht so recht, was da auf mich zukommt, habe es aber ange­nom­men und die Arbeit hat mir großen Spaß gemacht«, erzählt Jens von den Anfängen. Der Brief­band wurde ein großer Erfolg und öffnete die Tür für wei­tere Aufträge. Es folg­ten die fünf letz­ten Tagebücher von Tho­mas Mann oder auch die Auf­zeich­nun­gen und Briefe der Geschwis­ter Scholl.

Die meiste Zeit ihrer auf­wen­di­gen Recher­chen ver­brachte Inge Jens in Archi­ven. Hinzu kamen Inter­views mit Zeit­zeu­gen. So lernte sie auch Katia Mann ken­nen, die Ehe­frau von Tho­mas Mann. Zu deren Sohn, dem His­to­ri­ker Golo Mann, hatte sie engen Kon­takt. Inspi­riert durch die inten­sive Beschäfti­gung mit der Fami­lie Mann schrieb sie mit ihrem Mann eine Bio­gra­fie über Katia Mann. »Das war damals völli­ges Neu­land.« Später kam eine Bio­gra­fie von Katias Mut­ter, Hed­wig Prings­heim, hinzu. »Die inter­essan­teste Per­son der Fami­lie über­haupt«, sagt die Auto­rin.

Inge Jens ist es gelun­gen, sich schon früh ein eige­nes Leben zu schaf­fen – mit anspruchs­vol­ler Arbeit trotz der Erzie­hung zweier Söhne. Das war nicht selbst­verständlich für Frauen ihrer Gene­ra­tion. Noch immer ist sie als Vor­trags­red­ne­rin gefragt. Die Tage sind aus­gefüllt und sie nimmt rege am Leben ihrer aka­de­misch geprägten Hei­mat­stadt teil. »Ich gehe ins Kino, die Uni­ver­sität mit ihrer Biblio­thek ist nicht weit.« Freunde kämen zu Besuch. Den All­tag bewältigt die 89-Jährige allein, kauft ein, kocht sich täglich selbst.

Zufrie­den wirkt Inge Jens. »Hier im Haus fühle ich mich wohl. Man lässt mich machen, was ich will.« Nur die Kräfte ließen lang­sam nach. »Manch­mal will ich zu einem inter­essan­ten Vor­trag und dann ver­schlafe ich den Ter­min. Doch das ver­zeihe ich mir.« Und der Rückblick auf ihr Leben? »Ich habe unend­lich viel Grund zur Dank­bar­keit – trotz der Krank­heit mei­nes Man­nes und trotz eini­gem ande­ren. Ich hatte ein rei­ches Leben an der Seite eines sehr inter­essan­ten Man­nes, mit dem ich alles geteilt habe.«

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