Titelthema

Oktober 2016

Bauen in Zeiten der Inklusion

Inklusion, Bildung, demo­grafischer Wandel, Bau­projekte ... Sie finden, dass das Wort »Bau­projekte« nicht in die Reihe der großen sozial­politischen Heraus­forde­rungen unserer Zeit gehört? Weit gefehlt! Denn all diese Ent­wick­lungen, die unsere ganze Gesell­schaft massiv heraus­fordern, schlagen sich in der kon­kreten Um­setzung tat­sächlich auch »in Beton« nieder – wie zahl­reiche Beispiele aus den Zieglerschen zeigen. Träger sozialer Dienst­leistungen müssen deshalb heut­zutage neben ihrer eigentlichen diakonischen Arbeit für und mit Menschen auch noch das sogenannte Facility Manage­ment – also die professio­nelle Planung, Bewirt­schaftung und Verwal­tung von Gebäuden ein­schließlich der Steuerung großer Bau­projekte – beherrschen. Ein Blick hinter die Kulissen.

Text: Katharina Stohr

Klaus Wit­zer, 86, hält sich an sei­nem Rol­la­tor fest und übt mit sei­ner The­ra­peu­tin im qua­dra­ti­schen und großräumi­gen Innen­hof des neu erbau­ten Senio­ren­zen­trums Leut­kirch. Gef­lieste, ebene Wege führen um einen begrünten Hügel, der sich in der Mitte des Innen­hofs erhebt. Vier Fassa­den des Hau­ses umschließen den Hof, mehr­fach ste­hen kleine Holzbänke und Sitz­grup­pen an der Seite, rote Son­nen­schirme spen­den Kühle. »Ich finde den Innen­hof sehr schön und fühle mich dort wohl«, sagt Wit­zer, »man kann spa­zie­ren gehen und sich hin­set­zen«. Er, der welt­ge­wandte und weit­ge­reiste ehe­ma­lige Ver­le­ger, der sehr viel erlebt hat, sitzt oft im Roll­stuhl am Schreib­tisch sei­nes Zim­mers, liest, resümiert und blickt auf sein beweg­tes Leben zurück. Für ihn, der früher wenig fremd­be­stimmt war, ist es umso schöner, wenn er heute sol­che Flächen wie den Innen­hof als Aus­gleich hat.

Vor Wit­zers Zim­mertüre führt ein Flur in die Wohn­gruppe, die in war­men Rottönen gehal­ten ist. Im Ess­be­reich sind meh­rere Vie­rer-Tische zusam­men­gerückt, eine Gruppe älte­rer Men­schen sitzt bei Kaf­fee und Kuchen, lachend und wit­zelnd. Auf der gegenüber­lie­gen­den Seite lädt eine Nische mit rotem Sofa, Ohren­ses­sel, Bücher­re­gal und Fern­se­her zum Ver­wei­len ein. Ins­ge­samt 15 ältere Men­schen woh­nen hier zusam­men und tei­len die­sen späten Lebens­ab­schnitt.

»Unsere Senio­ren­zen­tren sol­len so wohn­lich wie möglich aus­se­hen«, sagt Sven Lange, Geschäftsführer in der Alten­hilfe der Zieg­ler­schen. »Die Men­schen sol­len das Gefühl haben, dass sie heim­kom­men«. Weg vom »Heim­cha­rak­ter «, hin zur Wohn­gruppe, die mitt­ler­weile auch gesetz­lich vor­ge­ge­ben ist. Mit die­ser Art, Senio­ren­zen­tren zu bauen, set­zen die Zieg­ler­schen aber nicht nur die »Lan­des­heim­bau­ver­ord­nung « um, sie erfüllen damit auch ihre fach­li­chen Ansprüche an moderne Pflege, die immer stärker gefragt ist. »Auf­grund des demo­gra­fi­schen Wan­dels wer­den die Men­schen älter und die Nach­fra­gen der Städte und Gemein­den nach Pfle­geplätzen neh­men zu«, sagt Lange. So ver­zeich­net er in sei­nen regio­na­len Sta­tis­ti­ken und Bedarfs­ana­ly­sen steil nach oben gehende Zah­len, die sich mit offi­zi­el­len Zah­len decken. Das Sta­tis­ti­sche Bun­des­amt geht davon aus, dass im Jahr 2060 etwa jeder achte Mensch 80 Jahre und älter sein wird. 2013 war es nur jeder zwan­zigste. Kein Wun­der also, dass die Anzahl der Stand­orte der Alten­hilfe ste­tig zunimmt und die Bag­ger regelmäßig anrol­len.

Der­zeit sind es allein in der Alten­hilfe fast 30 Bau­pro­jekte (Neu­bau­ten, Erwei­te­rungs­bau­ten oder Umbaumaßnah­men), die in einer Zeit­schiene wie an einer Kette bis zum Jahr 2027 hin­ter­ein­an­der hängen. Gra­fisch dar­ge­stellt wird dies im soge­nann­ten Mas­ter­plan, der aus­ge­druckt rund sechs Qua­drat­me­ter ein­nimmt und annähernd einer Tapete gleicht. »Mas­ter­pla­nung soll zum einen dar­stel­len, was bau­lich erfor­der­lich ist, zum ande­ren aber auch die finan­zi­elle Aus­wir­kung
und den zeit­li­chen Aspekt«, sagt Chri­stoph Arneg­ger, Geschäftsführer im Faci­lity Mana­ge­ment der Zieg­ler­schen. Bis die­ses Steue­rungs­do­ku­ment aller­dings als Tapete in den Büros von Chri­stoph Arneg­ger und sei­nen Mit­ar­bei­tern hängen und jedes ein­zelne Pro­jekt mit einer geschätzten Bau­summe ver­se­hen wer­den kann, bedarf es einer aufwändi­gen Koor­di­na­tion mit allen Geschäfts­be­rei­chen der Zieg­ler­schen.

Eine, die in die­sem Pro­zess als Bin­de­glied wirkt, ist Sarah Ems­lan­der, Bereichs­lei­te­rin für die Stra­te­gi­sche Pla­nung im Faci­lity Mana­ge­ment. »Zunächst geben uns die Hil­fe­fel­der an, was auf­grund fach­lich-poli­ti­scher Ände­run­gen bau­lich gemacht wer­den muss. Das neh­men wir dann auf, brin­gen es in eine Reihe und dann schauen wir unterm Strich, ob das liqui­ditätstech­nisch über­haupt auf­geht.« Fast 173 Mil­lio­nen Euro Bau­vo­lu­men haben die Zieg­ler­schen für die kom­men­den 10 Jahre ange­setzt, auf­ge­teilt auf rund 90 ein­zelne Bau­pro­jekte.

Als »abso­lu­tes Erfolgs­mo­dell « bezeich­net Uwe Fischer, Geschäftsführer in der Behin­der­ten­hilfe diese Zusam­men­ar­beit. Wich­tig für ihn: In den gemein­sa­men Gesprächen mit den Kol­le­gen aus dem Faci­lity Mana­ge­ment stehe immer der Bedarf der Men­schen im Mit­tel­punkt. »Zuerst muss das Fach­kon­zept ste­hen und dann ant­wor­tet das bau­li­che Kon­zept dar­auf«, so Fischer.

Gerade in der Behin­der­ten­hilfe führen die fach­lich­po­li­ti­schen Verände­run­gen zu Umbrüchen, die sich viel­fach bau­lich aus­wir­ken: »Inklu­sion, Dezen­tra­li­sie­rung, Lan­des­heim­bau­ver­ord­nung, neue Förder­richt­li­nien und Lan­des­per­so­nal­ver­ord­nung: Das sind alles neue Anfor­de­run­gen, die auf einem veränder­ten Blick der Gesell­schaft auf die Lebens­verhältnisse von Men­schen mit einer Behin­de­rung gründen«, sagt Fischer. Gemein­sam ist die­sen neuen Geset­zen und Ver­ord­nun­gen: Sie alle wol­len nach­hal­tige Ver­bes­se­run­gen für die Men­schen mit Behin­de­rung errei­chen.

Sie sol­len bes­ser am Leben in der Gesell­schaft teil­ha­ben, ein gleich­be­rech­tig­tes Leben an dem Ort führen, an dem sie auf­ge­wach­sen sind, aus­rei­chend Platz und ein gutes Woh­num­feld haben. »Wir als Träger müssen auf diese Anfor­de­run­gen rea­gie­ren«, sagt Fischer. Doch heißt dies nicht nur, neue Wohnhäuser oder Werkstätten an dezen­tra­len Stand­orten wie Bad Saul­gau oder Aulen­dorf zu bauen und neue Kon­zep­tio­nen zu schrei­ben.

»Darüber hin­aus müssen wir unsere beste­hen­den Ange­bote unter die Lupe neh­men«, so Fischer. »An den bis­he­ri­gen Kom­plex­stand­orten wie der Has­lachmühle steht das Stich­wort Dein­sti­tu­tio­na­li­sie­rung im Mit­tel­punkt.« Über­setzt: Orte, an denen Men­schen mit Behin­de­rung bis­her sämtli­che Leis­tun­gen und Ange­bote wie Haus­arzt, Psy­cho­loge oder The­ra­peu­ti­sches Rei­ten aus einer Hand erhal­ten haben, sol­len wei­ter­ent­wi­ckelt und die Lebens­verhältnisse dort »nor­ma­li­siert« wer­den.

Die Grund­struk­tu­ren für diese Dein­sti­tu­tio­na­li­sie­rung sol­len bis Ende 2017 gelegt sein, beschäfti­gen wird sie die Behin­der­ten­hilfe vor­aus­sicht­lich die nächs­ten fünf bis zehn Jahre. Und so ste­hen für den Zeit­raum bis 2027 auch in der Behin­der­ten­hilfe zahl­rei­che Bau­pro­jekte auf der »Mas­ter­pla­nungs-Tapete« von Chri­stoph Arneg­ger, dar­un­ter die beson­ders kom­ple­xen Ent­wick­lungs­pro­jekte an den Haupt­stand­orten Wil­helms­dorf und Has­lachmühle.

In der Mas­ter­pla­nung fin­det sich auch das Hör-Sprach­zen­trum wie­der. Als »rie­sige Num­mer« bezeich­net Geschäftsführe­rin Ursula Belli-Schil­lin­ger jenen Pro­zess, in dem die sie­ben Schul-, elf Kin­der­gar­ten- und zehn Inklu­si­ons­stand­orte zwi­schen Biber­ach, Sig­ma­rin­gen und Fried­richs­ha­fen der­zeit ste­cken. »Unser Schul­ent­wick­lungs­pro­zess wird maßgeb­lich vom demo­gra­fi­schen Wan­del, von schul­po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen und von den bau­li­chen Gege­ben­hei­ten unse­rer Schul­gebäude und deren Anpas­sun­gen an zukünftige Kon­zepte beein­flusst.« Vor allem an Gebäuden der drei Tra­di­ti­ons­stand­orte Ravens­burg, Alts­hau­sen und Wil­helms­dorf besteht erheb­li­cher Sanie­rungs- und Anpas­sungs­be­darf. »Die Sanie­rung durch Brand­schutz­auf­la­gen ist das eine. Doch wir wol­len diese Chance auch nut­zen, um uns gleich qua­li­ta­tiv gut auf­zu­stel­len, damit wir für die zukünfti­gen Her­aus­for­de­run­gen gewapp­net sind«, sagt Belli-Schil­lin­ger.

Auch im Hör-Sprach­zen­trum kommt also zuerst das Fach­kon­zept und dann die bau­li­che Umset­zung. »Unsere sie­ben Schul­stand­orte ent­wi­ckeln ihre Unter­richts­kon­zepte wei­ter: Wir beschäfti­gen uns mit selbst­or­ga­ni­sier­tem Ler­nen oder set­zen neue Schwer­punkte im Über­gang zur beruf­li­chen Aus­bil­dung«, erklärt die Geschäftsführe­rin. Diese neuen Kon­zepte müssen sich dann in den Schul­gebäuden wider­spie­geln. So sol­len künftig dif­fe­ren­zier­tere räumli­che Möglich­kei­ten für klei­nere und größere Grup­pen ent­ste­hen, sodass nach unter­schied­li­chen Bil­dungs­ni­ve­aus unter­rich­tet wer­den kann. Außerdem auf der lan­gen Ent­wick­lungs­liste des Hör-Sprach­zen­trums: die Auf­nahme von Schülern ohne Behin­de­rung, also »Inklu­sion umge­kehrt«. Auch der Aus­bau von Räumen für Kunst- oder natur­wis­sen­schaft­li­chen Unter­richt steht im Fokus. Ursula Belli-Schil­lin­ger berich­tet: »Im Sprach­heil­zen­trum Ravens­burg haben wir die Chance ergrif­fen und die Gestal­tung des Schul­hau­ses noch mal neu kon­zi­piert.« Auch der Neu­bau der Leo­pold­schule in Alts­hau­sen erfolgte bereits 2012 unter mod­erns­ten pädago­gi­schen Gesichts­punk­ten: Das Kon­zept eines jahr­gangs- und bil­dungs­gangsüber­grei­fen­den selbst­or­ga­ni­sier­ten Ler­nens spie­gelt sich hier in der Archi­tek­tur des bunt, offen und krea­tiv gestal­te­ten Schul­baus wider. Ursula Belli-Schil­lin­ger ist das Zusam­men­spiel von Pädago­gik und bau­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen wich­tig: »Wir wol­len, dass zukunftsfähige Gebäude ent­ste­hen, in denen die Kin­der auch mor­gen noch ler­nen können und in denen sie sich wohlfühlen.«

Wohlfühlen – das tut sich auch der 10-jährige Leon aus dem Mar­tins­haus Klein­to­bel, wenn er in der neuen Holzhütte auf dem Pau­sen­hof­gelände relaxt und die Sonne genießt. Rund 40 Schrau­ben hat er mit dem Akku-Schrau­ber ins Holz gedreht und 20 Löcher gebohrt. Ent­stan­den ist die­ser Rückzugs­raum im zwei­ten Bau­ab­schnitt des Betei­li­gungs­pro­jekts »Gemein­sam bauen für alle«. Rund 40 junge Men­schen, die wegen Pro­ble­men in der Schule oder zu Hause im Mar­tins­haus sind, haben gemein­sam mit Erzie­hern, Leh­rern, Eltern und Nach­barn ihren Pau­sen- und Frei­zeit­be­reich attrak­ti­ver gemacht. In die­sem lang­fris­tig ange­leg­ten Pro­jekt, das durch Spen­den finan­ziert und von der Firma Kukuk pro­fes­sio­nell beglei­tet wird, geht es aller­dings noch um viel mehr: »Gemein­sam etwas zu ent­wi­ckeln, die Wünsche und Ideen der Kin­der ernst zu neh­men, sie aber auch in die Verant­wor­tung für das Gelin­gen zu neh­men – das alles sind ver­schie­dene Ebe­nen, die hier auf ein­fa­che, aber geniale Weise mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den«, sagt Jona­than Hörster, Geschäftsführer in der Jugend­hilfe der Zieg­ler­schen. Für die Ent­wick­lung der Kin­der im Mar­tins­haus ist wich­tig, dass sie sich als selbst­wirk­sam erle­ben, weiß Kon­rek­tor und Pro­jekt­lei­ter Daniel Murr: »Wir haben Kin­der, die vielfältige nega­tive Erfah­run­gen gemacht haben und die durch das Pro­jekt auch wie­der stolz auf sich sein können, wenn sie täglich an der Hütte vor­bei­lau­fen und ihr Werk sehen.« Und Leon erzählt: »Das Pro­jekt ist halt auch ein biss­chen Ablen­kung von den nor­ma­len Sachen, die man in der Schule macht. Dadurch sind auch die Schul­stun­den schöner.«

Vom großen Dezen­tra­li­sie­rungs­pro­zess in der Behin­der­ten­hilfe bis zum Betei­li­gungs­pro­jekt für Jugend­li­che – die Verknüpfung zwi­schen Fach­kon­zep­ten und Bau­pro­jek­ten in den Zieg­ler­schen sind zahl­reich. Bleibt nun allen Betei­lig­ten zu wünschen, dass er gelingt – der tape­ten-große Mas­ter­plan.

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