Nur einer kehrte zurück

Porträt

Nur einer kehrte zurück

Ernst Weiß

Porträt

März 2021

Vor 80 Jahren, am 24. März 1941, hielten die berüchtigten »grauen Busse« vor der Wilhelms­dorfer Taub­stummen­anstalt. 19 Menschen nahmen sie mit – nur einer kehrte zurück: Ernst Weiß. Er gehört zu den wenigen, die dem Tod ent­kamen. Nach seiner Rückkehr lebte, arbeitete und malte er fast siebzig Jahre bei den Zieglerschen in Wilhelms­dorf. 2009 verstarb er im Alter von 89 Jahren.

Text: Bärbel Cöppicus-Wex

Ernst Weiß kam als knapp Sie­benjähri­ger nach Wil­helms­dorf in die Zieg­ler­schen Anstal­ten. Seine Mut­ter lebte in Stutt­gart und hielt engen Kon­takt zu ihrem Sohn. Warum gerade er die Eutha­na­sie über­lebt hat, galt lange als ungeklärt. Der dama­lige Anstalts­lei­ter, Hein­rich Her­mann, setzte sich zwar nach Kräften für »seine Pfleg­linge« ein, den Tod der 18 wei­te­ren konnte er aber nicht ver­hin­dern. Nun lie­fert eine Stu­die der Aktion-Kunst-Stif­tung, die Ernst Weiß’ Nach­lass ver­wal­tet, neue Erkennt­nisse. Wir veröffent­li­chen eine Kurz­fas­sung des Tex­tes der His­to­ri­ke­rin Bärbel Cöppi­cus-Wex.

Ernst Samuel Weiß wurde am 31. Juli 1920 als unehe­li­cher Sohn von Frie­de­rike (Frieda) Weiß in Calw gebo­ren. Er lebte im Haus­halt der Großmut­ter Frie­de­rike und ihres Man­nes Mar­tin, da seine Mut­ter arbei­ten musste. Ernst Weiß war von Beginn an kränklich und ent­wi­ckelte sich körper­lich und geis­tig nur lang­sam. Am 17. Juni 1927 wurde er in die Zieg­ler­schen Anstal­ten in Wil­helms­dorf auf­ge­nom­men.

Hein­rich Her­mann hatte trotz sei­ner eige­nen Inter­ven­tion die Über­le­benschance sei­ner Pfleg­linge äußerst gering ein­geschätzt und konnte das Über­le­ben gerade von Ernst Weiß nur auf den persönli­chen Ein­satz der Mut­ter Frieda Weiß zurückführen. Und tatsächlich spie­geln die Briefe von Frieda Weiß und die Aus­sa­gen von Zeit­zeu­gen den star­ken Wil­len einer Mut­ter wider, ihren Sohn nicht sei­nem Schick­sal über­las­sen zu wol­len. Die Geheim­hal­tungs- und Ver­schleie­rungs­stra­te­gien stell­ten die Fami­lien der Eutha­na­siop­fer vor das Pro­blem, über­haupt von der  Ver­le­gung« ihres Angehörigen zu erfah­ren. Oft­mals tra­fen die Benach­rich­ti­gung über den Trans­port in eine der Zwi­schen­an­stal­ten und die Todes­nach­richt kurz hin­ter­ein­an­der ein.

Dies alles muss der Fami­lie bekannt gewe­sen sein und sie ver­fiel auf eine ver­gleichs­weise ein­fa­che Lösung. Zwei Zeit­zeu­gin­nen, denen die Mut­ter von Ernst Weiß persönlich bekannt war, berich­te­ten unabhängig von­ein­an­der, dass Ernst Weiß von sei­ner Mut­ter eine adres­sierte und fran­kierte Post­karte erhal­ten habe, die er im Falle einer Ver­le­gung aus der neuen Anstalt schi­cken sollte. Laut den Zeu­gin­nen soll auf der Karte Raum für eine kurze, sym­bo­li­sche Mit­tei­lung gewe­sen sein, womit Ernst sein Befin­den ausdrücken konnte. Am 4. Mai schreibt »Fami­lie Hölzle« an Haus­va­ter Her­mann in Wil­helms­dorf und ver­langt Aufklärung über die Ver­le­gung von Ernst Weiß. Am 3. Mai habe man »eine Karte aus Weins­berg erhal­ten« und das sei »die Karte, wo ich in sein Oster­pa­ket rein­ge­legt habe«.

Ins­ge­samt besuchte Frieda Weiß ihren Sohn sechs Mal in Weins­berg bevor er wie­der nach Wil­helms­dorf zurückkehrte. Die offen­sicht­li­che Freude, die diese Besu­che auslösten, wur­den ausdrücklich ver­merkt. Frieda Weiß ver­suchte offen­bar, wann immer möglich, an den Sonn­ta­gen in Weins­berg vor­stel­lig zu wer­den. Und dies, obwohl Anstalts­lei­ter Jooss anmerkte: »Sonn­tags­be­su­che sind uns unge­schickt«. Frieda Weiß hatte reso­lut erläutert, dass sie »in einem Wehr­pflich­ti­gen Betrieb arbeite« und somit »Werk­tags keine Zeit habe«. Es gelang Frieda Weiß mit familiärer Unterstützung, ein Sys­tem von Ver­bind­lich­kei­ten und Kon­tak­ten in Weins­berg auf­zu­bauen, um mit­tels hoher persönli­cher und schrift­li­cher Präsenz ihren Sohn, so gut es ging, zu unterstützen und dabei zu über­wa­chen. Neuere For­schun­gen stützen den Befund, dass ein enger Fami­li­en­zu­sam­men­halt für die Opfer der T4-Aktion von lebens­wich­ti­ger Bedeu­tung sein konnte.

Am Don­ners­tag, dem 11. Sep­tem­ber fuhr Ernst Weiß mit dem Zug von Weins­berg aus in Beglei­tung des Pfle­gers Lutz nach Heil­bronn, wo er am Bahn­hof von der Wil­helms­dor­fer Pfle­ge­rin Frieda Zeis­set in Empfang genom­men wurde. Doch von einem Hap­pyend kann kaum die Rede sein. Ernst Weiß steht bei­spiel­haft für die »Eutha­na­sie«-Opfer, die zwar über­leb­ten, aber zeit­le­bens trau­ma­ti­siert blie­ben.

Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Aktion-Kunst-Stif­tung, Soest, in Koope­ra­tion mit der Stif­tung »Erin­ne­rung, Verant­wor­tung und Zukunft« (EVZ), Ber­lin
Vollständi­ger Text mit Quel­len­an­ga­ben: www.aktion-kunst-stif­tung.de/grund­la­gen­for­schung-zu-ernst-weiss
Erst­veröffent­li­chung: www.geden­kort-t4.eu/de