Titelthema

September 2022

Hör mal

Wie Menschen, die nicht oder nur wenig hören können, immer selbstverständlicher am Alltag teilhaben. Und welchen Beitrag die Zieglerschen dazu leisten.

Text: Nicola Philipp, Mitarbeit: Sarah Benkießer

Seit letz­tem Schul­jahr ist die neue Leo­pold­schule Alts­hau­sen fer­tig. Nicht nur von außen ein ungewöhnli­ches Gebäude, auch innen modern und zeit­gemäß. Opti­mal für Kin­der, die nicht oder nur sehr ein­ge­schränkt hören können und die hier beste Bedin­gun­gen fürs Ler­nen und die Teil­habe am All­tag fin­den. Neu ist aber nicht nur der Bau, son­dern auch die Aus­rich­tung des SBBZ Leo­pold­schule als »Kom­pe­tenz­zen­trum Hören und Kom­mu­ni­ka­tion«. Grund genug, sich dem kom­ple­xen Thema Hören und Kom­mu­ni­ka­tion ein­mal inten­si­ver zu wid­men. Hör mal ...

Im Klas­sen­zim­mer ist es ganz still. Elf Zweitklässler sit­zen im Halb­kreis zusam­men. Sie schauen kon­zen­triert auf ihre Leh­re­rin, Désirée Kor­nef­fel. Diese spricht. Aber nicht mit dem Mund. Kein ein­zi­ger Laut kommt über ihre Lip­pen. Sie spricht mit ihren Händen und ihrer Mimik, zeigt dann auf das Wim­mel­bild vor sich, win­kelt die Arme an, Handflächen nach oben, zieht die Schul­tern hoch, sieht fra­gend in den Raum. Die Kin­der ver­ste­hen, eines steht auf und zeigt die von ihr beschrie­bene Szene auf dem Bild. Und so geht es mun­ter wei­ter. Unter­richt ohne Worte, ganz still, kon­zen­triert und fas­zi­nie­rend. Mit Hilfe der Deut­schen Gebärden­spra­che (DGS), die hier gerade spie­le­risch unter­rich­tet wird. Dass in die­ser Klasse alle Kin­der auch Laut­spra­che beherr­schen, zeigt die nächste Unter­richts­ein­heit. Zusam­men sin­gen sie das Lied der ver­lieb­ten Zah­len und gebärden es gleich­zei­tig. »Wir am SBBZ Hören und Kom­mu­ni­ka­tion fin­den es wich­tig, dass alle Schüler der Schule Gebärden­spra­che ler­nen, damit sie sich unter­ein­an­der unter­hal­ten können. Und es hilft allen hörgeschädig­ten und sprach­be­hin­der­ten Kin­dern, dass sie ihren Wort­schatz erwei­tern«, erklärt Kor­nef­fel.

SBBZ bedeu­tet »Son­derpädago­gi­sches Bil­dungs- und Bera­tungs­zen­trum« und im kon­kre­ten Fall ist die Leo­pold­schule in Alts­hau­sen gemeint. Dank der Gebärden­spra­che, die hier nicht nur im Unter­richt von Désirée Kor­nef­fel Anwen­dung fin­det, über­win­det die  Schul­ge­mein­schaft die Bar­rie­ren, die im nor­ma­len All­tag Kin­der mit Hörschädigun­gen vor große Her­aus­for­de­run­gen stel­len. Denn selbst Hörgeräte und auch Coch­lea Implan­tate (CIs) kom­men bei viel­schich­ti­gen und lau­ten Hin­ter­grund­geräuschen an ihre Gren­zen. »Auf einer Regel­schule wäre es viel zu laut für mich«, sagt die 15-jährige Klara. Die Schülerin der 9. Klasse an der Leo­pold­schule trägt beid­sei­tig CIs, die dem taub gebo­re­nen Mädchen eine Art Hören ermögli­chen. CIs, also mit Hilfe einer Ope­ra­tion ins Inne­nohr ein­ge­setzte Hörsys­teme, müssen genau ein­ge­stellt sein. Neben­geräusche sind extrem störend. »In der Schule haben wir Anla­gen, mit denen ich meine CIs ver­bin­den kann, die Leh­rer tra­gen Sen­der. So kann ich alles bes­ser ver­ste­hen«, erzählt die Jugend­li­che. Sie wohnt während der Schul­zei­ten im Inter­nat in Alts­hau­sen, zu Hause ist sie, mit ihren Eltern und drei Geschwis­tern, in Kirch­dorf, Land­kreis Biber­ach. In der Leo­pold­schule fin­det CI-Trägerin Klara beste Bedin­gun­gen vor: Die Räume sind raum­akus­tisch opti­miert, auch die Mitschüler spre­chen in die Mikro­fone der Übert­ra­gungs­an­lage. Alles ist auf gutes Ver­ste­hen aus­ge­rich­tet. Es gibt zwei Leh­rer, Josef und Nicole Münch, die selbst Hörgeräte oder CI tra­gen. Es gibt jede Menge Fach­wis­sen rund um das Thema Hörbe­hin­de­rung und auch der Unter­richt ist dar­auf beson­ders aus­ge­rich­tet, etwa durch visu­elle Medien.

Das sieht an einer all­ge­mei­nen Schule anders aus. Doch auch hier wer­den Kin­der mit Hörschädigun­gen nicht allein gelas­sen. Wenn die Eltern sich eine wohn­ort­nahe Beschu­lung trotz erhöhten Förder­be­darfs wünschen oder der Weg in ein SBBZ zu weit ist, können sie ein Inklu­si­ons­an­ge­bot wählen. Dann kommt ein Son­derpädagoge wie Stef­fen Fuhr­mann zu ihnen. Er berät und unter­rich­tet vor Ort, um zur Teil­habe des Kin­des bei­zu­tra­gen. So besucht der 38-Jährige seit vie­len Jah­ren drei Stun­den pro Woche die inzwi­schen 15-jährige Ayse an ihrer Schule. »Als Ayse in der 2. Klasse war, hatte sie zwei Hörgeräte, die so laut ein­ge­stellt waren, dass ich mich selbst über die Geräte spre­chen gehört habe«, erin­nert sich Fuhr­mann. Denn Hörgeräte funk­tio­nie­ren, indem sie Geräusche verstärken. Anders ist das bei CIs, die die Funk­tion der Sin­nes­zel­len erset­zen und den Hörnerv direkt akti­vie­ren. Noch während der Grund­schul­zeit bekam Ayse zwei CIs. Fuhr­mann beglei­tete den gesam­ten Pro­zess – die Suche nach einer guten Kli­nik, die Ein­gewöhnung nach der Ope­ra­tion. »Es war keine ein­fa­che Pro­ze­dur«, so Fuhr­mann, »aber sie hat sich gelohnt. Ayse hat gerade ihren Haupt­schul­ab­schluss mit sehr guten Noten bestan­den und wird nun auf einer Wer­kre­al­schule wei­ter­ma­chen.«

Eine wei­tere Möglich­keit für Eltern und deren Kin­der ist die Betreu­ung durch den Son­derpädago­gi­schen Dienst (SoPäDie) Hören. »Von Alts­hau­sen aus betreuen wir mit neun Per­so­nen 70 Kin­der«, erzählt Sabine Ailin­ger, Koor­di­na­to­rin des SoPäDie. Dabei geht es vor allem um die Bera­tung von Schul­lei­tern, Leh­rern und Mitschülern. In der Sekun­dar­stufe ist das beson­ders wich­tig, da es hier viele Leh­r­er­wech­sel gibt. Wel­ches Klas­sen­zim­mer ist geeig­net? Sind raum­akus­ti­sche Maßnah­men umsetz­bar? Wie funk­tio­niert eine digi­tale Übert­ra­gungs­an­lage? Oder auch: Wo ist der beste Sitz­platz für das hörgeschädigte Kind? Noch­mal Stef­fen Fuhr­mann: »Ich durfte in einer Dop­pel­stunde hos­pi­tie­ren. In der Pause fragte mich die Leh­re­rin, was sie für Tabea, ein hörbe­hin­der­tes Mädchen, kon­kret ver­bes­sern könnte. Ich zeigte ihr den Sitz­platz, den ich für den bes­ten hielt. Tabea setzte sich dort­hin. Nach der Schul­stunde stand sie auf und sagte: ›Hier höre ich bes­ser!‹ Die­ser Moment blieb mir lange im Gedächt­nis. Denn jetzt weiß sie, was sie braucht. So prompt bekom­men wir Erfolge sel­ten mit.«

Eine Erfolgs­ge­schichte ist auch die von Die­ter Amann. Erst als er vier Jahre alt ist, stellt ein Kin­der­arzt seine Taub­heit fest. »Mein großer Bru­der hatte sehr spät gespro­chen und alle dach­ten, das wäre auch bei mir so«, erklärt Amann die späte Dia­gnose. So besucht er fortan den Kin­der­gar­ten und die erste bis dritte Klasse der Gehörlo­sen­schule Wil­helms­dorf, heute Schule am Wolfsbühl, und wech­selt dann an die Leo­pold­schule in Alts­hau­sen. Er kom­mu­ni­ziert in Laut­spra­che, DGS und LBG (Laut­sprach­be­glei­tende Gebärden). 1995 macht er den Real­schul­ab­schluss und gehört damit zu den neun ers­ten Schülerin­nen und Schülern, die die­sen Abschluss an der Leo­pold­schule machen. »Es war ein­fach eine schöne Zeit«, erin­nert sich der heute 46-Jährige. Der Zusam­men­halt in der Klasse war gut, man habe sich gegen­sei­tig gehol­fen, die Leh­rer waren super, er hatte viele beson­dere Freund­schaf­ten. Nach dem Real­schul­ab­schluss führte sein Weg nach Ravens­burg. »Ich habe dort meine Aus­bil­dung zum Bau­zeich­ner (Hoch­bau) beim Freien Archi­tek­ten Wurm gemacht. Nach der Lehre wurde ich über­nom­men und bin bis heute dort«, berich­tet Amann. Über das Archi­tek­turbüro hat er 2003 wie­der mit den Zieg­ler­schen zu tun. Er bekommt den Auf­trag, die Schlafräume in sei­nem alten Inter­nat in Alts­hau­sen umzu­pla­nen. Die großen 6-Bett-Zim­mer soll­ten zu 2-Bett-Zim­mern wer­den. »Eigent­lich fand ich das schade, denn für mich war es damals in den großen Räumen super.« Neben sei­nem Beruf absol­viert er ein Fern­stu­dium der Theo­lo­gie und lässt sich zum Dia­kon aus­bil­den. Im Okto­ber 2020 fin­det die Dia­ko­nen­weihe in Fried­richs­ha­fen statt. »Mir ist die Arbeit für Men­schen und für Men­schen mit Hörbe­hin­de­rung sehr wich­tig. Ob bei Kin­dern, Jugend­li­chen, Erwach­se­nen oder Senio­ren. Mein Wir­kungs­kreis ist die Region Boden­see, Ober­schwa­ben, Allgäu bis hoch nach Ulm.«

Dass eine Hörschädigung erst so spät ent­deckt wird wie bei Die­ter Amann, kommt heute in Deutsch­land nur noch sel­ten vor. Seit 2009 hat jedes Neu­ge­bo­rene einen Anspruch auf ein Hörscree­ning, das nor­ma­ler­weise noch im Kran­ken­haus durch­geführt wird. Denn man weiß: Je früher eine Hörschädigung erkannt wird, desto bes­ser kann gehan­delt wer­den und umso bes­ser wird die Sprach- und Hörent­wick­lung sein. Hier setzt auch die Frühförde­rung der Zieg­ler­schen an, die hörgeschädigte Klein­kin­der und deren Eltern bereits durch die Kin­der­gar­ten­zeit beglei­ten. Auch bei einer zusätzli­chen geis­ti­gen Behin­de­rung ist eine frühe Ver­sor­gung mit Hörtech­nik sehr wich­tig. Sonja Fahr­bach, Schul­di­rek­to­rin am SBBZ Has­lachmühle berich­tet: »Wenn eine CI-Ver­sor­gung schon bei klei­nen Kin­dern geschieht, ist das eine gute Chance. Diese Kin­der können erstaun­lich gut in Spra­che kom­men«, sagt sie. »Wir ver­su­chen bei allen Schülern Hör- oder Seh­hil­fen anzu­for­dern und kümmern uns darum, dass sie diese auch tra­gen und akzep­tie­ren.«

Am SBBZ Has­lachmühle ler­nen und leben Kin­der und Jugend­li­che mit Förder­be­dar­fen in den Berei­chen Hören, Spra­che und geis­tige Ent­wick­lung. Viele von ihnen können nicht »spre­chen« und den­noch kom­mu­ni­zie­ren sie: mit Gebärden, mit Ges­ten, mit Hilfe der Gebärden­samm­lung »Schau doch meine Hände an« oder mit Bild­kar­ten. Auch die Tablet-basierte Kom­mu­ni­ka­tion spielt mehr und mehr eine Rolle. »Da kann man alles ein­ge­ben, auch Sätze zusam­men­stel­len. Das ist sozu­sa­gen die Hoch­form der Unterstützten Kom­mu­ni­ka­tion«, erklärt Fahr­bach. Natürlich passt das nicht für alle. Es gebe auch ein­fa­cher zu bedie­nende Apps, so die Exper­tin. »Ich drücke was und es kommt ein Geräusch. So können wir ganz schwa­che Schüler zum Bei­spiel in ein Thea­terstück ein­bin­den.« Den größten Vor­teil von Gebärden sieht Fahr­bach darin, dass »die Schüler ihre Hände immer dabei­ha­ben«. Berührend fand sie die Situa­tion mit einem 17-jähri­gen Schüler. Er kam ohne jede Gebärden­kom­pe­tenz in die Has­lachmühle und spricht kei­ner­lei Laut­spra­che. »Ich habe gese­hen, dass er sei­nen Reißver­schluss nicht schließen konnte. ›Soll ich dir hel­fen?‹, habe ich gefragt. Und da hat er gebärdet: ›Bitte hilf mir.‹ Er hat sich getraut zu gebärden und hat es gut gemacht. Für jeman­den, der ohne diese Kom­pe­tenz kam, ein tol­ler Fort­schritt.«

Indi­vi­du­elle Förde­rung ist dabei das A und O. »Im Mit­tel­punkt steht immer das Kind mit sei­nen indi­vi­du­el­len Stärken und Bedürfnis­sen«, erklärt Chris­tiane Stöppler, Geschäftsführe­rin des Hör-Sprach­zen­trums der Zieg­ler­schen. »Eine möglichst frühe Lern- und Ent­wick­lungs­be­glei­tung sichert erfolg­rei­che Bil­dungs­wege und damit eine aktive gesell­schaft­li­che und soziale Teil­habe.« Men­schen mit Hörschädigun­gen sind in den letz­ten Jah­ren immer selbst­be­wus­s­ter gewor­den, beschei­nigt auch Jochen Hallanzy, der 30 Jahre lang die Schule am Wolfsbühl gelei­tet hat. Der anfängli­che Kampf um die Gebärden­spra­che – sie ist erst seit 20 Jah­ren in Deutsch­land aner­kannt – sei einem guten Mitein­an­der gewi­chen. »Früher waren Men­schen mit einer Hörschädigung ständig von Hören­den abhängig. Eltern, aber auch ehe­ma­lige Leh­rer haben sie bei allen wich­ti­gen Ange­le­gen­hei­ten beglei­tet, manch­mal auch bevor­mun­det. Nicht sel­ten wur­den ehe­ma­lige Leh­rer Trau­zeu­gen oder Tauf­pa­ten.« Das hat sich geändert. Nicht zuletzt durch Peer Groups und Selbst­be­trof­fe­nen­verbände, die wich­tig sind für die Iden­titätsent­wick­lung. Hallanzy: »Ich erlebe unsere ehe­ma­li­gen Schüler inzwi­schen als sehr mündige Bürger, die ihr Leben in der Hand haben und sich am öffent­li­chen Leben betei­li­gen, so wie alle ande­ren auch.«

Ins­ge­samt aber wünschen sie sich noch mehr Bar­rie­re­frei­heit: Schall­mi­ni­mie­rung in Gebäuden, unbürokra­tisch finan­zierte Gebärden­sprach­dol­met­scher, mehr Gebärden­spra­che im Fern­se­hen, funk­tio­nie­rende Dis­plays in Bus und Bahn. Und mehr ganz nor­ma­les Mitein­an­der. »Gehen Sie ein­fach auf hörgeschädigte Men­schen zu«, macht Sabine Ailin­ger Mut. »Pro­bie­ren Sie, wie Kom­mu­ni­ka­tion gelin­gen kann. Man freut sich als gehörlo­ser Mensch über jede visu­elle Geste. Über Wahr­neh­mung und ech­tes Inter­esse.«

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