Titelthema

Dezember 2022

Familie

Weihnachten: Das Fest der Familie. Wie ist das mit den Familien in den Zieglerschen? Wir haben uns umgehört und Überraschendes entdeckt.

Text: Volkmar Schreier, Nicola Philipp, Annette Scherer

Es ist Weih­nach­ten. Die Men­schen freuen sich auf das Fest der Fami­lie. Viele kom­men nur die­ses eine Mal im Jahr mit allen zusam­men. Man­chen graust auch vor die­ser Zeit. Was hat es mit der Fami­lie auf sich? Maria, Josef, Jesus – heil, fried­lich und gebor­gen − so wünscht es sich nach wie vor ein großer Teil unse­rer Gesell­schaft. Aber so ist es nicht immer. Und so war es auch nie. Nicht mal bei der Hei­li­gen Fami­lie, die im Grunde eine Patchwork-Fami­lie war. Wie ist das also heute mit den Fami­lien? Und wie ist es bei den Zieg­ler­schen? Wir haben uns umgehört und Über­ra­schen­des ent­deckt ...

In der Pfanne brut­zeln kleine Schnit­zel, aus einem Topf zischt Was­ser­dampf. Manuel Krause hebt den Deckel, gießt die Nudeln ab, wid­met sich wie­der der Pfanne. Es riecht lecker. Nebenan liest Fran­ziska der fünfjähri­gen Johanna vor. Die Kleine liegt mit dem Kopf auf Fran­zis­kas Bei­nen und hört andächtig den Geschich­ten vom klei­nen Maul­wurf zu. Oben wie­derum toben Leon und Jakob, man hört Pol­tern und Lachen. Bis es schließlich durchs Haus ruft: »Essen ist fer­tig«. Fran­ziska und Leon decken den Tisch. Und dann sitzt die Großfami­lie – Mama, Papa und vier Kin­der – fröhlich um die­sen herum und lässt es sich schme­cken.

Eine ganz nor­male Szene aus dem All­tag der Krau­ses. Das Beson­dere daran: Fran­ziska, 25, und Leon, 22, sind Gast­kin­der. »Uns war schnell klar, dass wir jeman­den auf­neh­men, sobald wir Platz hätten«, erzählt Manuel Krause. Genau wie seine Frau Mela­nie arbei­tet er in der Behin­der­ten­hilfe der Zieg­ler­schen. Dort erfuh­ren sie vom Kon­zept der Gast­fa­mi­lien und waren Feuer und Flamme. Vor sechs Jah­ren stellte sich Fran­ziska Görgen zum Pro­be­woh­nen vor – es passte sofort. Drei Jahre später zog Leon Gei­ger ein, damals 19, als sechs­tes Fami­li­en­mit­glied. Am Orts­rand von Wil­helms­dorf leben nun alle unter einem Dach: Fran­ziska und Leon, beide mit Assis­tenz­be­darf und daher betreu­ungs­bedürftig, und die bei­den leib­li­chen Kin­der Johanna, 4, und Jakob, 7. Alle haben ihre eige­nen Zim­mer, alle sind in die Pflich­ten und Freu­den des Fami­li­en­all­tags ein­ge­bun­den. Fran­ziska und Leon packen selbst­verständlich mit an. »Für unsere Kin­der sind sie wie Geschwis­ter«, sagt Mela­nie Krause. Und Fran­ziska und Leon emp­fin­den das ebenso. Urlaub macht die Fami­lie gemein­sam.

Und Weih­nach­ten? Da teilt sich die sechs auf. Hei­ligabend und Sil­ves­ter fei­ern die Gast­kin­der bei ihren leib­li­chen Eltern, zumin­dest in den letz­ten Jah­ren war das immer so. Dafür wird bei Krau­ses die Advent­s­zeit umso inten­si­ver gefei­ert. »Wir bas­teln zusam­men, backen Plätzchen, es kommt auch der Niko­laus«, erzählt Mut­ter Mela­nie. Und wenn Fran­ziska und Leon dann heim­fah­ren, sind auch immer selbst­ge­bas­telte Geschenke für die »Ursprungs­fa­mi­lie« im Gepäck. »Da sind die bei­den ganz stolz drauf.«

Aktu­ell gibt es bei den Zieg­ler­schen neun sol­cher Gast­fa­mi­lien. Zehn Men­schen mit Behin­de­rung haben dort ihr Zuhause. Wenn man Krau­ses fragt, warum sie das tun, kommt die Ant­wort post­wen­dend: »Es macht uns ein­fach Freude, Men­schen glücklich zu machen, die Hilfe brau­chen.«

Sze­nen­wech­sel: In Ravens­burg hat Anna Möhrle gerade die Post durch­ge­se­hen. Die 26-Jährige ist Assis­ten­tin der Geschäftsführung im Hör-Sprach­zen­trum. Heute ist kein Fehlläufer dabei. Anna bekommt immer noch manch­mal Post, die eigent­lich für ihre Mut­ter bestimmt ist. Mut­ter Ber­na­dette Möhrle ist seit 1993 bei den Zieg­ler­schen. Sie hat in ver­schie­de­nen Abtei­lun­gen gear­bei­tet, im Rech­nungs­we­sen, in der Bau­ab­tei­lung, am Empfang – und ist seit fünf Jah­ren wie­der im Rech­nungs­we­sen. Dass mit Anna und Ber­na­dette Möhrle zwei Fami­li­en­mit­glie­der bei den Zieg­ler­schen arbei­ten, ist ihr zu ver­dan­ken. Nach der Schule stand Toch­ter Anna vor der Frage, wo es beruf­lich hin­ge­hen soll. »Auf kei­nen Fall ins Büro!«, war sie sich sicher. Doch Mut­ter Möhrle kennt ihre Toch­ter bes­ser. »Anna ist jemand, der gerne mit Men­schen zusam­men­ar­bei­tet. Also schlug ich ihr vor: Mach doch ein­fach ein Prak­ti­kum bei den Zieg­ler­schen.« Das Vor­ha­ben gelingt. Und Anna gefällt es. Die Zieg­ler­schen bie­ten ihr eine Aus­bil­dung an – und einen Stu­dien­latz an der Dua­len Hoch­schule. Anna ent­schei­det sich für die Aus­bil­dung: Kauf­frau für Büroma­na­ge­ment. 2018, direkt nach dem Abschluss, steigt sie als Assis­ten­tin der Geschäftsführung im Hör-Sprach­zen­trum ein. »Toll war, dass ich vor Arbeits­be­ginn eine drei­mo­na­tige Aus­zeit neh­men durfte, in der ich durch Südostasien gereist bin.«

Toll ist auch, dass ihre Stelle schnell mit inter­essan­ten Pro­jek­ten und mehr Verant­wor­tung ange­rei­chert wird. »Man wird hier gehört und hat Ent­wick­lungsmöglich­kei­ten«, fasst die 26-Jährige zusam­men. Und Ber­na­dette Möhrle bekräftigt: »Ich bin froh, dass Anna da gelan­det ist, wo sie jetzt ist. Für uns ist es hier bei den Zieg­ler­schen eine Erfolgs­ge­schichte. Ich habe vier Kin­der großgezo­gen, konnte meine Arbeits­zei­ten immer dar­auf abstim­men. Ich habe hier viele Frei­hei­ten und ein gutes Gehalt.« Natürlich hat sie sich in den 20 Jah­ren auch woan­ders umge­schaut. »Aber andere konn­ten von den Arbeits­zei­ten und vom Gehalt her nicht mit den Zieg­ler­schen mit­hal­ten.«

Und wie ist es, als Mut­ter und Toch­ter Kol­le­gin­nen zu sein? »Anfangs wurde ich viel mit Mama ver­gli­chen und zum Bei­spiel auf meine ähnli­che Stimme ange­spro­chen«, erzählt Anna. Ansons­ten böte der gemein­same Arbeits­platz viel Gesprächss­toff. »Anna gibt mir immer mal einen Hin­weis, dass eine wich­tige Info im Intra­net zu fin­den ist. Da bin ich meist dank­bar«, berich­tet Mut­ter Ber­na­dette. Und ihre Toch­ter ergänzt lachend: »Wir tren­nen nicht so arg zwi­schen pri­vat und beruf­lich. Es muss ja nicht unterm Christ­baum sein.«

Anna und Ber­na­dette Möhrle sind nicht das ein­zige Mut­ter-Toch­ter-Gespann in den Zieg­ler­schen. Auch ander­wei­tig fin­det sich diese beson­dere Kon­stel­la­tion: Gabri­ela Doe­ring-Rich­ter und ihre Toch­ter Chiara-Annika arbei­ten beide im Senio­ren­zen­trum Men­gen – die Mut­ter als Fach­kraft für Alten­pflege, die Toch­ter als Lei­tung der Sozia­len Betreu­ung. Beide haben 2018 dort gemein­sam eine Aus­bil­dung zur Alten­pfle­ge­rin bzw. zur All­tags­be­glei­te­rin gemacht. Im Gegen­satz zu den Möhrles ver­su­chen beide, Beruf und pri­vat zu tren­nen. »Bei der Arbeit klappt das prima und wir sind dann ein­fach Kol­le­gin­nen«, erzählt Chiara Rich­ter. Nach Fei­er­abend gelingt es meist auch. Eine beson­dere Her­aus­for­de­rung ent­stand aber, als die zwi­schen­zeit­lich ver­stor­bene Mut­ter und Oma zur Tagespflege ins Senio­ren­zen­trum kam. Plötzlich waren drei Gene­ra­tio­nen der Fami­lie im Haus. »Da war es deut­lich schwie­ri­ger, sie wie alle ande­ren zu behan­deln und nicht zu bevor­zu­gen«, erin­nert sich Chiara-Annika. Aber auch das hat das Mut­ter-Toch­ter-Team gut gemeis­tert.

»Fami­lie umfasst alle Eltern-Kind-Gemein­schaf­ten, das heißt Ehe­paare, nicht­ehe­li­che (gemischt- und gleich­ge­schlecht­li­che) Lebens­ge­mein­schaf­ten sowie Allein­er­zie­hende &hel­lip; Ein­be­zo­gen sind auch Stief-, Pflege- und Adop­tiv­kin­der ohne Alters­be­gren­zung.« So rech­net das Sta­tis­ti­sche Bun­des­amt – und kommt auf der­zeit 11,6 Mil­lio­nen Fami­lien in Deutsch­land. Jede zählt im Schnitt 3,42 Mit­glie­der.

Fami­lie ist da, wo Kin­der sind, ist ein gängi­ges Schlag­wort der Poli­tik. Viel­leicht ist diese Defi­ni­tion ein biss­chen eng. Denn Johan­nes Zieg­ler, der erste Zieg­ler in Wil­helms­dorf, mag mit sei­ner Frau Mat­hilde zwar kin­der­los gewe­sen sein. Doch im ober­schwäbischen Wil­helms­dorf schar­ten die bei­den Stück für Stück eine Großfami­lie um sich. Drei Brüder hatte Johan­nes Zieg­ler: Peter, Jakob und Matthäus. Alle drei ließen sich in Wil­helms­dorf nie­der. Sie schlu­gen Wur­zeln, gründe­ten Fami­lien, stell­ten sich in den Dienst »der Anstal­ten«. Und sorg­ten mit dafür, dass aus einer Schule für Taub­stumme das heu­tige Unter­neh­men »Die Zieg­ler­schen« wurde – mit rund 3.350 Mit­ar­bei­ten­den und Hil­fe­an­ge­bo­ten an 60 Stand­orten in ganz Baden-Württem­berg. An ein Fami­li­en­un­ter­neh­men erin­nert hier heute so gut wie nichts mehr. Nur manch­mal blitzt die Erin­ne­rung an die Anfänge auf: Wenn man am Haupt­sitz Wil­helms­dorf oder in der Mit­ar­beiter­schaft auf den Namen Zieg­ler stößt, zum Bei­spiel. Und so sel­ten pas­siert das nicht ...

Doch nicht immer ist das, was von außen wie Fami­lie aus­sieht, auch tatsächlich eine. Wie etwa in der Jugend­hilfe der Zieg­ler­schen. Ersatz­fa­mi­lie? »Nein«, meint Ute Wolf, Erzie­he­rin in einer Außenwohn­gruppe in Ravens­burg. »Das sind wir nicht. Ich finde den Begriff eher irri­tie­rend, denn die Kin­der und Jugend­li­chen haben ja ihre Fami­lien daheim.« Aktu­ell betreut sie sie­ben Mädchen zwi­schen elf und 18 Jah­ren. Alle fah­ren regelmäßig am Woche­n­ende nach Hause. Den­noch: einen gewis­sen familiären Cha­rak­ter habe das Leben in der Wohn­gruppe schon. »Wir wol­len den Kin­dern und Jugend­li­chen ja ein nor­ma­les Leben­sum­feld geben – und wir Erzie­he­rin­nen und Erzie­her neh­men da dann und wann auch so eine Art Eltern­rolle ein.«

Also läuft in einer Wohn­gruppe eben doch vie­les ähnlich, wie man es auch im eige­nen Zuhause machen würde – auch und gerade in der Vor­weih­nachts­zeit. Gemein­sam wer­den die Räume weih­nacht­lich geschmückt und Plätzchen geba­cken: »Die Kin­der haben sehr viel Spaß daran!« Gleich­zei­tig gehöre diese Zeit aber auch zu den anstren­gends­ten im Jahr. »Für viele die­ser Kin­der ist die Weih­nachts­zeit emo­tio­nal schwer belas­tend: Da sind die Ansprüche der Eltern an die Kin­der, die Angst, die­sen Ansprüchen nicht zu genügen, der dar­aus fol­gende Stress«, erläutert die Erzie­he­rin. Was da hilft? Reden, und: »Manch­mal auch, dass die Kin­der nur zu Hei­ligabend nach Hause fah­ren.« Im Mar­tins­haus ist ja immer jemand da, denn: »Wir haben auch Kin­der, die gar nicht nach Hause fah­ren können«, erzählt Ute Wolf. Und da wird dann »rich­tig« Weih­nach­ten gefei­ert: Es gibt einen Baum, alle machen sich schick, ein lecke­res Essen kommt auf den Tisch. Und es gibt Geschenke. »Und so können wir gemein­sam das Weih­nachts­fest ent­spannt fei­ern.«

Während in der Jugend­hilfe also fami­lienähnli­che Gemein­schaf­ten auf Zeit ent­ste­hen, machen anderswo Men­schen nach, was Johan­nes Zieg­ler vor­ge­macht hat. Ein Fami­li­en­mit­glied wird sess­haft – wei­tere kom­men nach. Zum Bei­spiel die Fami­lie Gashi aus dem Kosovo. Ange­fan­gen hat alles mit Fat­lum Gashi. 2017 fin­det er über das inter­na­tio­nale Aus­bil­dungs­pro­jekt der Dia­ko­nie den Weg ins Ess­lin­ger Katha­ri­nen­stift der Zieg­ler­schen. Vor fünf Jah­ren begann er seine Aus­bil­dung zum Alten­pfle­ger, heute arbei­tet er hier als Fach­kraft. Zwei Jahre später kommt sein Bru­der Fat­lind nach, macht Bun­des­frei­wil­li­gen­dienst und beginnt dann eben­falls eine Aus­bil­dung. Inzwi­schen sind die Gashis im Katha­ri­nen­stift zu sechst: Fat­lum und Fat­lind, Schwes­ter For­tesa und die Cous­ins Adi­lon, Die­don und Ardi­jan. Was ungewöhnlich klingt, ist bei den Zieg­ler­schen gar nicht so sel­ten. Von der­zeit 91 Mit­ar­bei­ten­den aus dem Kosovo sind allein 18, also rund ein Fünftel, nach­ge­holte Fami­li­en­an­gehörige. Wie ist es mit einer Großfami­lie im Team? Manch­mal schwie­rig? »Über­haupt nicht«, fin­det Mario Ceca­vac, Ein­rich­tungs­lei­ter im Katha­ri­nen­stift. »Ganz im Gegen­teil. Alle pas­sen super ins Haus, sind hilfs­be­reit, sprin­gen oft für die Kol­le­gen ein und sind sehr beliebt.« Diese Beliebt­heit dürfte sich jetzt sogar noch stei­gern. Denn weil im Kosovo kein Weih­nach­ten gefei­ert wird, steht der Name Gashi während der Fei­er­tage beson­ders oft im Dienst­plan. Erst ges­tern habe er Fat­lind auf dem Flur getrof­fen, berich­tet Mario Ceca­vac. »Wenn Sie Weih­nach­ten noch jeman­den brau­chen«, habe die­ser gesagt: »Ich bin da.«

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Familienbande bei den Zieglerschen: Gabriele Doering-Richter (l.) und Tochter Chiara-Annika arbeiten beide im Seniorenzentrum Mengen.

Ersatzfamilie? Nein, das sind die Wohngruppen der Jugendhilfe nicht. Aber manches läuft doch eben so, wie man es zu Hause machen würde.

Fatlind (l.) ist einer von sechs Gashis im Katharinenstift. Hier mit seinem Chef Mario Cecavac (m.) bei einer Messe.