Titelthema
April 2022
Weltoffenheit
Sie kommen von weit her. Sie sind herzlich willkommen. Und sie werden immer mehr. Menschen aus 74 fremden Ländern, die bei den Zieglerschen in der Pflege arbeiten. Eine Erfolgsgeschichte.
Text: Stefan Wieland, Nicola Philipp , Jacqueline de Riese, Annette Scherer
Sie lassen Familie und Freunde zurück. Sie kommen von weit her. Und sie fangen hier ganz neu an. Die Rede ist von jungen Frauen und Männern, die in Deutschland eine Ausbildung zur Altenpflegefachkraft beginnen. Über das sogenannte Kosovo-Projekt der Diakonie sind bereits 519 junge Menschen nach Baden-Württemberg gekommen. Die 500., Rafaella Markaj, arbeitet bei den Zieglerschen. Was mit dem Kosovo begann, ist längst auf weitere Länder ausgeweitet. Und die Zieglerschen, seit fünf Jahren dabei, haben in Zeiten eklatanten Fachkräftemangels bereits 91 Azubis gewonnen. Grund genug, dem Thema einmal genauer nachzugehen.
Amjeta Zeqiraj ist zufrieden. Und ein bisschen stolz ist sie auch. Vor wenigen Monaten hat die 26-Jährige ihre Ausbildung beendet und ist nun frisch examinierte Pflegefachkraft im Seniorenzentrum Baltmannsweiler. 2018, vor gut dreieinhalb Jahren, kam sie aus ihrer Heimatstadt Deçan im Westen Kosovos nach Deutschland. Hier hat sie im Rahmen des sogenannten Kosovo-Projekts ihre Ausbildung gemacht. Ein Glücksfall – für sie, vor allem aber auch für die Zieglerschen.
Im Unterschied zu vielen Landsleuten, die den Anfang in Deutschland als sehr schwer erlebten, hatte die junge Frau sofort einen guten Eindruck von ihrem neuen Zuhause. »Ich habe gleich gemerkt, dass die Lebensqualität hier gut ist«, sagt sie. Auch wenn das Wetter, wie sie lachend einschränkt, im Kosovo in der Regel besser sei. Was Deutsche selbst eher als Klischee empfinden, Amjeta Zeqiraj erlebt es so: die Deutschen seien fleißig, korrekt und ruhig. Das gefällt ihr. Nur die Bürokratie findet sie manchmal anstrengend. Alles in allem jedoch nur ein kleiner Wermutstropfen, die Arbeit mache ihr Spaß. »Mir geht es gut bei der Arbeit. Ich verstehe mich sowohl mit den Seniorinnen und Senioren als auch mit meinen Kolleginnen und Kollegen gut.« Und nach der Arbeit? »Da habe ich viel Zeit für meine Hobbys.« Das Fazit der begeisterten Fußballspielerin: Sie sei in Deutschland angekommen, auch wenn ihr die Familie fehle. Umso dankbarer war sie, dass sie das vergangene Weihnachtsfest im Familienkreis ihrer Chefin Sieglinde Holzinger feiern konnte.
Was ihr beim Heimweh auch hilft: Sie ist nicht die einzige Kosovarin im Seniorenzentrum Baltmannsweiler. Fünf weitere junge Frauen arbeiten dort in der Pflege und unterstützen das Team vor Ort – entweder noch in der Ausbildung wie Rafaella Markaj, die als 500. Auszubildende aus dem Kosovo in Deutschland willkommen geheißen wurde, oder schon examiniert wie Amjeta Zeqiraj und Vjosa Xhemajli. Nach drei lernintensiven Jahren genießt auch die 31-Jährige Vjosa die Früchte ihrer Arbeit: einen festen Vertrag in Vollzeit. Ihren nächsten Schritt, sich weiterzubilden, zieht sie in Erwägung. Und wie fühlt sie sich in Baltmannsweiler? »Sehr wohl. Am Anfang hat es mir im Dorf nicht gefallen, denn im Kosovo habe ich in der Stadt gewohnt. Aber jetzt genieße ich die Ruhe, den kurzen Weg zur Arbeit und dass es hier so sauber ist«, sagt sie und lacht.
Szenenwechsel und Rückblick. Slavica Tillich ist Einrichtungsleiterin im Seniorenzentrum Aitrach. Sie erinnert sich noch gut an den Start des Kosovo-Projekts in den Zieglerschen im Jahr 2017. Drei Jahre zuvor hatte das Diakonische Werk Württembergs (DWW) das Ausbildungsprojekt ins Leben gerufen (siehe Kasten Seite 12). In der Altenhilfe hatte man das mit Interesse verfolgt. Damals flog sie selbst mit einer Delegation nach Pristina und hatte anschließend zwei junge kosovarische Damen als neue Azubis im Haus. »Wir hatten zu der Zeit keine einzige Bewerbung auf unsere Ausbildungsstellen und haben uns daher riesig über unsere neuen Kolleginnen aus dem Kosovo gefreut«.
Bis es so weit war, dass die jungen Auszubildenden am Flughafen abgeholt werden konnten, waren jedoch zahlreiche praktische Hürden und Herausforderungen zu bewältigen, erzählt sie, an erster Stelle die sprachlichen. Aber auch kulturelle, weil sehr viele der neuen Kolleginnen und Kollegen einen muslimischen Hintergrund haben und nicht zu vergessen: die ganz praktischen. »Wir haben damals in unserer Freizeit und über private Kontakte Wohnungen organisiert, die von der Altenhilfe gemietet wurden. Wir haben Möbel, Elektrogeräte, Handtücher und vieles mehr besorgt und die Wohnungen damit ausgestattet. Und weil die jungen Menschen abends angekommen sind, haben wir auch gleich die Kühlschränke gefüllt und Brot eingekauft, damit sie nicht hungrig ins Bett gehen mussten«, erzählt die engagierte Einrichtungsleiterin. Wenn sie von ihren Erfahrungen spricht, schwingt – trotz aller Anstrengungen, die sie klar benennt – auch Stolz in ihrer Stimme mit.
Persönliches Engagement, quasi ein individuelles Integrationsprogramm – ist es das, was dieses Projekt für die Zieglerschen und die Diakonie so erfolgreich macht? Denn von anderen Trägern ist zu hören, dass sie keine Pflegekräfte mehr aus anderen Ländern rekrutieren – Kosten und Aufwand seien zu hoch, der Erfolg gering, die Sprachbarrieren enorm und viele hätten Heimweh.
Ja, ohne persönliches Engagement geht es nicht. Das bestätigt auch Nicole Findeiß, seit Jahresbeginn Einrichtungsleiterin im Seniorenzentrum Mengen. Sie war frisch als Pflegedienstleitung im Amt, als sie mit zum Flughafen fuhr, um die neuen Kolleginnen und Kollegen aus der Ferne zu begrüßen. »Mir hat es damals sehr imponiert, wie sich das Team hier ins Zeug gelegt hat, selbst in der Freizeit«, erinnert sie sich. Erst habe man Wohnungen gesucht und eingerichtet, dann Sprachkurse organisiert und schließlich noch ein Besuchsprogramm auf die Beine gestellt. Dabei sei ein Satz immer wieder gefallen: »Bitte redet deutsch, versucht euch auf die schwäbische Mentalität einzulassen und fragt, wenn ihr etwas nicht versteht.« Gab es gegenüber den »Neuen« auch Vorbehalte bei Bewohnern oder Angehörigen? »Manche Bewohner hatten zuerst gewisse Vorbehalte gegenüber dunkelhäutigen Mitarbeitern. Das hat sich aber schnell gelegt, als sie gemerkt haben, wie fleißig, angenehm und nett die Neuen waren«, erzählt Nicole Findeiß.
»Ich habe die verschiedenen Mentalitäten und Kulturen damals als sehr herausfordernd erlebt«, gesteht Slavica Tillich im Rückblick. »Man muss viel Verständnis haben, integrieren und oft einfach auch menschliche Unterstützung anbieten – einige unserer jungen Mitarbeitenden hatten anfangs starkes Heimweh.« Gleichzeitig habe sie auch erlebt, dass »Multikulti« das Betriebsklima belebe und die Integrationsschwierigkeiten schnell bewältigt werden konnten. »Viele unserer ersten ausländischen Azubis sind inzwischen flügge geworden, haben einen Partner in Deutschland gefunden und wohnen jetzt in ihren eigenen Wohnungen. Wir haben ihnen nur beim Start in Deutschland geholfen«, ergänzt Nicole Findeiß. Und sie bekräftigt: »Für dieses Projekt muss man brennen, damit es funktioniert!«
Dafür brennen, damit es funktioniert – das kann Johannes Flothow zu 100 Prozent bestätigen. Flothow, schmales Gesicht, weißer Bart, sanfte Stimme, ist seit 40 Jahren Referent für Internationale Diakonie beim DWW. Mit dem Kosovo hat er seit dem Balkankrieg zu tun, damals organisierte er fürs DWW Hilfsaktionen für Flüchtlinge. Seit Kriegsende 1999 setzt er sich für den Wiederaufbau des kleinen Landes ein. Flothow kennt die Situation vor Ort und er kennt die Perspektivlosigkeit vor allem für junge Leute. »Auch gut 20 Jahre nach dem Krieg gibt es im Kosovo kaum Arbeit. Die Arbeitslosenrate unter jungen Menschen liegt bei über 60 Prozent«, berichtet der 68-Jährige. »Viele junge Kosovaren absolvieren ein Studium nach dem anderen, doch am Ende stehen sie vor dem beruflichen Nichts. Deshalb haben wir uns gefragt: Was können wir tun? Wie können wir ihnen eine faire Arbeitsmigration ermöglichen?« So entstand das deutschlandweit einzigartige Kosovo-Projekt, dessen Konzept eine Projektgruppe um Johannes Flothow entwickelt hat. 2014 verließen erstmals 25 junge Menschen aus dem Balkanland ihre Heimat, um in Baden-Württemberg eine Ausbildung zur Altenpflegefachkraft zu beginnen. 24 von 25 haben die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen.
Heute ist das Projekt eine Erfolgsgeschichte und hat sich vom »Kosovo-Projekt« zum Internationalen Ausbildungsprojekt gemausert. Allein die Zieglerschen konnten darüber seit 2017 insgesamt 91 Azubis gewinnen – neben dem Kosovo kommen sie mittlerweile auch aus Bosnien-Herzegowina, Albanien, Armenien und der Ukraine.
Für Sebastian Köbbert, Geschäftsführer in der Altenhilfe der Zieglerschen, war es eine strategische Entscheidung, sich an diesem Projekt zu beteiligen. »Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen wird auch in Baden-Württemberg in den kommenden Jahren weiter ansteigen. Der daraus resultierende Mehrbedarf an Fachkräften beläuft sich allein für den Südwesten auf rund 4.000 Mitarbeitende.« Dem mit »Weltoffenheit« zu begegnen, findet er gut. »Nachdem viele Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer die Ausbildung mittlerweile erfolgreich abgeschlossen haben und als Pflegefachkräfte bei uns tätig sind, kann das als echte Erfolgsgeschichte bezeichnet werden«, bilanziert Köbbert. Und ergänzt: »So konnte beispielsweise die Gesamt-Auszubildendenzahl deutlich erhöht werden. Gleichzeitig wurde der Einsatz von externem Leasingpersonal in den letzten drei Jahren signifikant reduziert. Besonders freuen wir uns, dass sich unsere ehemaligen Auszubildenden nun auch mit dem Wunsch einer Weiterqualifizierung für Leitungsaufgaben an uns wenden. Das unterstützen wir sehr gerne!«
Etwa 50 Kilometer entfernt von Sebastian Köbberts Schreibtisch wartet Mina Kleeblatt, 87 Jahre. Sie wird im Martinshaus in Kirchentellinsfurt gepflegt. Dass die jungen Menschen ihre Heimat verlassen, um in Deutschland eine Ausbildung zu machen, beeindruckt sie. »Dies muss ein großer Schritt sein – sie verlassen ja ihre Familien, Freunde und ihr Zuhause«. Das Miteinander mit den ausländischen Auszubildenden sei »sehr gut«. »Sie sind immer sehr freundlich und ausgesprochen zuvorkommend. Ich finde es spannend, wenn sie von ihrer Heimat erzählen.« Dass es anfangs ein wenig mit der Sprache hapere, sei nicht schlimm. »Viel wichtiger ist doch ein guter Charakter und ein empathisches Wesen. Die Chemie muss stimmen«, betont sie. Die sprachlichen Barrieren würden sich mit der Zeit legen – und bei den schwäbischen Begriffen hilft die alte Dame gerne aus, sagt sie und lacht. »Hauptsache, die jungen Leute bewahren ihre Offenheit und Neugier und fragen immer nach, wenn sie etwas nicht verstehen.«
Diesem Rat kann sich Annette Jüngling, Referentin für Ausbildung in der Altenhilfe, nur anschließen. Sie wertet für die Zieglerschen das internationale Ausbildungsprojekt mit Hilfe von Praxisrückmeldungen aus. Dabei kommt auch sie zu dem Schluss, dass die Sprachbarriere die größte Herausforderung ist. »Das Sprachdefizit kann und muss im Team aufgefangen werden – ich bin mir aber sicher, dass sich dieser Aufwand lohnt.« Denn immer wieder wird ihr gespiegelt, dass die Pflegeschülerinnen und Pflegeschüler durch Zielstrebigkeit, hohe Motivation und Empathie überzeugen. Von deren respektvollem und freundlichem Umgang ließen sich auch die meisten Seniorinnen und Senioren – siehe Mina Kleeblatt – sehr schnell einnehmen. Unterm Strich steht daher für Annette Jüngling ein klares Fazit: »Unsere Azubis mit Migrationshintergrund sind ein Gewinn für unser Unternehmen, für die Kolleginnen und Kollegen sowie die Klienten.«
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In Deutschland angekommen, auch wenn die Familie fehlt: Amjeta Zeqiraj (rechts) ist frisch examinierte Pflegefachkraft in den Zieglerschen.
Erfolgsgeschichte »Kosovo-Projekt«: Rafaella Markaj, 19, ist die 500. Auszubildende aus dem Balkanland. Sie arbeitet bei den Zieglerschen.
Mina Kleeblatt, 87: »Hauptsache, der Charakter stimmt. Bei schwäbischen Begriffen helfe ich gerne aus.«