»Ein Helfersyndrom habe ich nicht«

Porträt

»Ein Helfersyndrom habe ich nicht«

Jochen Hallanzy

Porträt

September 2022

Jochen Hallanzy, 63, hat 30 Jahre als Schulleiter der Schule am Wolfsbühl in Wilhelmsdorf gewirkt. Er hat die lange Tradition Wilhelmsdorfs als fachlicher Leuchtturm der Hörgeschädigtenpädagogik in Südwürttemberg bewahrt und weiterentwickelt – zuletzt mit der Überführung des Förderschwerpunkts Hören an die Leopoldschule Altshausen. Mit Ende des Schuljahrs verabschiedete er sich in den Ruhestand. Das Porträt.

Text: Claudia Wörner

Bereits als Jugend­li­cher hat Jochen Hallanzy erfah­ren, dass es ihm liegt, Kin­der anzu­lei­ten und zu etwas hin­zuführen. »Nach mei­ner Kon­fir­ma­tion habe ich mit der kirch­li­chen Jugend­ar­beit begon­nen und sie hat mir sehr viel Spaß gemacht«, erin­nert er sich. Für ihn sei schnell klar gewe­sen, dass es ihn beruf­lich ins Lehr­amt ziehe. Am Gym­na­sium habe er aller­dings den per­ma­nen­ten Zeit­druck der Leh­rer erlebt und ihm sei bewusst gewor­den, dass er das nicht will. »Um in klei­nen Klas­sen mehr Zeit für den ein­zel­nen Schüler zu haben, wählte ich die Son­derpädago­gik«, schil­dert Hallanzy. Dass sein Vater eben­falls Son­derpädagoge war, habe seine Berufs­wahl sicher auch mit beein­flusst.

Bis heute habe er das Bedürfnis, Schwäche­ren unter die Arme zu grei­fen, auch außerhalb der Schule. »Ein Hel­fer­syn­drom habe ich aber nicht«, betont Hallanzy. Bedeute es doch, dass man sich zu sehr ver­ein­nah­men lasse und nicht mehr auf sich selbst achte. Eher sieht er sich als Ret­tungs­schwim­mer. »Auf Abstand blei­ben. Erst wenn der Mensch in Not vorm Unter­ge­hen ist, hilft er. Sonst ertrinkt er selbst.«

Zum Stu­dium ging es für den gebürti­gen Lud­wigs­bur­ger nach Reut­lin­gen an die Pädago­gi­sche Hoch­schule. Dort legte er bis 1984 in den Fächern Lern­be­hin­der­tenpädago­gik und Sprach­heilpädago­gik das Staats­ex­amen ab. Nach dem Refe­ren­da­riat kam Hallanzy 1986 an die dama­lige Gehörlo­sen­schule nach Wil­helms­dorf. »Bewor­ben hatte ich mich am Sprach­heil­zen­trum in Ravens­burg, aber in Wil­helms­dorf war eine Stelle frei«, blickt er zurück. Seine Frau Hei­drun stu­dierte damals noch in Tübin­gen Psy­cho­lo­gie.

Eine Woche Bedenk­zeit haben sich die Hallan­zys erbe­ten als sie 1992 gefragt wur­den, ob sie den Stand­ort der Schule am Wolfsbühl als Hau­s­el­tern lei­ten wol­len. »Damit ver­bun­den war, rund um die Uhr für alles – von den Kin­dern über das Haus bis zum Geld – ver­ant­wort­lich zu sein«, berich­tet er. Aus heu­ti­ger Sicht würden man­che sagen, dass dies eine wahn­sin­nige Über­for­de­rung gewe­sen sei. Zusam­men mit sei­ner Frau habe er damals aber gedacht: »Wir sind jung, wir krie­gen das hin.« Glückli­cher­weise hätten sie in der Zeit bis 2005 als Hau­s­el­tern keine falschen Ent­schei­dun­gen getrof­fen. Die schein­bare Über­for­de­rung habe manch­mal auch viel Zeit gespart, die heute für Kom­mu­ni­ka­tion auf­ge­wendet werde. Die gemein­same Arbeit als Ehe­paar habe Hallanzy als posi­tiv erlebt und genos­sen. »Wir haben uns gegen­sei­tig immer gut unterstützt.«

1999 gab es bei den Zieg­ler­schen ein­schnei­dende Verände­run­gen. So wur­den die Haus­wirt­schaft und Haus­meis­te­rei zen­tra­li­siert. Für Hallanzy, nach wie vor Fach­schul­di­rek­tor der Schule am Wolfsbühl, zunächst ein schmerz­haf­ter Pro­zess. Ab 2005 wur­den die Auf­ga­ben der Hau­s­el­tern auf Schul­lei­ter und Inter­nats­lei­te­rin ver­teilt. Hallanzy gab den Abtei­lungs­lei­tern des Inter­nats, der Grund- und Wer­kre­al­schule, der Förder­schul­ab­tei­lung des Schul­kin­der­gar­tens sowie der Haus­wirt­schaft mehr Kom­pe­ten­zen und erwei­terte ständig ihre Auf­ga­ben. »Ich hatte ein Lei­tungs­team, auf das ich mich voll und ganz ver­las­sen konnte«, sagt er wenige Tage vor sei­ner Pen­sio­nie­rung. Im Laufe von 30 Jah­ren an der Schule am Wolfsbühl habe es natürlich auch die eine oder andere Krise gege­ben. »Aber unterm Strich über­wog das Schöne und ich wollte nie wech­seln.«

Beson­ders viel Freude habe ihm der Umgang mit den Kin­dern und den Kol­le­gen berei­tet. Am Ende sei­nes Berufs­le­bens stand der Wech­sel der Wer­kre­al­schule und des Förder­schwer­punkts Hören von Wil­helms­dorf an die Leo­pold­schule in Alts­hau­sen. »Eine schwie­rige und auch schmerz­hafte Phase, bedeu­tete es doch für uns, sechs Klas­sen und vier­zehn Kol­le­gen zu ver­lie­ren«, schil­dert er. Letzt­lich hätte ihm das jedoch den Abschied etwas leich­ter gemacht.

Jetzt, im Ruhe­stand, möchte sich Hallanzy in ers­ter Linie auf seine Fami­lie und die vier Enkel kon­zen­trie­ren. »Mein Plan ist, zu Hause die Regie zu über­neh­men«, erklärt er lachend. Da er als Schul­lei­ter durch­weg eine 150- bis 200-Pro­zent-Auf­gabe hatte, sei der Haus­halt in klas­si­scher Rol­len­ver­tei­lung in der Verant­wor­tung sei­ner Frau gewe­sen. »Das ändert sich jetzt und meine Frau, die ja noch arbei­ten möchte, gibt diese Arbeit gern an mich ab.« Dane­ben freue er sich auf ein gemütli­ches Leben ohne Hek­tik.