Titelthema

Dezember 2023

Erinnerungen

Wir tragen sie in uns. Sie prägen uns. Sie machen uns zu dem, was wir sind: Erinnerungen. Woran erinnern sich Menschen in den Zieglerschen? Eine Rundreise.

Text: Volkmar Schreier

»Man­ches, was man erlebt hat, erhält sei­nen Sinn erst nach vie­len Jah­ren. Und vie­les, was uns später geschieht, bliebe ohne die Erin­ne­rung an unsre Kind­heit so gut wie unverständlich«, schreibt Erich Kästner in »Als ich ein klei­ner Junge war«. Erin­ne­run­gen prägen uns und machen uns zu dem, was wir heute sind. Sie können flüch­tig sein und ver­schwin­den. Sie las­sen sich fest­hal­ten, indem sie auf­ge­schrie­ben wer­den. Und sie können wie­der leben­dig wer­den: Im Gespräch, in Erzählun­gen, in unverfängli­chen Momen­ten. Wir haben Erin­ne­run­gen gesam­melt – aus den Zieg­ler­schen und an die Zieg­ler­schen &hel­lip;

Wenn alles gut­geht, dann wird Char­lotte Kretsch­mann, der älteste Mensch Deutsch­lands, in die­sem Moment die ers­ten Tage ihres 114. Lebens­jah­res erle­ben. Die fas­zi­nie­rende Frau, am 3. Dezem­ber 1909 in Bres­lau gebo­ren, ist im letz­ten Jahr zum Medien­star gewor­den. Viele Inter­views hat sie gege­ben, viel hat sie von sich erzählt. Eini­ges davon haben wir für diese Geschichte über­nom­men. Seit fast zehn Jah­ren lebt die ele­gante alte Dame im Hen­ri­et­ten­stift Kirch­heim, das zu den Zieg­ler­schen gehört. Sie hat den Kai­ser erlebt, die Nazis, zwei Kriege, Flucht, Ver­trei­bung und einen Neu­an­fang in Stutt­gart. Mit kla­rer Spra­che, nur gele­gent­lich sto­ckend, erzählt Char­lotte Kretsch­mann aus ihrem Leben. 114 Jahre Erin­ne­run­gen, 114 Jahre Zeit­ge­schichte. Man kann es kaum glau­ben.

Johan­nes Ehris­mann, Refe­rent für Theo­lo­gie und Ethik bei den Zieg­ler­schen, inter­es­siert sich für Erin­ne­run­gen. Der Theo­loge und neu­er­dings Mode­ra­tor des Fern­seh-Got­tes­diens­tes »Stunde des Höchs­ten« hat seine Neu­gier in den Beruf ein­ge­bracht und ist, wenn ihm Zeit dafür bleibt, ein Geschich­ten­samm­ler. Er spricht mit Men­schen in den Zieg­ler­schen und schreibt deren Erin­ne­run­gen nie­der. »Beson­ders beein­druckt hat mich kürz­lich die Geschichte von Fritz Käppe­ler, der als Fünfjähri­ger nach Wil­helms­dorf kam«, erzählt Ehris­mann. 77 Jahre lang, im Grunde sein gan­zes Leben, sei er bei den Zieg­ler­schen gewe­sen und habe so vie­les persönlich erlebt, was den Ort geprägt hat. »Während des Gespräches habe ich mich gefühlt wie auf einer Reise durch die Ver­gan­gen­heit«, sagt Ehris­mann. Im nächs­ten Jahr, wenn Wil­helms­dorf 200-jähri­ges Jubiläum fei­ert, wer­den diese Geschich­ten eine Rolle spie­len.

Zurück zu Char­lotte Kretsch­mann, denn auch sie wurde von Johan­nes Ehris­mann zu ihren Erin­ne­run­gen befragt. Man kann es sich anse­hen auf www.stunde-des-höchs­ten.de, in der Media­thek. Die älteste Frau Deutsch­lands beein­druckt. Nicht nur durch ihre Präsenz und ihre Persönlich­keit, son­dern durch ihren Blick auf die Welt. »Ich hatte ein schönes Leben – auch wenn ich zwei Kriege durch­ma­chen musste«, zieht sie Bilanz. Schön war vor allem die Kind­heit, schön ist noch heute die Erin­ne­rung an diese Bres­lauer Zeit, die sie als »behütet« beschreibt. »Mein Vater sagte immer: ›Die Kin­der sind klein, die müs­sen alles haben‹«. In die­ser Zeit lernte sie auch ihren späteren Mann ken­nen: Er ein erfolg­rei­cher Sprin­ter, sie eine der bes­ten Läufe­rin­nen ihrer Alter­sklasse. Dann kam der Krieg und riss die junge Fami­lie – inzwi­schen war Toch­ter Sie­grid gebo­ren – aus­ein­an­der. Erst Jahre nach dem Krieg fan­den sie in Stutt­gart wie­der zuein­an­der, wo ihr aus ame­ri­ka­ni­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft ent­las­se­ner Mann Unter­schlupf gefun­den hatte. Wo sie aber auch mit viel Miss­trauen kon­fron­tiert war: »Man hat uns nichts gegönnt. Wir wur­den als Flücht­linge abge­stem­pelt.« Irgend­wann hat sich Char­lotte Kretsch­mann dann doch zu Hause gefühlt in dem Land, des­sen Minis­terpräsident ihren Nach­na­men trägt. Ver­wandt sind die bei­den nicht.

Vor gut 30 Jah­ren starb ihr Mann und danach wollte sie »eigent­lich nicht mehr leben«. Und doch ging es wei­ter, mehr als 20 Jahre in Bad Cann­statt, bevor die Enkel sie nach Kirch­heim hol­ten. Heute fühlt sich Char­lotte Kretsch­mann im Hen­ri­et­ten­stift »see­lisch und körper­lich gut ver­sorgt«. Sie freut sich an den klei­nen Din­gen des Lebens: Einem son­ni­gen Herbst­tag, dem Weih­nachts­baum in ihrem Zim­mer. Und an ihren Enkeln Peter und Jür­gen. Jeden Sonn­tag ist sie abwech­selnd bei einem der bei­den zu Besuch. Mit ihnen fei­erte sie ihren Geburts­tag, auch Weih­nach­ten wird die alte Dame bei ihnen ver­brin­gen. »Ich hoffe, dass ich noch ein biss­chen lebe«, sagt der älteste Mensch Deutsch­lands. »Etwas Schönes ist doch immer dabei.«

Etwas anders sind die Erin­ne­run­gen von Jür­gen Knob­lauch. Der Göppin­ger, gerade 71 gewor­den, kam wegen »man­geln­der schu­li­scher Leis­tun­gen« 1966 ans Mar­tins­haus Klein­to­bel. Was heute die Jugend­hilfe-Ein­rich­tung der Zieg­ler­schen ist, war damals ein klas­si­sches Schul-Inter­nat. Für den 14-jähri­gen Jür­gen, Ein­zel­kind, aus behüte­ten Verhältnis­sen, war der Anfang in Klein­to­bel schwer. »Die ande­ren Jungs waren schon ein Jahr länger da«, erin­nert er sich. »Ich war also ›der Neue‹ und musste mich ein­sor­tie­ren.« So man­che Träne habe er damals ver­drückt, denn der All­tag im Inter­nat war regle­men­tiert: »Auf­ste­hen, Duschen, Zähne­put­zen, Früh­stück.« Und danach »die Woche«, eine haus­wirt­schaft­li­che Auf­gabe, die jeder zu erle­di­gen hatte. »Wir haben früh gelernt, Verant­wor­tung zu tra­gen«, sieht er das heute. Erst danach begann der Unter­richt.

Im Klas­sen­zim­mer »hat sich im Grunde alles abge­spielt«, erzählt Knob­lauch wei­ter, »Schule und Heim waren ja prak­tisch eins«. In beson­de­rer Erin­ne­rung ist ihm die »Lern­stunde« geblie­ben, eine Zeit zwi­schen 16 und 18 Uhr, in der die Haus­auf­ga­ben erle­digt wer­den muss­ten. »Unser Leh­rer war dabei, und man konnte noch­mal nach­fra­gen, wenn man etwas nicht ver­stan­den hatte. Das hat mir sehr gehol­fen.« Und tatsächlich – dank der engen Anlei­tung und Betreu­ung, für die seine berufstätigen Eltern zu Hause keine Zeit fan­den, ging die schu­li­sche Leis­tungs­kurve des Blond­schopfs ste­tig nach oben. Das »Invest­ment« sei­ner Eltern, die Inter­nats­ge­bühren zah­len muss­ten, »für die wir vier VW Käfer hätten kau­fen können«, hatte sich gelohnt.

Nach vier Jah­ren war die Jahr­gangs­stufe von Jür­gen Knob­lauch zu einer ver­schwo­re­nen Gemein­schaft zusam­men­ge­wach­sen. Und das trägt bis heute. Wann immer möglich, orga­ni­siert die Abschluss­klasse von 1970 Klas­sen­tref­fen, in die­sem Jahr bereits zum 31. Mal. Ein fes­ter Pro­gramm­punkt: Besuch im Mar­tins­haus. Das Klas­sen­tref­fen zum 55. Jubiläum ist für 2025 bereits ein­ge­tütet: »Da sehen wir uns wie­der in Klein­to­bel.« Eine schöne Zeit also damals im Mar­tins­haus, wo es doch auch so viele andere Erin­ne­run­gen gibt? Für Knob­lauch, der auch dank der Zeit in Klein­to­bel ein erfolg­rei­ches Leben gelebt hat – er war knapp 30 Jahre als Kran­ken­h­aus­di­rek­tor tätig, hat eine Fami­lie gegrün­det, einen Sohn großgezo­gen und ist mitt­ler­weile zwei­fa­cher Opa –, war das glück­li­cher­weise nie Thema. Auch wenn er einräumt: »Das mensch­li­che Gehirn neigt dazu, die Ver­gan­gen­heit zu glo­ri­fi­zie­ren.«

Gar nicht so weit zurück­den­ken muss Sabrina Hal­ler, wenn es um ihre Schul­zeit geht. »Als Kind konnte ich nicht gut hören und auch nicht gut spre­chen. Des­halb bin ich in den Sprach­heil­kin­der­gar­ten Alts­hau­sen gegan­gen«, erin­nert sich die junge Frau an ihren Start im Hör-Sprach­zen­trum der Zieg­ler­schen. Eine Ope­ra­tion gab ihr das Hörvermögen zurück, jedoch: Beim Spre­chen hatte die kleine Sabrina wei­ter­hin Pro­bleme. Also wech­selte sie nach dem Kin­der­gar­ten in die Leo­pold­schule Alts­hau­sen.

Sabrina Hal­ler erin­nert sich gerne an die Schul­zeit zurück, wobei sie ein­schränkt: »Für mich war die Schule, auch wenn sie zu den Zieg­ler­schen gehört, ja erst­mal nur Schule – wie für alle ande­ren Schul­kin­der auch.« Klar, klei­nere Klas­sen mit den Förder­schwer­punk­ten Hören und Spre­chen, aber auch: Die üb­li­chen Höhen und Tie­fen des Schulall­tags, Freund­schaf­ten, der­selbe Lern­stoff und am Ende die glei­chen Prü­fun­gen wie an ande­ren Schu­len auch. Und auch gegen Ende der Schul­zeit die Berufs­ori­en­tie­rung. »Prak­tika waren mei­ner Leh­re­rin sehr sehr wich­tig.« Zuerst habe sie in den Beruf des Rau­maus­stat­ters hin­ein­ge­schnup­pert, bis sie ein Nach­bar ihrer Eltern auf die Zen­tral­küche der Zieg­ler­schen auf­merk­sam gemacht hat. »Der hat ein­fach gedacht, das könnte doch was für mich sein.«

Der Tipp war gold­rich­tig, aus dem Prak­ti­kum wurde ein Aus­bil­dungs­platz. »Dass es wie­der die Zieg­ler­schen wur­den war ein tota­ler Zufall!« Heute ist die 22-Jährige Fach­frau für Sys­tem­ga­stro­no­mie und arbei­tet immer noch gerne in ihrem Aus­bil­dungs­be­trieb in der NEULAND-Küche. Hilfs­be­reit­schaft ist ihr wich­tig und ein Her­zens­an­lie­gen. Toll fin­det sie es, dass die Küche auch für die Ves­per­kir­che kocht. »Es ist gut, was wir als Zieg­ler­sche alles so machen. Das war mir als Schü­le­rin gar nicht so klar.«

Nat­ha­lie Wied­mann wie­derum ist bewusst, dass die Zieg­ler­schen viel Gutes tun – und sie trägt eini­ges dazu bei. Im Senio­ren­zen­trum Wend­lin­gen ist die 30-Jährige für den Bereich Soziale Betreu­ung zuständig und erzählt: »Erin­ne­run­gen sind ein ele­men­ta­rer Bestand­teil unse­rer Arbeit hier im Haus. Das fängt schon beim Ein­zug ins Senio­ren­zen­trum an.« Stich­wort Bio­gra­phie­ar­beit: Wer ist der Mensch, der gerade ein­ge­zo­gen ist? Was hat er erlebt, was hat sein Leben geprägt? Mit wel­chen Kri­sen war er in sei­nem Leben kon­fron­tiert? Aber auch: Was sind seine Vor­lie­ben, was mag er gerne? »Wir können die Men­schen nur dann gut betreuen, wenn wir sie ken­nen und ver­ste­hen.«

Die Erin­ne­run­gen sind der Schlüs­sel dazu, weiß die Fach­frau. Sie kämen jedoch nicht nur beim geziel­ten Nach­fra­gen zutage, son­dern in ganz alltägli­chen Situa­tio­nen. Ins­be­son­dere Musik sei ein Auslöser. Wied­mann berich­tet von einem Fest im Senio­ren­zen­trum, es wur­den alte Schla­ger gespielt. »Und plötzlich sagte die alte Dame neben mir: ›Zu die­sem Lied hat mich mein späterer Mann zum Tan­zen auf­ge­for­dert.‹ Die Musik hat diese schöne Erin­ne­rung wie­der hoch­ge­holt.« Aber auch andere Akti­vitäten hätten die­sen Effekt, erzählt Wied­mann. »Wir haben Aus­s­te­cherle zu Weih­nach­ten geba­cken. Und plötzlich wur­den die alten Rezepte aus­ge­packt und es wurde rich­tig leben­dig am Tisch.«

Manch­mal führt der Weg der Erin­ne­run­gen auch direkt ins Hier und Jetzt. Im Senio­ren­zen­trum Heu­bach arbei­tet Michaela Bres­sel in der Ver­wal­tung. Dazu muss man wis­sen: Heu­bach ist der Geburts­ort von Johan­nes Zieg­ler, dem Namens­ge­ber der Zieg­ler­schen. Und Michaela Bres­sel ist eine Nach­fahrin der Fami­lie Zieg­ler. »Johan­nes Zieg­ler und mein Uru­ropa waren Cous­ins«, erklärt Michaela Bres­sel die Ver­wandt­schafts­be­zie­hung. Dazu wohnt Michaela Bres­sel im Haus ihrer Oma Ruth Bres­sel. »Als klar war, dass die Zieg­ler­schen nach Heu­bach kom­men, hat meine Oma gesagt: ›Michaela, meine Ver­wandt­schaft kommt nach Heu­bach!‹« Und dann hat sie erzählt.

Zum Bei­spiel, dass ihr früher »als Mädle« in Wil­helms­dorf erklärt wurde, dass hier Kin­der unter­rich­tet wer­den, die nicht gut hören und spre­chen können. Und dass die Zeit­schrift von den Zieg­ler­schen in der gan­zen Fami­lie rum­ge­reicht wurde. Wer lesen konnte, hat selbst gele­sen, wer nicht lesen konnte, dem wurde vor­ge­le­sen. »So waren alle auf dem aktu­el­len Stand.«

Die alten Erin­ne­run­gen haben bei Ruth Bres­sel einen Wunsch geweckt: »Für meine Oma wäre das wie Ostern und Weih­nach­ten zusam­men, wenn sie noch ein­mal Wil­helms­dorf besu­chen könnte.« Vor weni­gen Tagen ist der Wunsch wahr gewor­den: Mitte Novem­ber fuh­ren die 91-jährige Ruth und ihre Enke­lin Michaela Bres­sel zusam­men nach Wil­helms­dorf. So wird aus Erin­ne­run­gen wie­der Ver­bun­den­heit – und es schließt sich ein Kreis.

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Charlotte Kretschmann, 114 Jahre alt, ist der älteste Mensch, der je in Deutschland gelebt hat. Die elegante alte Dame wohnt seit fast zehn Jahren im Henriettenstift Kirchheim.

Johannes Ehrismann (r.) im Interview mit Charlotte Kretschmann

Erinnerungen an eine Prägende Zeit: Jürgen Knoblauch (Porträt rechts) fand im Martinshaus Kleintobel Freunde fürs Leben. Seine Klasse traf sich schon ein Jahr nach dem Schulabschluss wieder, in diesem Sommer (Foto unten, Jürgen Knoblauch im hellen Hemd) bereits zum 31. Mal!

Jürgen Knoblauch 1983, 13 Jahre nach dem Schulabschluss, bei der Gründung des Freundeskreises Martinshaus Kleintobel

»Ich wusste damals gar nicht, wie viel Gutes die Zieglerschen tun«: Sabrina Haller an ihrem Arbeitsplatz in der NEULAND-Küche.

Nathalie Wiedmann (l.): »Erinnerungen sind ein elementarer Bestandteil unserer Arbeit im Haus.«