Titelthema

März 2024

1824

Was 1824 mit zehn Siedlern im Moor begann, ist zur Erfolgsgeschichte geworden. Auch für die Zieglerschen. Ein Spaziergang durch die Zeit.

Text: Volkmar Schreier

Ein Tag Ende Januar: Ich stehe auf dem Saal­platz im ober­schwäbischen Wil­helms­dorf. Unter fach­kun­di­ger Führung werde ich gleich einen Rund­gang durch die Gemeinde machen, deren Geschichte prak­tisch untrenn­bar mit dem christ­li­chen Glau­ben, der Dia­ko­nie und mit den Zieg­ler­schen verknüpft ist. Anlass mei­nes Besu­ches: Wil­helms­dorf, 1824 unter außergewöhnli­chen Umständen gegründet, fei­ert in die­sem Jahr sei­nen 200. Geburts­tag. Ich bin gespannt, was ich erfah­ren werde ...

Ich bin zu früh und schaue mich um, während ich auf Johan­nes Ehris­mann warte. Der ist im Haupt­be­ruf Refe­rent für Theo­lo­gie und Ethik bei den Zieg­ler­schen, dem großen dia­ko­ni­schen Sozial­un­ter­neh­men, das in Wil­helms­dorf sei­nen Haupt­sitz hat. Neben­bei führt er regelmäßig Inter­es­sierte durch den Ort. Heute führt er mich. Ja, denke ich, man sieht, dass Wil­helms­dorf auf dem Reißbrett kon­zi­piert wurde. Vier Straßen führen auf den zen­tra­len Platz zu und bil­den aus der Vogel­per­spek­tive ein Kreuz. Inmit­ten des Plat­zes ein Gebäude, schlicht, mit einem klei­nen Türmchen in der Mitte, die Stirn­sei­ten auf die vier Straßen aus­ge­rich­tet – der Bet­saal. Keine klas­si­sche Dorf­kir­che, irgend­wie anders. »Beein­dru­ckend, oder?« Johan­nes Ehris­mann steht neben mir. In der Hand hält er his­to­ri­sche Bil­der und zeigt mir einen Kup­fer­stich des Saal­plat­zes. »Der Platz sollte qua­dra­tisch sein, so wie in der Offen­ba­rung das neue Jeru­sa­lem beschrie­ben wird«, erzählt er. »Denn die ers­ten Sied­ler, die Ur-Wil­helms­dor­fer, leb­ten in der Naher­war­tung: Sie waren fest über­zeugt, dass die Welt bald unter­ge­hen, der Tag des jüngs­ten Gerichts kom­men und Jesus zurückkeh­ren würde.«

»Die Sied­ler waren Pie­tis­ten, fromm und fleißig«, erklärt Johan­nes Ehris­mann wei­ter, als wir los­lau­fen. Die Brüder­ge­meinde in Korn­tal bei Stutt­gart, woher sie stamm­ten, sei irgend­wann zu klein gewor­den. – Inzwi­schen sind wir am Bet­saal ange­kom­men. Wir tref­fen Nor­bert Graf, den Pfar­rer der Brüder­ge­meinde. Hier im Bet­saal fei­ert die Gemeinde ihre Got­tes­dienste. Graf bit­tet uns hin­ein. Warum die Sied­ler aus­ge­rech­net hier­her kamen? »Sie hätten sonst aus­wan­dern müssen, nach Ame­rika oder Russ­land, um ihren Glau­ben frei zu leben.« Der württem­ber­gi­sche König Wil­helm wollte aber seine Lan­des­kin­der nicht ver­lie­ren – und gab ihnen daher ein Stück Land: mit­ten im Moor, nass, unfrucht­bar. Im Januar 1824 mach­ten sich die ers­ten zehn Sied­ler daran, das Moor zu entwässern und ein neues Dorf auf­zu­bauen. Wil­helms­dorf sollte es heißen, zu Ehren des Königs. Der Anfang war schwer, die Böden war­fen kaum etwas ab, bit­tere Armut prägte den Ort. Und so mach­ten die Wil­helms­dor­fer aus der Not eine Tugend: »Das ist die DNA von Wil­helms­dorf: denen hel­fen, die noch ärmer sind«, sagt Pfar­rer Graf. Bereits 1830, also sechs Jahre nach Ankunft, wird die »Ret­tungs­an­stalt armer und ver­wahr­los­ter Kin­der« gegründet, die erste dia­ko­ni­sche Ein­rich­tung in Wil­helms­dorf.

Über die fol­gen­den Jahre wächst die dia­ko­ni­sche Arbeit, gespeist auch aus dem christ­li­chen Glau­ben der Sied­ler: 1837 gründet der Taub­stum­men­leh­rer August Fried­rich Oßwald die »Taub­stum­men­an­stalt«, wo hör- und sprach­geschädigte Kin­der nicht nur »bewahrt« wer­den, son­dern auch Bil­dung erhal­ten. 1857 wird das »Kna­ben­in­sti­tut« als Inter­nats­schule gegründet. Und 1864 kommt ein jun­ger Leh­rer namens Johan­nes Zieg­ler in den Ort. Eigent­lich möchte er nur ein paar Jahre von Oßwald ler­nen. Doch Zieg­ler bleibt, hei­ra­tet eine Toch­ter Oßwalds, und ver­schreibt sich der dia­ko­ni­schen Arbeit im Ort. Er erwei­tert die Hilfs­an­ge­bote: 1880 beginnt die Arbeit mit geis­tig behin­der­ten Taub­stum­men, wofür 1881 das »Haus Höchs­ten« gebaut wird, 1905 star­tet die Arbeit mit sucht­kran­ken Men­schen. Zieg­ler legt den Grund­stein für das, was heute »Die Zieg­ler­schen« sind. »Eigent­lich visionär«, sagt Ehris­mann. »Wer keine natürli­chen Res­sour­cen hat, inves­tiert in Bil­dung und Hilfe.« Bis sich 1924 die Wege von kirch­li­cher und bürger­li­cher Gemeinde tren­nen, ist in Wil­helms­dorf eigent­lich alles eins: Es gibt keine Unter­schei­dung in kirch­li­che und welt­li­che Gemeinde, der Vor­ste­her der Brüder­ge­meinde ist gleich­zei­tig der Bürger­meis­ter, der Ort ist fak­tisch eine große dia­ko­ni­sche Ein­rich­tung.

Wie­der draußen auf dem Saal­platz sehen wir ein wei­te­res orts­be­kann­tes Gesicht: San­dra Flucht. Seit acht Jah­ren ist die 51-Jährige Bürger­meis­te­rin, gerade wurde sie wie­der­gewählt. Was sie an Wil­helms­dorf beson­ders schätzt? »Das Zusam­men­le­ben mit Men­schen mit Behin­de­rung ist eine Berei­che­rung«, sagt sie. »Es kommt schon auch vor, dass Kli­en­ten der Behin­der­ten­hilfe spon­tan die Bürger­meis­te­rin in ihrem Büro besu­chen«, berich­tet sie lachend. Wenn sie an die Ursprünge »ihres« Ortes zurückdenkt, fällt ihr spon­tan die Auf­bau­ar­beit ein. Und heute? Heute drücken die ganz alltägli­chen Sor­gen einer Bürger­meis­te­rin: Die Auf­ga­ben wer­den größer, die Kas­sen lee­rer. »Heute geht es darum, das zu erhal­ten, was auf­ge­baut wurde: Die Infra­struk­tur, das breit auf­ge­stellte Schul­we­sen, das soziale Mitein­an­der.« Die Zieg­ler­schen seien ein wich­ti­ger Wirt­schafts­fak­tor für den Ort. »Ich hoffe ein­fach«, wünscht sie sich, »dass es den Zieg­ler­schen auch in Zukunft gelingt, ihre Struk­tu­ren hier im Ort zu erhal­ten.«

Wei­ter geht es. Johan­nes Ehris­mann weist mich auf einige Gebäude hin, die sich direkt am Saal­platz befin­den: Das Pfarr­amt und der Gast­hof »Post«, wo Johan­nes Zieg­ler und seine Frau Mat­hilde nach ihrer Hoch­zeit eine Zeit lang gewohnt haben. Dann an der Zußdor­fer Straße rechts das Bene­dict-Nim­ser-Haus, das letzte noch ori­gi­nal erhal­tene Gebäude aus den Gründungs­ta­gen, und links der Fried­hof, wo wir dem Grab Johan­nes Zieg­lers einen Besuch abstat­ten. Wir bie­gen ab in Rich­tung Wolfsbühl: Die Schule des Hör-Sprach­zen­trums setzt heute fort, was 1837 in der Taub­stum­men­an­stalt begann. »Wenn man den Bogen von den Anfängen der dia­ko­ni­schen Arbeit ins Heute span­nen will, soll­ten wir dort hin«, sagt Johan­nes Ehris­mann.

Gerade ist der Vor­mit­tags­un­ter­richt zu Ende, Kin­der mit Schul­ran­zen kom­men uns ent­ge­gen. Vor der Ein­gangstüre ste­hen Andreas Schmid, Schul­lei­ter der Schule am Wolfsbühl, und Chris­tiane Stöppler, die Geschäftsführe­rin des Hör-Sprach­zen­trums. Johan­nes Ehris­mann hat ein altes Bild im Archiv gefun­den, das eine Unter­richts­si­tua­tion zeigt: Ein Leh­rer bringt sei­nen Schülern den Laut »A« bei, an die Tafel ist kunst­voll ein Affe gemalt, dane­ben steht das Wort »Aff«. Die bei­den Fach­leute betrach­ten das Bild und lächeln nach­sich­tig. »Ja, Visua­li­sie­rung ist wich­tig«, sagt Andreas Schmid. »Aber Pädago­gik und Didak­tik haben sich natürlich wei­ter­ent­wi­ckelt.«

Die bei­den neh­men uns mit in ein moder­nes Klas­sen­zim­mer. Auch hier hängen rund um die Tafel Bil­der, die einen Laut visua­li­sie­ren. Dane­ben aber: moderne Tech­nik, mit der sich Spra­che direkt an Hörgeräte oder Coch­lea-Implan­tate übert­ra­gen lässt. »Uns ver­bin­det mit der Taub­stum­men­an­stalt von damals das Ziel, Kin­dern und Jugend­li­chen mit Hör- oder Sprach­be­hin­de­rung Zugang zu Bil­dung zu geben«, sagt Chris­tiane Stöppler. Der Unter­schied zu früher: Da kamen die Kin­der in die Taub­stum­men­an­stalt, nur dort fand Bil­dung statt. »Heute strah­len wir mit unse­ren Ange­bo­ten in die Region hin­ein.« Sie­ben Schu­len machen das möglich, dazu Bera­tungs­stel­len und Schul­kin­dergärten.

»Was ist der indi­vi­du­elle Bedarf, wer braucht was und wie­viel, um wirk­li­che Teil­habe zu errei­chen?« Eine Frage, die Uwe Fischer, Geschäftsführer der Behin­der­ten­hilfe, bewegt. Wir sind inzwi­schen zurück in Rich­tung Orts­mitte gelau­fen und ste­hen vor dem »Haus Höchs­ten«. Es ist nicht mehr das mar­kante Haus von 1881, denn die­ses ist 1974 abge­brannt und wurde wie­der auf­ge­baut. »Wir müssen froh sein, dass das Bun­des­teil­ha­be­ge­setz über die letz­ten Jahre ent­stan­den ist«, meint Fischer, der ange­sichts von Kri­sen und lee­rer staat­li­cher Kas­sen Ver­tei­lungskämpfe her­auf­zie­hen sieht. »Wer bekommt wie­viel? Diese Dis­kus­sion wird kom­men«, ist er sich sicher. »Wir soll­ten froh sein, dass wir heute in der Behin­der­ten­hilfe ganz andere Voraus­set­zun­gen haben als damals, als die Arbeit für Men­schen mit Ein­schränkun­gen begon­nen hat«, schlägt Fischer den Bogen zurück zu den Anfängen. »Damals muss­ten die Leute um alles bet­teln.« Was heute immer noch gleich ist wie 1881: »Unsere Haupt­auf­gabe ist es heute wie damals, Hei­mat zu geben und Teil­habe. Und ich bin mir ziem­lich sicher, dass Wil­helms­dorf auch in 20 Jah­ren ein Ort sein wird, in dem Men­schen mit Behin­de­rung ganz nor­mal leben.«

Mitt­ler­weile knurrt uns der Magen. Im Spei­se­saal des Haus Höchs­ten bekom­men wir ein war­mes Mit­ta­ges­sen und einen Platz an einem Tisch. Uns gegenüber sitzt Gott­fried Heinz­mann, der Vor­stands­vor­sit­zende der Zieg­ler­schen. Wir kom­men auf einen alten Schreib­tisch zu spre­chen, der heute im Oßwald­bau auf der Vor­stand­se­tage steht. Ist der wirk­lich noch von Johan­nes Zieg­ler? »Viele mei­nen es, aber sicher ist es nicht«, sagt Gott­fried Heinz­mann, aber man könne gerne gemein­sam einen Blick dar­auf wer­fen. Ist es der­selbe Schreib­tisch wie auf dem his­to­ri­schen Bild des Direk­to­ren­zim­mers? Wir sind unsi­cher. Auf Heinz­manns aktu­el­lem Schreib­tisch türmt sich ebenso wie damals die Arbeit. »Wenn ich ver­su­che, mir ein Bild von Johan­nes Zieg­ler zu machen, sind es immer Blitz­lich­ter«, erklärt Gott­fried Heinz­mann. »Soll er die Taub­stum­men­an­stalt oder das Kna­ben­in­sti­tut wei­terführen? Oder bei­des? Waren das ein­same Ent­schei­dun­gen? Aber was er immer gemacht hat: Er hat es im Gebet mit Gott reflek­tiert.«

Die Her­aus­for­de­run­gen seien nicht weni­ger gewor­den: die Wei­ter­ent­wick­lung der Hil­fe­fel­der, das Span­nungs­feld zwi­schen der Verant­wor­tung für die Men­schen und die Mit­ar­bei­ter einer­seits und der wirt­schaft­li­chen Tragfähig­keit ande­rer­seits. »Die­sen Abwägungs­pro­zess im Ver­trauen in Gott vor­zu­neh­men ist dann schon ver­gleich­bar.« Was er aus Zieg­lers Leben und Wir­ken mit­nimmt? »Mut zu Neuem! Da ist Zieg­ler ein ech­tes Vor­bild.«

Johan­nes Ehris­mann möchte mir noch die Has­lachmühle zei­gen, wo die Arbeit mit Men­schen mit Such­ter­kran­kun­gen begann. Wir fah­ren also ein paar Kilo­me­ter aus Wil­helms­dorf hin­aus. »Zieg­ler kaufte die Has­lachmühle 1905, die Trin­ker­heil­an­stalt exis­tierte dann ab 1906«, erklärt uns Franz Mayer, den wir dort tref­fen. Mayer war selbst Pati­ent der Fach­kli­nik Ring­gen­hof, später The­ra­peut und dann langjähri­ger Vor­sit­zen­der des Förder­krei­ses der Sucht­hilfe. »Das wirk­lich Revo­lu­tionäre war damals der The­ra­pie­an­satz: Während alle Welt noch meinte, Sucht sei Sünde, haben sie hier schon mit der Prämisse gear­bei­tet, dass Sucht eine Krank­heit ist.« 1955 ent­steht auf dem Höchs­ten die Fach­kli­nik für Frauen, 1966 ver­las­sen auch die Männer die Has­lachmühle und zie­hen um nach Wil­helms­dorf in die neue Fach­kli­nik Ring­gen­hof. Und heute? »Der Umgang mit den Pati­en­ten ist heute nicht mehr so von oben herab wie damals. Das war der ent­schei­dende Wan­del: Der Pati­ent ist ein Mensch auf Augenhöhe«, erzählt Mayer.

Mitt­ler­weile ist es später Nach­mit­tag gewor­den, wir sind am Ende unse­rer Tour ange­langt. Ich ver­ab­schiede mich von Johan­nes Ehris­mann, steige ins Auto. Das Navi führt mich zurück Rich­tung Stutt­gart, noch­mals durch Wil­helms­dorf – durch beein­dru­ckende 200 Jahre Geschichte hin­durch. Nach­denk­lich fahre ich eine Extra­runde um den Saal­platz, bevor ich die­ses Dorf, das Glaube, Dia­ko­nie und die Zieg­ler­schen ver­bin­det, ver­lasse.

Erfahren Sie mehr

Sandra Flucht ist die frisch wiedergewählte Bürgermeisterin der Gemeinde Wilhelmsdorf.

Auf den Schultern der Gründergeneration: Gottfried Heinzmann ist heute Vorstandsvorsitzender der Zieglerschen.

Der Betsaal von innen. Norbert Graf, Pfarrer der Brüdergemeinde, zeigt ein Bild aus vergangenen Zeiten.

Uwe Fischer, Geschäftsführer der Behindertenhilfe, vor dem »Haus Höchsten«. Genau an dieser Stelle stand die frühere Taubstummenanstalt.

Christiane Stöppler und Andreas Schmid vor der Schule am Wolfsbühl. Sie wurde 1957 als Gehörlosenschule eingeweiht.