Titelthema

Dezember 2012

Mal was anderes

So eine visAvie hat es noch nie gegeben. Zum ersten Mal haben sich die Redak­tio­nen der »Mühle­zei­tung« der Has­lachmühle und der »visAvie« zusam­men­ge­tan und eine gemein­sa­me Ausgabe pro­du­ziert. Die jungen Redakteure um ihren quirligen Chefredakteur Daniel Fabian sind Medienprofis mit geistiger Behinderung. Manche hören und sprechen auch nicht. Wenn Sie weiterlesen werden Sie feststellen, dass die Redakteure mit oder ohne Behinderung ihren Job gleichermaßen ernst nehmen. Sie fragen kritisch, recherchieren Fakten und verschweigen auch schwierige Situationen nicht.

Deshalb finden Sie in dieser Ausgabe nicht nur eine ganz besondere Weihnachtsgeschichte, die wichtigsten Schimpfwörter in Gebärden und 15 Fragen an Jesus, sondern auch ein ungewöhnliches und ungewöhnlich offenes Interview mit unserem Vorstandsvorsitzenden Prof. Dr. Harald Rau. Lesen Sie selbst.

Text: Chris Grüninger, Gizem Özdemir und Daniel Fabian (Mühlezeitung) und Christof Schrade (visAvie)

Mühle­zei­tung: Herr Rau, bei der Vor­be­rei­tung die­ses Inter­views haben wir uns gefragt: Wer ist eigent­lich Ihr Chef?
Man könnte sagen, mein Chef ist der Auf­sichts­rat. Das sind neun Persönlich­kei­ten, die diese Auf­gabe ehren­amt­lich wahr­neh­men. Vier­mal im Jahr haben wir eine Sit­zung und da berichte ich über all die Neue­run­gen, die es in den Zieg­ler­schen gibt. Da kom­men jedes Mal 30 eng bedruckte Sei­ten zusam­men. Bei den ganz großen Ent­schei­dun­gen, wenn es um sehr viel Geld geht, wenn wir zum Bei­spiel eine neue Schule bauen wol­len, dann können wir das nicht alleine ent­schei­den, dann muss der Auf­sichts­rat ja oder nein sagen.

Mühle­zei­tung: Kann der Auf­sichts­rat Sie auch ent­las­sen?
Ja, er kann mich ent­las­sen.

Mühle­zei­tung: Haben Sie Fami­lie?
Ja, ich habe Fami­lie. Ich bin geschie­den und habe eine neue Part­ne­rin an mei­ner Seite. Wir wol­len bald hei­ra­ten. Ich habe schon große Kin­der. Die sind 27, 25 und 15. Und meine älteste Toch­ter hat schon zwei Kin­der. Ich bin also auch schon Opa, habe aber so gut wie keine Zeit für meine Enkel­kin­der.

Mühle­zei­tung: Rau­chen Sie?
Als ich 14 war, dachte ich, ich sollte auch rau­chen. Ich hab mir zwei Schach­teln R 6 gekauft – aber es ging nicht. Ich musste viel zu sehr hus­ten. Ich hab also den Anfang nicht geschafft. Und ein­mal, viel, viel später, da hab ich eine Zigarre pro­biert. Ich glaube, ich hatte eine Niko­tin­ver­gif­tung, so schlecht ging es mir danach.

Mühle­zei­tung: Haben Sie schon mal die Schule geschwänzt?
Nein, das habe ich nie gemacht. Aber ein­mal, da habe ich etwas geklaut, das hat der Schule gehört. Ich hatte nie wie­der so ein schlech­tes Gewis­sen und habe schlecht geschla­fen. Ich hatte zu Hause ein Mikro­skop und in der Schule hat­ten wir auch Mikro­skope. Das Oku­lar in mei­nem Mikro­skop war viel schlech­ter als die Oku­lare in der Schule. Also habe ich heim­lich getauscht. Später habe ich es dann wie­der zurückge­bracht.

MZ: Muss­ten Sie schon mal nach­sit­zen?
Nein, nach­sit­zen musste ich nie. Ich war schon ein Mus­terschüler. Aber ich hatte manch­mal auch schlechte Noten. Wenn ich nicht ein­ge­se­hen habe, wozu ich das ler­nen soll, habe ich es nicht gelernt. Eigent­lich bin ich erst in den letz­ten drei Klas­sen ein rich­tig guter Schüler gewor­den. Oft habe ich gedacht, ich weiß es bes­ser als der Leh­rer. Auch einem Pro­fes­sor habe ich später im Stu­dium in der Vor­le­sung wider­spro­chen. Darauf­hin musste ich die nächste Vor­le­sung selbst hal­ten – und das hat mir ein Sti­pen­dium der Stu­dien­stif­tung des Deut­schen Vol­kes ein­ge­bracht! Ich finde, man soll nicht immer alles schlu­cken, was einem vor­ge­setzt wird!

Mühle­zei­tung: Wie lange müssen Sie arbei­ten?
Ich ver­su­che, um 18 Uhr nach Hause zu gehen. Aber oft geht es dann abends zu Hause am Com­pu­ter wei­ter. 14, manch­mal 15 Stun­den am Tag kom­men da schon zusam­men. Aller­dings weiß ich wohl, dass der, der beson­ders lange arbei­tet, nicht unbe­dingt bes­ser arbei­tet. Aber zur Zeit geht es halt nicht anders. Es gibt aller­dings andere Vor­stands­vor­sit­zende, die noch mehr Zeit bei der Arbeit ver­brin­gen.

visAvie: Hier hake ich mal ein. »Zur Zeit geht es halt nicht anders« bezieht sich ja dar­auf, dass die Zieg­ler­schen und somit auch Sie als Vor­stands­vor­sit­zen­der der­zeit vor großen Auf­ga­ben ste­hen. Im Okto­ber wur­den einige Vor­ha­ben der Zieg­ler­schen über­ra­schend gestri­chen oder ver­scho­ben. Sind die Zieg­ler­schen in einer Krise?
Nein, eine Krise ist das nicht. Aber wir sind mit großen Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert. Denn wir müssen Vor­ga­ben der Poli­tik erfüllen, ohne dafür die adäquate Finan­zie­rung zu erhal­ten. Zum Bei­spiel in Biber­ach. Hier woll­ten wir mit der örtli­chen Kir­chen­ge­meinde zusam­men das »neue Bon­ho­ef­fer­haus« bauen. Doch dann wurde klar, dass die Bau­kos­ten wegen des Unter­grunds immens stei­gen wer­den. Wir hätten in Biber­ach nie kos­ten­de­ckend arbei­ten können. Wir hätten jedes Jahr mehr als 100.000 Euro Defi­zit ein­ge­fah­ren. Das können wir uns ein­fach nicht leis­ten, da muss­ten wir die­ses großartige Pro­jekt lei­der stop­pen. Ähnlich sieht es mit der Großküche in Wil­helms­dorf aus. Wir haben der­zeit über­all mit stei­gen­den Bau- und Grundstücks­kos­ten zu tun und müssen ganz genau prüfen, was wir uns leis­ten können. Die Großküche haben wir daher erst ein­mal ver­scho­ben.

visAvie: Aber ste­hen die Zieg­ler­schen nicht über­all vor die­sem Pro­blem? Gerade in der Behin­der­ten­hilfe wer­den ja viele neue Stand­orte gebaut, damit Men­schen mit Behin­de­run­gen von der grünen Wiese in Städte wie Bad Saul­gau oder Aulen­dorf zie­hen können. Gleich­zei­tig müssen die bis­he­ri­gen Unterkünfte in Wil­helms­dorf moder­ni­siert wer­den.
Ja, das ist so. Des­halb müssen wir jetzt die Grund­la­gen für
die nächs­ten Etap­pen schaf­fen, die viel von uns for­dern – das rie­sige Immo­bi­lie­nin­ves­ti­ti­ons­pro­gramm erfor­dert Wirt­schaft­s­er­geb­nisse, die wir brin­gen wol­len und wer­den. Und künftig müssen wir noch viel stärker dar­auf ach­ten, dass wir nur dort inves­tie­ren, wo es sich rech­net. Und dort, wo wir sehen, dass ein neues Enga­ge­ment von Anfang an ein Ver­lust­brin­ger für uns sein wird, wer­den wir es nicht rea­li­sie­ren können, auch wenn es wich­tig wäre.

visAvie: Wo spa­ren Sie kon­kret?
Viel­leicht ist die noch wich­ti­gere Bot­schaft, wo wir nicht spa­ren wer­den, nämlich an den Ange­bo­ten für unsere Kun­den. Das wol­len wir nicht, und das geht auch gar nicht. Wir wol­len und wir dürfen zum Bei­spiel den Betreu­ungs­schlüssel nicht nach Belie­ben ändern. Das ist auch in Ord­nung so. Nein, wir spa­ren an ande­rer Stelle. Wir durch­leuch­ten im neuen Jahr unser gan­zes Unter­neh­men danach, wo wir kom­pli­zierte und zeit­aufwändige Pro­zesse ein­fa­cher und schnel­ler gestal­ten können. Aber klar ist auch, dass wir die Poli­tik und die Gesell­schaft wei­ter­hin laut dar­auf hin­wei­sen wer­den, dass wir unsere Arbeit nur tun können, wenn sie auskömmlich refi­nan­ziert wird. Von Sonn­tags­re­den, die gerne beto­nen, wie wich­tig und wert­voll unsere Arbeit für alte und junge Men­schen und für Men­schen mit Behin­de­rung ist, können auch wir keine ein­zige Rech­nung bezah­len.

Mühle­zei­tung: Die Sparmaßnah­men, wir­ken die sich auch auf unsere Schule aus?
Bis­her nicht. Aber sie wir­ken sich da aus, wo wir bei­spiels­weise neue Schu­len bauen. In Alts­hau­sen wei­hen wir noch im Dezem­ber eine neue Schule ein. Aber das ist eigent­lich erst der erste Bau­ab­schnitt, zwei wei­tere sind geplant. Und wir wis­sen noch nicht, ob wir sie auch ver­wirk­li­chen können. Die Behin­der­ten­hilfe muss aller­dings auch spa­ren, wie alle ande­ren auch. Wo aber genau gespart wird, das muss die Geschäftsführung der Behin­der­ten­hilfe ent­schei­den.

Mühle­zei­tung: Heißt das jetzt, dass das Essen aus unse­rer Küche bald schlech­ter schmeckt?
Ich glaube nicht, dass am Essen gespart wer­den muss.

Mühle­zei­tung: Macht es eigent­lich Spaß, Chef zu sein?
Ja, es ist toll, wenn man viel beein­flus­sen kann. Aber ich bin als Chef eben auch abhängig von vie­len ande­ren Leu­ten. Die machen es nicht immer genau so, wie ich es möchte. Wenn sie es anders machen als ich es möchte und sie machen es auch noch schlecht, dann finde ich das rich­tig blöd. Wenn sie es anders machen, als ich es möchte und sie machen es gut, dann finde ich das toll. Denn dadurch lerne ich dazu.

Mühle­zei­tung: Haben Sie schon mal jeman­den ent­las­sen?
Viel­leicht fünf Mal, ja. Es ist eine der schwers­ten Ent­schei­dun­gen über­haupt. Ich will ein Bei­spiel sagen. Da ist eine Mit­ar­bei­te­rin in lei­ten­der Funk­tion. Sie kriegt ihre Auf­gabe nicht hin, ist ständig über­for­dert. Die Mit­ar­bei­ter, für die sie Verant­wor­tung hat, sind total frus­triert, weil es mit der Vor­ge­setz­ten über­haupt nicht klappt. In so einer Situa­tion kann es rich­tig sein, zum Schutz der Mit­ar­bei­ter, aber auch zum Schutz der Betrof­fe­nen selbst, ein Ende zu set­zen. Klar ist es schlimm, wenn man dann arbeits­los wird. Aber manch­mal geht es nicht anders.

Mühle­zei­tung: Wohin gehen Sie gerne in Urlaub?
Meine Part­ne­rin geht lie­ber ans Meer, ich lie­ber in die Berge. Im Som­mer­ur­laub sind wir des­halb eine Woche ans Meer und eine Woche in die Berge gefah­ren. Ich muss eigent­lich nicht so weit weg. Ich könnte mir zum Bei­spiel nicht vor­stel­len, in China Urlaub zu machen, wo ich kein Wort ver­stehe und wo ich nicht weiß, was man mir zum Essen vor­setzt.

Mühle­zei­tung: Gehen Sie gerne ins Kino?
Eigent­lich gehe ich gerne ins Kino, aber ich gehe sehr sel­ten. Viel lie­ber gehe ich in klas­si­sche Kon­zerte. Ich bin ja auch aus­ge­bil­de­ter Kir­chen­mu­si­ker und ich liebe vor allem Bach. Den halte ich für den geni­als­ten aller Kom­po­nis­ten. Ich bewun­dere es, wenn jemand an der Orgel impro­vi­sie­ren kann. Ich würde das auch gerne können.

Mühle­zei­tung: Haben Sie eine Face­book-Seite?
Nein, die habe ich nicht, obwohl meine jüngste Toch­ter mich immer dazu brin­gen will. Aber ich arbeite mich pro Tag durch 40 bis 60 E-Mails. Das, was früher die Post für den Chef war, kommt heute per E-Mail. Darüber bin ich mit sehr vie­len Men­schen in Kon­takt.

Mühle­zei­tung: Können Sie eigent­lich gebärden?
Nein, das kann ich noch nicht. Ich habe mich zwar mal zu einem Gebärden­kurs ange­mel­det, habe es aber noch nie geschafft, da auch hin­zu­ge­hen. Ich weiß aber, wie wich­tig das ist. Mir ist auch ganz wich­tig, dass wir beim Thema Leichte Spra­che wei­ter­kom­men. Wenn man gebärdet, dann setzt das eine ein­fa­che Spra­che vor­aus. Man kann aber nicht alles in ein­fa­cher Spra­che oder in Leich­ter Spra­che ausdrücken. Ich bin ja auch Wis­sen­schaft­ler, des­we­gen weiß ich das.
Könnt Ihr eigent­lich gebärden?

Mühle­zei­tung/ Chris Grünin­ger: Ich kann auch nicht beson­ders gut gebärden. Ich wohne auf einer Gruppe, da hören und spre­chen alle, da brau­chen wir keine Gebärden. Da ver­lernt man es schnell wie­der.

Mühle­zei­tung/ Gizem Özde­mir: Ich kann gut gebärden. Sie brau­chen keine Angst zu haben, wenn Sie einen Gebärden­kurs machen. Das lernt man ganz schnell. Aber es wäre schon gut, wenn die Leute, die jeden Tag um Sie herum sind, dann auch gebärden können.

visAvie: Zum Abschluss: Was wünschen Sie sich fürs neue Jahr, wenn Sie an die Zieg­ler­schen den­ken?
Ich wünsche mir, dass wir all die Her­aus­for­de­run­gen, vor denen wir ste­hen, gut bewälti­gen. Es gibt nicht nur die eine, große Her­aus­for­de­rung, son­dern ein gan­zes Bündel. Wir wol­len auf allen Ebe­nen agie­ren: fach­lich wol­len wir uns wei­ter­ent­wi­ckeln, wirt­schaft­lich müssen wir noch bes­ser wer­den, die Zusam­men­ar­beit im poli­ti­schen Raum und mit den Kir­chen­ge­mein­den an unse­ren Stand­orten wol­len wir noch mehr mit Leben füllen. Die Bereit­schaft, alle diese Her­aus­for­de­run­gen anzu­pa­cken, ist in unse­rer Mit­ar­beiter­schaft groß. Dafür bin ich dank­bar.

Danke, dass Sie bei uns waren.

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»Haben Sie schon mal die Schule geschwänzt?« Vorstand Prof. Rau (2.v.l.) beim Inter­view mit Chris Grü­ninger (l.), Gizem Özdemir (3.v.l.) und Daniel Fabian (r.)

Zusammenarbeit auf Augen­höhe: Die gemeinsame Redaktions­sitzung von »visAvie« (links am Tisch) und »Mühle­zeitung« (Kopf- und rechte Tischseite)

visAvie-Chefredakteur Christof Schrade (2.v.l.) hatte die Idee zur Gemein­schafts­ausgabe. Gegen­über sein Kollege Daniel Fabian (r.)

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