»Inklusions­gemeinde« – Wunsch oder Realität?

Interview

»Inklusions­gemeinde« – Wunsch oder Realität?

Interview

Dezember 2012

Wie weit ist Wilhelms­dorf, Stamm­sitz der Zieglerschen, in Sachen Inklusion? Teilt man hier tatsächlich das Leben miteinander – egal, ob die Menschen behindert sind oder nicht? Interview mit dem lang­jährigen Bürger­meister des Ortes, Dr. Hans Gerstlauer und Pfarrer Ernest Ahlfeld von der Evangelischen Brüder­gemeinde, der erst seit kurzem in der »Inklusions­gemeinde« zu Hause ist.

Text: Christof Schrade

Herr Bürger­meis­ter, Sie haben Wil­helms­dorf schon öfter Inklu­si­ons­ge­meinde genannt. Ist das nicht ein biss­chen übert­rie­ben? Das hört sich so an, als seien wir hier in Wil­helms­dorf am Ende eines Weges, den andere noch vor sich haben.
Sozi­al­po­li­tisch ist die Dis­kus­sion noch rela­tiv neu. In Wil­helms­dorf aber haben wir uns längst auf den Weg in Rich­tung Inklu­sion gemacht, als den Begriff noch nie­mand kannte. Wir haben in der Ver­gan­gen­heit immer von Inte­gra­tion gere­det und viel­leicht sollte man das Wort Inklu­sion auch nicht all­zu­sehr stra­pa­zie­ren. Bei Inklu­sion, so wie wir sie ver­ste­hen, geht es nicht um Gleich­ma­che­rei, son­dern um Wertschätzung. Es geht darum, dass alle Men­schen wich­tig sind. Das ist viel­leicht die beste Defi­ni­tion. Inklu­sion ist ein hohes Ziel und nicht auf ein­mal zu errei­chen. Aber in Wil­helms­dorf haben wir gute Voraus­set­zun­gen, um Inklu­si­ons­ge­meinde zu wer­den, denn wir sind schon weit gegan­gen.

Herr Pfar­rer Ahl­feld, Sie sind erst vor kur­zer Zeit und damit quasi von außen in diese ganz beson­dere Gemeinde gekom­men. Ist sie wirk­lich so beson­ders?
Ja, ich bin jetzt seit einem Jahr da, und Wil­helms­dorf ist schon beson­ders. Hier in Wil­helms­dorf tei­len wir unser Leben mit­ein­an­der, ganz unabhängig davon, ob wir behin­dert sind oder nicht. Wie weit wir schon sind, zeigt sich auch daran, dass es in Wil­helms­dorf keine »Anstalts­ge­meinde« gibt und nie gab. Natürlich gibt es spe­zi­elle Got­tes­dienste für Men­schen mit Behin­de­rung, etwa die Gebärden­got­tes­dienste in der Has­lachmühle. Aber das ist ja nichts Beson­de­res. Spe­zi­elle Got­tes­dienste, etwa Taizé-Gebete, gibt es in jeder Gemeinde. Das Beson­dere ist, dass wir sonn­tags alle zusam­men Got­tes­dienst fei­ern. Seit ich Gebärden gelernt habe, habe ich mir angewöhnt, immer am Schluss der Pre­digt vier oder fünf wich­tige Gedan­ken noch­mal in unse­rer ein­fa­chen Gebärden­spra­che zusam­men­zu­fas­sen.

Herr Bürger­meis­ter, nach wie vor sind die meis­ten Gebäude in Wil­helms­dorf nicht bar­rie­re­frei. Was können Sie hier tun?
Bei Bar­rie­re­frei­heit geht es ja um mehr als bau­li­che Anla­gen. Bar­rie­re­frei­heit beginnt in den Köpfen. 1997, beim Neu­bau des Gym­na­si­ums, haben wir uns hef­tig gegen den »von oben« ver­ord­ne­ten Ein­bau eines Auf­zugs in die­sem zweistöcki­gen Gebäude gewehrt, weil wir nur die Kos­ten gese­hen haben. Heute ist Bar­rie­re­frei­heit ein Wert. Hier ist noch viel zu tun, aber es ist auch schon viel getan wor­den.

Herr Pfar­rer Ahl­feld, Inklu­sion heißt auch, dass Men­schen mit Behin­de­rung künftig nicht mehr in Son­der­wel­ten leben sol­len, son­dern mit­ten in den Gemein­den. Worauf müssen sich Kir­chen­ge­mein­den ein­stel­len, die sich für Men­schen mit Behin­de­run­gen öffnen wol­len?
Sie müssen bereit sein, das Den­ken zu ändern, vie­les, was selbst­verständlich gewor­den ist, infrage zu stel­len. Sie müssen im wahrs­ten Sinne des Wor­tes Bar­rie­ren abbauen. Wenn ich die Kir­chentür mit einem bar­rie­re­freien Zugang ver­sehe, dann kom­men Roll­stuhl­fah­rer. Wenn ich in Gebärden­spra­che pre­dige, dann kom­men Men­schen, die nicht spre­chen und nicht hören. Pau­schal­re­zepte gibt es nicht, weil jeder indi­vi­du­ell ver­schie­den ist, auch jeder Mensch mit Behin­de­rung. Auf Men­schen zuge­hen, ihnen in Freund­lich­keit und Liebe begeg­nen und dann gemein­sam nach Lösun­gen suchen, so geht es. Doch es braucht auch viel Tole­ranz. Wenn Men­schen während des Got­tes­diens­tes plötzlich auf­ste­hen und her­um­ge­hen, könnten das andere als Störung erle­ben. Bei uns geschieht das und wird ganz natürlich wahr­ge­nom­men.

Herr Dr. Gerst­lauer, oft heißt es, Inklu­sion wird ganz schön teuer. Son­der­schul­leh­rer an Regel­schu­len, Bar­rie­re­frei­heit in Gebäuden: Kann sich die Gesell­schaft das leis­ten?
Die Gesell­schaft kann sich das Stück für Stück leis­ten, wenn sie es will. Wir dürfen aber die Ent­schei­der auf allen Ebe­nen auch nicht dadurch über­for­dern, dass wir immer nur auf das noch nicht Erreichte hin­wei­sen. Ein Bei­spiel aus einem ganz ande­ren Bereich: Als wir uns im Kreis Ravens­burg mit sei­nen vie­len Streu­sied­lun­gen in den 80ern das Ziel setz­ten, den Anschluss­grad an die zen­trale Abwas­ser­be­sei­ti­gung radi­kal zu erhöhen, galt das als kaum erreich­bar. Heute, 20 Jahre später, haben wir einen Anschluss­grad von fast 100 Pro­zent. Viele Mil­lio­nen sind im Boden ver­gra­ben wor­den.

Herr Pfar­rer Ahl­feld: »Men­schen mit Behin­de­rung berei­chern die Gesell­schaft.« Das ist einer der schönen Sprüche in der Inklu­si­ons­dis­kus­sion. Haben Sie selbst Men­schen mit Behin­de­rung schon als Berei­che­rung Ihres All­tags erlebt?
Ja, eigent­lich täglich. Da schleppt sich einer durchs Dorf, der auf­grund sei­ner Behin­de­rung sehr stark in sei­nen Bewe­gun­gen ein­ge­schränkt ist – aber er wirkt nicht unglücklich. Die Men­schen, die mit Behin­der­ten arbei­ten, wir­ken eher berei­chert. Dem Dorf tun die Men­schen mit Behin­de­rung gut. Jeder Kon­fir­mand kann heute das Vaterun­ser in Gebärden. Man muss aber auch sagen: Wir können in Wil­helms­dorf so gut auf unsere Mitbürger mit Behin­de­rung ein­ge­hen, weil die meis­ten von ihnen eine ähnli­che Behin­de­rung haben. Sie haben eine geis­tige Behin­de­rung mit einer zusätzli­chen Hör-Sprach­be­hin­de­rung. Darauf können wir uns als Gemein­schaft ein­stel­len, für diese spe­zi­elle Gruppe können wir Ange­bote machen. Hätten die Men­schen alle ganz ver­schie­dene Behin­de­run­gen, wäre das schwie­ri­ger für uns.

Herr Bürger­meis­ter, Wil­helms­dorf galt lange als Dorf mit geschlos­se­nen Anstal­ten. Die Zieg­ler­schen Anstal­ten, die nicht umsonst so hießen, regel­ten ihre Ange­le­gen­hei­ten selbst. Wie bewer­ten sie heute das Verhältnis von bürger­li­cher, Kir­chen­ge­meinde und dia­ko­ni­schen Ein­rich­tun­gen am Ort?
Das mit den Anstal­ten gilt von innen betrach­tet schon lange nicht mehr. Ganz zurecht haben die Zieg­ler­schen das Wort »Anstal­ten« aus ihrem Namen gestri­chen. Von außen kann sich so ein Vor­ur­teil aller­dings länger hal­ten. Durch die Rand­lage Wil­helms­dorfs, dadurch, dass es evan­ge­lisch mit­ten in katho­li­schem Gebiet ist. Ich kenne Wil­helms­dorf nun seit über 30 Jah­ren. Nie gab es Anstal­ten im Sinne abge­schlos­se­ner, selbst­be­zo­ge­ner Gebilde. Die dia­ko­ni­schen Ein­rich­tun­gen waren schon immer im Weich­bild des Ortes, mit­ten­drin, nicht zu unter­schei­den von ande­ren Häusern. Men­schen mit Behin­de­rung sind einem in Wil­helms­dorf schon immer auf der Straße begeg­net, im Sport­ver­ein, bei kul­tu­rel­len Ver­an­stal­tun­gen, bei Fes­ten und Fei­ern. Dass die Betrei­ber eines Super­markts hier in Eigenini­tia­tive über­all selbst­ge­machte Gebärden­schil­der ange­bracht haben, damit auch die Kun­den, die nicht lesen können, zum rich­ti­gen Pro­dukt grei­fen, das ist sehr lobens­wert, aber für Wil­helms­dorf eben ein­fach ganz nor­mal.

Vie­len Dank für das inter­essante Gespräch.

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Eine ganz normale Straßenszene in der Wilhelmsdorfer Hoffmannstraße: »Hier tei­len wir unser Leben mit­ein­an­der, egal, ob wir behin­dert sind oder nicht.«