Titelthema

April 2019

Gutes tun

Sie geben Zeit, Geld oder ihren guten Namen. Doch was motiviert Menschen, Gutes zu tun? Eine Rundreise durch die Zieglerschen.

Text: Nicola Philipp, Annette Scherer, Brigitte Stollenwerk

Die einen schen­ken ihre Zeit, ihr Talent oder ihre Kom­pe­tenz, um Gutes zu tun. Andere hel­fen mit Geld. Und wie­der andere geben ihren guten Namen, um für ihre Mit­menschen etwas zu bewe­gen. Wie und wo enga­gie­ren sich Ehren­amt­li­che, Spen­der oder Pro­mi­nente in den Zieg­ler­schen? Was moti­viert sie und was treibt sie an? Eine Run­dreise zu Men­schen, die in den und für die Zieg­ler­schen Gutes tun.

Ravens­burg im Februar, 12:30 Uhr: Dicke Schnee­flo­cken wir­beln vom Him­mel, es ist kalt und win­dig. Men­schen strömen in die Evan­ge­li­sche Stadt­kir­che. Drin­nen begrüßt eine Ehren­amt­li­che die Neu­ankömmlinge freund­lich: »Hier geht es zur Essens­aus­gabe, hier können Sie Ihre Jacken able­gen.« Die Ver­an­stal­ter haben gut ein­ge­heizt in der Ves­per­kir­che, es ist ange­nehm warm. Denn die Men­schen sol­len sich hier gerne auf­hal­ten, zusam­men­sit­zen, essen, abends Ver­an­stal­tun­gen besu­chen. »Das tolle Mitein­an­der moti­viert mich, jedes Jahr wie­der zu hel­fen«, sagt Wol­f­ram Heg­ner. Er ist pen­sio­nier­ter Leh­rer und sitzt in der Sing­stunde sei­ner Kir­chen­ge­meinde neben Gerd Gunßer, der für das Dia­ko­ni­sche Werk des Evan­ge­li­schen Kir­chen­be­zirks Ravens­burg die Ves­per­kir­che maßgeb­lich mit­or­ga­ni­siert. »Ich war frisch pen­sio­niert und Herr Gunßer hat mich gefragt, ob das nicht was für mich wäre.« Seit­dem ist er jedes Jahr mit dabei. Ein tol­ler Treff­punkt sei es: »Man­che Leute trifft man nur ein­mal im Jahr und das hier.« Die Tische sind voll besetzt, kein Platz bleibt frei. Und dann fügt er schmun­zelnd hinzu: »Es ist ein komi­sches Wort, aber man könnte sagen, ich bin ves­per­kir­chensüchtig.«

Wol­f­ram Heg­ner liegt voll im Trend. Denn in Deutsch­land enga­gie­ren sich nach neues­ten Erhe­bun­gen knapp 15 Mil­lio­nen Men­schen ehren­amt­lich, rund zwei Mil­lio­nen mehr als noch 2014. Woher kommt die­ser Boom? Eine Erklärung hat Pro­fes­sor Dr. Ahmed A. Karim, Gesund­heits­psy­cho­loge und Neu­ro­wis­sen­schaft­ler. Er lei­tet an der SRH Fern­hoch­schule Ried­lin­gen eine For­schungs­gruppe, die unter­sucht, wie Psy­cho­the­ra­pie und Lern­pro­zesse zu Gehirn­verände­run­gen führen. Für seine inter­na­tio­na­len For­schun­gen wurde er mehr­fach aus­ge­zeich­net. »Durch den demo­gra­fi­schen Wan­del haben wir eine alternde Gesell­schaft«, so der Wis­sen­schaft­ler. »Viele Men­schen sind zwar in Rente, aber noch leis­tungsfähig und können sich über ehren­amt­li­ches Enga­ge­ment sinn­voll ein­brin­gen.« Die frei­wil­lige Arbeit ermögli­che zudem soziale Kon­takte – dies werde umso wich­ti­ger, wenn zum Bei­spiel Arbeits­kol­le­gen als Sozi­al­kon­takte im Alter weg­fal­len. Und dann nennt der For­scher noch einen Grund: »In Deutsch­land wer­den ein­fach her­vor­ra­gende und vielfältige Möglich­kei­ten für ehren­amt­li­ches Enga­ge­ment ange­bo­ten.«

Auch in den Zieg­ler­schen gibt es diese vielfälti­gen Möglich­kei­ten. Die Ves­per­kir­che ist eine davon – und die wohl größte. Die Gemein­schafts­ak­tion von Johan­nes-Zieg­ler-Stif­tung, der Stif­tung der Zieg­ler­schen, und dem Dia­ko­ni­schen Werk des Evan­ge­li­schen Kir­chen­be­zirks Ravens­burg lebt von ehren­amt­li­cher Hilfe. 470 Frei­wil­lige haben allein in die­sem Win­ter wie­der mit ange­packt, 70 pro Tag. Bis zu 830 warme Essen wer­den von ihnen täglich aus­ge­ge­ben. Ent­spre­chend lang ist die Schlange an der Essens­aus­gabe.

Während für die Ves­per­kir­chen-Hel­fe­rin­nen und -Hel­fer der diesjährige »Ein­satz« schon wie­der vor­bei ist, enga­giert sich Alex­an­dra Rist das ganze Jahr. Seit 2017 ist sie Vor­sit­zende des Förder­ver­eins der Leo­pold­schule Alts­hau­sen. Auch sie spürt den posi­ti­ven Trend zum Enga­ge­ment, denn der vor zehn Jah­ren gegründete Verein erfreut sich sta­bi­ler Mit­glie­der­zah­len. Aber warum opfern Men­schen ihre freie Zeit für andere? Was moti­viert zum Ehren­amt? Für Alex­an­dra Rist ist das Motiv klar. »Ich mache das aus Über­zeu­gung«, berich­tet sie. »Meine ältere Toch­ter war hier auf der Leo­pold­schule und hat Hilfe erhal­ten, als sie sie brauchte. Inzwi­schen besucht sie die Fach­schule für Maschi­nen­bau­tech­nik!« Da ihre jüngere Toch­ter eben­falls auf der Leo­pold­schule lernt und »weil ich auch ein paar Leh­rer kenne«, habe sie für das Amt zuge­sagt. »Ich habe das Gefühl, so kann ich der Schule etwas zurückge­ben«, erzählt sie. »Und es macht Spaß!«

Mit die­ser »Ehren­amts­bio­gra­fie« ist Alex­an­dra Rist ein gera­dezu »typi­scher Fall«. Denn, so weiß auch Jens Eck­stein, Ein­rich­tungs­lei­ter im Senio­ren­zen­trum Den­ken­dorf der Zieg­ler­schen zu berich­ten: »Die Gründe, wes­halb sich Men­schen für andere enga­gie­ren, sind so vielfältig wie die Men­schen selbst. Oft sind es jedoch eigene bio­gra­fi­sche Erleb­nisse, die dazu moti­vie­ren, etwa, dass die eigene Mut­ter ins Senio­ren­zen­trum zieht.«

Alex­an­dra Rist ist gerade erneut für zwei Jahre gewählt wor­den. Die Arbeit macht ihr nach wie vor Freude und gibt neue Impulse. So hat der Förder­ver­ein neben der Unterstützung von Klas­sen­fahr­ten, Ausflügen, Anschaf­fun­gen oder Pro­jek­ten eine beson­ders schöne Tra­di­tion: Jedes Jahr wer­den Kin­der mit dem Sozi­al­preis der Schule aus­ge­zeich­net. Schülerin­nen und Schüler, die sich beson­ders enga­gie­ren, wer­den von den Lehrkräften dafür vor­ge­schla­gen. »Letz­tes Jahr hat ein Mädchen ihre Haare für krebs­kranke Kin­der gespen­det, aus 30 Zen­ti­me­ter Haa­ren wird eine Perücke gemacht. Dafür hat sie den Preis bekom­men. Das hat meine Toch­ter inspi­riert und sie hat ihre Haare auch gespen­det.«

Das Gefühl, in der Gesell­schaft etwas bewir­ken zu können, kann sehr befrie­di­gend sein, weiß auch Pro­fes­sor Karim. Die­ses Motiv sei umso wich­ti­ger, »wenn Men­schen diese Selbst­ver­wirk­li­chung im Beruf nicht oder nicht mehr erzie­len können«. Im Regel­fall – wis­sen­schaft­li­che Stu­dien bele­gen das – trage ehren­amt­li­ches Enga­ge­ment dazu bei, dass Men­schen glücklich wer­den: neue Her­aus­for­de­run­gen, soziale Kon­takte, Selbst­ver­wirk­li­chung, Dank und Aner­ken­nung »haben posi­tive Effekte auf unser Gehirn und unsere psy­cho­so­ma­ti­sche Gesund­heit und tra­gen zum ›erfolg­rei­chen‹ Altern bei«, so der Experte. Salopp gesagt: Wer sich enga­giert, lebt glückli­cher – und länger.

Es gibt aber auch die Kehr­seite der Medaille. Denn manch­mal sind die Schick­sale der Men­schen, mit denen Ehren­amt­li­che in Kon­takt kom­men, für die Hel­fer selbst zu viel. »Ehren­amt kann auch unter ungünsti­gen Bedin­gun­gen nach­tei­lige Effekte haben: Etwa wenn ehren­amt­li­che Hel­fer bei­spiels­weise mit post­trau­ma­ti­sier­ten Flücht­lin­gen über­for­dert wer­den«, weiß Pro­fes­sor Karim. Des­halb bie­tet er in Tübin­gen und Reut­lin­gen regelmäßige Fort­bil­dun­gen für Flücht­lings­hel­fer an. Auch Ärger unter den Hel­fern bis hin zu Mob­bing könne zu psy­cho­so­ma­ti­schen Beschwer­den führen, weiß der Fach­mann zu berich­ten.

Vom ehren­amt­li­chen Enga­ge­ment also direkt in den Bur­nout? Für Jürgen Zie­gele, ehe­ma­li­ger Pati­ent des Ring­gen­hofs und heute Vor­sit­zen­der des Förder­krei­ses der Sucht­hilfe der Zieg­ler­schen, ist das zum Glück kein Thema. Klar, »das Ehren­amt ist for­dernd, ohne familiären Rückhalt geht da nichts«, erzählt er, der mehr­mals im Jahr die Tages­reha in Ulm und den Ring­gen­hof besucht, dort die Arbeit des Förder­krei­ses vor­stellt und, ganz wich­tig, »den Pati­en­ten ein­fach zei­gen will, dass man es schaf­fen kann, auch lange nach der The­ra­pie absti­nent zu blei­ben.« Dane­ben orga­ni­siert der Förder­kreis die Jah­res­feste und finan­ziert immer wie­der Pro­jekte, die den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten die The­ra­pie­zeit erleich­tern sol­len. Das sind Ernährungs­kurse, ein Beach­vol­ley­ball­feld oder auch neue Sättel für die Pferde in der tier­gestützten The­ra­pie.

Ein hoher zeit­li­cher und orga­ni­sa­to­ri­scher Auf­wand also, den Jürgen Zie­gele, seine Vor­stands­kol­le­gin Sabine Lor­ber, wie Zie­gele eine ehe­ma­lige Pati­en­tin, und die wei­te­ren fünf Vor­stands­mit­glie­der des Förder­krei­ses stem­men. Was sie bei ihrer Arbeit trägt? »Unter uns herrscht rie­si­ges Ver­trauen, jeder kann sich auf den ande­ren ver­las­sen«, sagt Zie­gele. »Da ist über die Jahre hin­weg eine rie­sige Freund­schaft ent­stan­den.« Wenn er mal etwas nicht schafft, gibt es immer jeman­den, der ihm etwas abneh­men kann. Sabine Lor­ber bestätigt das: »Wir zie­hen alle am glei­chen Strang«, sagt sie. Wie Jürgen Zie­gele den Ring­gen­hof, besucht sie regelmäßig die Fach­kli­nik Höchs­ten und sucht den Kon­takt zu den Pati­en­tin­nen. Manch­mal nimmt sie das auch ganz schön mit: »Dann setze ich mich abends hin und schreibe dem Jürgen Zie­gele eine Mail – oder tele­fo­niere direkt mit ihm, um mich zu sor­tie­ren.«

Das Ehren­amt gibt den bei­den Kraft und Sta­bi­lität, ist »eine Siche­rungs­leine« und hilft, so beschreibt es Sabine Lor­ber, »wach­sam zu blei­ben« im tägli­chen Kampf gegen die Sucht. Freund­schaft, »ein genia­les Team« und nicht zuletzt die vie­len posi­ti­ven Rückmel­dun­gen der Pati­en­ten mach­ten das Enga­ge­ment zu einer »Win-Win-Situa­tion für alle«. »Meine größte Moti­va­tion«, sagt Sabine Lor­ber, »sind die glänzen­den Augen und die Dank­bar­keit der Pati­en­tin­nen, die sehen, dass man nie die Hoff­nung ver­lie­ren sollte«.

Dank­bar – das ist auch Dora Haag aus Den­ken­dorf. Seit gut ein­ein­halb Jah­ren lebt sie dort im Senio­ren­zen­trum Mar­tin-Luther-Haus und nimmt alle gebo­te­nen Akti­vitäten mit Freude an. »Ich bin immer dabei, egal was ist«, erzählt die 92-Jährige. Und fügt strah­lend hinzu: »Letz­tens wur­den Waf­feln geba­cken, das war schön, die hat man gleich essen dürfen.« Die Ange­bote der Sozia­len Betreu­ung, die von Ehren­amt­li­chen unterstützt wer­den, sind wich­ti­ger gewor­den. Beson­ders freut sich die gebürtige Den­ken­dor­fe­rin, wenn Schul­klas­sen zu Besuch sind. »Es ist immer nett, wenn die Kin­der kom­men«, erzählt sie, die einige Jahre als Sekretärin in der Schule gear­bei­tet hat. Manch­mal staunt sie, aus wel­chen Ländern die Kin­der alle kom­men, denn sie sei ihr Leb­tag im Ländle gewe­sen. Im Mar­tin-Luther-Haus fühlt sie sich wohl, alle sind nett. »Die tun sich hier schon sehr bemühen, ich kann nichts Schlech­tes sagen.«

Die einen schen­ken also Zeit, um Men­schen wie Dora Haag den Lebens­abend zu verschönern. Andere wie­derum hel­fen mit Geld, zum Bei­spiel, weil sie der Gesell­schaft etwas zurückge­ben, ein­fach hel­fen oder auch über ihr eige­nes Leben hin­aus Gutes tun möchten. Einer, der sich auf diese Weise ein­bringt, ist Bern­hard Leib­fried. Der Wirt­schaftsprüfer und Steu­er­be­ra­ter ist Vor­stand der Dr. Schulze-Stif­tung und hat seit 2014 bereits 35.000 € für Pro­jekte in der Alten­hilfe der Zieg­ler­schen gespen­det. Den Stif­ter, Dr. Paul Schulze, kannte Leib­fried persönlich. Viele Jahre wurde die­ser von sei­ner Frau Ilse zu Hause gepflegt. Daher war es den Schul­zes ein Anlie­gen, Geld für Pflege, nicht für Appa­ra­te­me­di­zin bereit­zu­stel­len. Mitt­ler­weile ist das Ehe­paar ver­stor­ben, Bern­hard Leib­fried führt die Stif­tung in ihrem Sinne fort. Die zum Teil aufwändige Vor­standstätig­keit sieht er als sein Ehren­amt, »weil ich es ein­fach schön finde, im gemeinnützi­gen Bereich was zu machen«.

Ravens­burg im Februar, 14:30 Uhr. Die Sonne scheint durch die Fens­ter der Stadt­kir­che. Es ist ruhig gewor­den. Die, die nur zur Mit­tags­pause vor­bei­ge­schaut haben, sind wie­der weg. Übrig sind die, die nicht zurück müssen oder noch nicht wol­len – auf die kalte Straße oder in die Ein­sam­keit der eige­nen vier Wände. Kla­vier­mu­sik erklingt. »Eine Dame hat mir mal gesagt, die Ves­per­kir­che ist wie ein gutes Fern­seh­pro­gramm «, erzählt ein Ehren­amt­li­cher, der gerade Pause macht. Sein schönstes Ves­per­kir­che­ner­leb­nis hatte er heute. Eine ver­ges­sene Hand­ta­sche wurde bei ihm abge­ge­ben und zwan­zig Minu­ten später kam eine auf­ge­regte Dame, die sicher war, die Hand­ta­sche wurde geklaut. »Als ich ihr die Tasche zurückge­ben konnte, hat sie gestrahlt, mich gedrückt und mir einen Kuss auf die Wange gege­ben.«

Erfahren Sie mehr

18.000 warme Essen, 13.000 Gäste, 470 Ehrenamtliche und 125.000 Euro Spenden – die Vesperkirche Ravensburg lebt davon, dass Menschen Gutes tun.
mehr lesen: www.vesperkirche-ravensburg.de

Aufwärmen für den Stadtlauf München: Viele besondere Erlebnisse für die Schüler der Leopoldschule sind nicht zuletzt Dank der Hilfe ihres Fördervereins möglich.
mehr lesen: www.zieglersche.de/leopoldschule

»Ich bin immer dabei, egal was ist« – Dora Haag, 92 Jahre, freut sich über die Angebote der Ehrenamtlichen im Seniorenzentrum Martin-Luther-Haus Denkendorf.
mehr lesen: www.zieglersche.de/sz-denkendorf

Bernhard Leibfried (l.) zu Gast in den Zieglerschen.