Titelthema
September 2018
Wie Sport hilft
Wie alte und junge Menschen in den Zieglerschen von Sport und Bewegung profitieren.
Text: Annette Scherer, Vanessa Lang und Sarah Benkißer
Bewegung tut gut. Eine Volksweisheit ist das schon lange, unzählige wissenschaftliche Studien belegen es außerdem und mit mahnendem Unterton hat es sicherlich auch jeder von uns schon einmal gehört. Auch in den Zieglerschen spielen Sport und Bewegung eine große Rolle: Yoga im Seniorenzentrum, Hip Hop für Grundschüler, Fitnesstraining für Suchtpatienten oder gemeinsames Trainieren von Menschen mit und ohne Behinderung. Die visAvie-Redaktion hat sich umgehört, was Sport und Bewegung für die Menschen in den Zieglerschen bedeuten und wie Sport hilft ...
»Mit Tanzen kann man leicht werden und stark«, findet Constantin, 8 Jahre. Einmal pro Woche geht er zusammen mit anderen Grundschulkindern der Wilhelmsdorfer »Schule am Wolfsbühl« zum Tanzunterricht. Einige der Schülerinnen und Schüler bleiben sogar nach dem Unterricht da, um an der freiwilligen Tanz-AG teilzunehmen. »Der natürliche Bewegungs- und kreative Schaffensdrang der Kinder ist groß und voller Ideen«, berichtet Dorothee Dick, Lehrerin für Kunst, Wahrnehmung und Tanz an dem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum, das zum Hör-Sprachzentrum der Zieglerschen gehört.
Das kreative Bewegungsangebot hat einen großen Nutzen für die Entwicklung der Kinder: »Die moderne Hirnforschung bestätigt, dass die Bewegung unseres Körpers für Gedächtnisleistung und erfolgreiches Lernen eine wichtige Bedeutung hat. Tanz trainiert die Merkfähigkeit, die Motorik und die Koordination«, erklärt sie. In ihrem Unterricht steht der Zeitgenössische Tanz im Mittelpunkt, insbesondere Tanztechnik und Improvisation, dazu Elemente aus Hip Hop und Breakdance. In besonderen Projekten, die durch Spenden von Eltern oder von Stiftungen, etwa der Doris Leibinger- oder der Johannes-Ziegler-Stiftung ermöglicht werden, begegnen die tanzbegeisterten Schulkinder zudem professionellen Tanzschaffenden. So entwickelten Jugendliche gemeinsam mit dem Vorarlberger Tänzer Martin Birnbaumer ein Tanzstück in Anlehnung an das Bilderbuch »Harold und die Zauberkreide«. Das Ziel solcher Projekte wie auch des regulären Tanzunterrichts ist klar umrissen: »Die Kinder erweitern ihr Bewegungsrepertoire, sie erlernen Bewegungsabläufe, die sie in Form von Choreografien tanzen können, alleine und in der Gruppe«, so Dorothee Dick. Die Kinder selbst, die die Schule am Wolfsbühl besuchen, weil sie sonderpädagogische Förderung im Bereich Hören beziehungsweise Sprache benötigen, nehmen die Lerneffekte nur unbewusst mit. Sie leben vor allem die pure Freude an der Bewegung aus. Die achtjährige Viktoria beschreibt es so: »Wenn ich tanze, dann tanzt mein Herz mit! Wenn ich tanze, dann ist das Glück.«
Auch für ältere Menschen ist Sport wichtig. Chi Gong im Henriettenstift, Yoga im Seniorenzentrum Im Welvert in Villingen und Bauchtanz mit Hüftschwung in Bad Waldsee. An diese eher ausgefallenen sportlichen Betätigungsfelder denkt Monika Materna, fachliche Referentin in der Altenhilfe, spontan, wenn man sie auf das Thema »Sport in der Altenhilfe« anspricht. »Daneben gibt es natürlich auch Sitztänze, Ballspiele, die in den Alltag integriert werden, Kegeln, Heimtrainer, mit denen man vom Sofa aus die Arm- und Beinmuskeln trainieren kann, Sturzprophylaxe mit ausgebildeten Physiotherapeuten und vieles mehr«, erzählt sie. Nicht zu vergessen das »Nageln« im Seniorenzentrum Erolzheim: Angeleitet von Pflegedienstleiter Florian Mayr versenken Seniorinnen und Senioren unter großem »Hallo« mit einem Hammer Nägel in einen Baumstamm. Und welcher Sport ist bei den Bewohnern der Seniorenzentren der beliebteste? Da muss Monika Materna nicht lange überlegen: »Ganz eindeutig das Tanzen bei Festen! Das gilt selbst für Rollstuhlfahrer, die sich zur Musik wiegen und für die Bewegung begeistern lassen«, verrät sie. Ebenfalls sehr beliebt, und natürlich auch eine Form von Bewegung, sind übrigens Ausflüge. Sie werden meist von den Freundeskreisen und ehrenamtlichen Helfern unterstützt.
Warum sind Sport und Bewegung auch – oder gerade – im Alter so wichtig? »Je mehr man sich bewegt, desto geringer ist die allgemeine Sturzgefahr, weil man sowohl die Sicherheit beim Gehen als auch das Gleichgewichtsgefühl bewahrt«, weiß Monika Materna. Auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz und Arthrose wirke Bewegung präventiv. Wichtig sei es allerdings, die Biografie jedes Einzelnen zu berücksichtigen: Wer sich sein ganzes Leben lang viel bewegt habe, dem solle man auch im Alter Bewegung ermöglichen und dabei seine Vorlieben beachten. Wer sich nie viel bewegt habe, den sollte man im Alter körperlich nicht überfordern.
»Wenn ich ehrlich bin, habe ich über zehn Jahre gar keinen Sport mehr gemacht, nur noch konsumiert«, sagt Markus H. »Konsumiert« heißt in seinem Fall: Alkohol, Tabletten, Cannabis. Seit knapp vier Monaten ist er auf dem Ringgenhof, der Fachklinik für suchtkranke Männer, um hier eine Therapie zu machen, die ihn auf seinem Weg in ein suchtmittelfreies Leben unterstützt. Sport ist ein wichtiger Bestandteil seines Programms: Drei Mal pro Woche trainiert Markus H. bei Sporttherapeut André Letzner, zusätzlich geht‘s ins Fitnessstudio der Klinik. »Als ich hier angekommen bin, war ich total fertig«, berichtet er, aber es habe sich einiges getan bei ihm: »Quasi von null auf hundert, was Kondition und Wohlbefinden angeht«, so beschreibt er den Effekt, den der Sport auf seinen Gesundheitszustand hatte. Bei Antritt seiner Therapie hatte er zu hohen Blutdruck und einen zu hohen Puls. Doch allein durch den Sport hätten sich seine Werte normalisiert, erzählt er weiter. Medikamente habe er keine gebraucht − entscheidend für jemanden mit einer Tablettenabhängigkeit.
Mit einem gewissen Stolz in der Stimme berichtet Markus H., dass er bei der Sporttherapie in der anspruchsvollsten Gruppe ist. Es wird nach drei Leistungsstufen unterschieden − je nach Belastbarkeit. Patient H. macht im »Sport 3« Ausdauer- und Intervalltraining, geht laufen und noch einiges mehr. Seine neue Lieblingssportart, die er erst hier in der Klinik begonnen hat, ist Volleyball. Das möchte er auch weiterhin spielen, wenn er in neun Wochen den Ringgenhof verlässt. »Da werde ich mir einen Verein suchen«, sagt er. Und sollte das nicht gleich klappen, dann will er eben weiter ins Fitnessstudio gehen. Wie wichtig die körperliche Betätigung auch für seinen Therapieerfolg ist, hat er bei seinem Aufenthalt in der Suchtfachklinik gelernt. »Ich muss da auch echt mal ein Lob aussprechen«, sagt er zum Schluss. »Ich habe schon zwei Einrichtungen kennengelernt, aber der Ringgenhof ist echt tipptopp, wenn man sich sportlich betätigen will.«
Gesund für Körper und Seele ist Sport zweifellos. Und ihm wird noch eine weitere Wirkung zugeschrieben, die vor allem Menschen zugutekommt, die sonst eher am Rande der Gesellschaft stehen: Integration bzw. »Inklusion«, also Teilhabe an der Gesellschaft. Ein Parade-Beispiel dafür sind die Volleyballer Dennis Kutzner und Oliver Brückner. Im Wilhelmsdorfer »Unified«-Team bilden sie ein Tandem. »Im ›Unified-Sport‹ gibt es immer einen ›Athleten‹ mit Behinderung und einen ›Partner‹ ohne Behinderung, der den Athleten unterstützt«, erklärt Oliver Brückner. »Aber das spielt bei uns keine Rolle, wir sind eine Gemeinschaft. Der Teamgedanke und der Spaß stehen im Vordergrund.« Genau das hat den 20-jährigen Abiturienten, der bald eine Ausbildung zum technischen Produktdesigner beginnt, motiviert, sich vor einem Jahr dem Unified-Volleyballteam anzuschließen. Dennis Kutzner, 23, der die Schule der Zieglerschen in der Haslachmühle besucht hat und jetzt in einem Café arbeitet, ist hingegen schon ein »alter Hase«. Als die Wilhelmsdorfer 2015 bei den Weltspielen der Special Olympics − den Olympischen Spielen für Menschen mit geistiger Behinderung − in Los Angeles Gold holten, führte er das Team als Kapitän an. »Da ist für mich ein Traum wahr geworden«, erinnert er sich.
Von der täglichen Stunde Schulsport bis zur Teilnahme an den Special Olympics gibt es bei den Zieglerschen außergewöhnlich viele Sportangebote für Menschen mit Behinderung: Fußball, Volleyball, Tischtennis, Schwimmen, Laufen, Trampolin − um nur ein paar zu nennen. Möglich ist das durch die vielfältigen Kooperationen in Wilhelmsdorf, allen voran mit der Turn- und Sportgemeinschaft (TSG) Wilhelmsdorf. Aber auch mit dem örtlichen Gymnasium: Dieses hat als bundesweit einziges Gymnasium ein Sport-Leistungsprofil, das an den Special Olympics orientiert ist. Statt Leistungssport lernen die Schüler Breitensport und können eine Schüler-Mentorenausbildung absolvieren. Sie befähigt Schüler, beim Training von Menschen mit Behinderung mitzuhelfen. Auch Menschen mit Behinderung selbst können als Trainer arbeiten.
Sport ist in der Behindertenhilfe der Zieglerschen zum zweiten Spezialgebiet neben der Unterstützten Kommunikation geworden. Auch ein Grund, weshalb viele Menschen mit Behinderung gerne in Wilhelmsdorf wohnen möchten. Denn so viele Sportgruppen mit einer so hohen Trainingsqualität gibt es sonst kaum irgendwo. Michael Stäbler arbeitet als Fachlehrer in der Haslachmühle und engagiert sich zudem ehrenamtlich stark für den Unified-Sport – als Trainer bei der TSG Wilhelmsdorf und als Landesbeauftragter für »Jugend trainiert für Special Olympics bzw. Paralympics«. »Eigentlich ist der Alltags-Sport noch viel wichtiger als der Spitzensport«, erklärt er. Als Sportler habe man fixe Termine in der Woche, an denen man einen Ausgleich zum Alltag finde, Freunde treffe und sich auch mal so richtig auspowern könne. Dabei würden Kondition und Konzentration trainiert und Stress abgebaut. Die Erfolge im Team steigerten zudem das Selbstwertgefühl.
Für Dennis Kutzner und Oliver Brückner ist Sport der Hauptbestandteil ihrer Freizeit. Sie spielen Volleyball und Fußball, trainieren drei bis sechs Mal pro Woche – und haben Freundschaft geschlossen. »Ohne Sport könnte ich nicht leben«, sagt Dennis. »Wenn Dennis meine Hilfe braucht, bin ich da«, sagt Oliver. So helfe er ihm zurzeit bei der Vorbereitung auf die Führerscheinprüfung. Weil es die Fragen für die Theorie nicht in Leichter Sprache gibt, könne der Freund nicht alles verstehen. Ein sportliches Ziel haben sie auch vor Augen: die nächsten Weltspiele der Special Olympics 2019 in Abu Dhabi. Dort wird Dennis Kutzner wieder als Kapitän auflaufen. »Vorher müssen wir aber noch an deiner Führungsqualität arbeiten. Du meckerst zu oft«, sagt Oliver augenzwinkernd. »Stimmt«, gibt sein Teamkollege zu. »Seit ich Käpt‘n bin, bin ich ein bisschen aufgedreht. Daran will ich was ändern und nicht immer so streng sein.« Wer die beiden erlebt, hat keinen Zweifel. Das schaffen sie: die Titelverteidigung in Abu Dhabi ist drin!
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»Je mehr man sich bewegt, desto geringer ist die allgemeine Sturzgefahr, weil man sowohl die Sicherheit beim Gehen als auch das Gleichgewichtsgefühl bewahrt«, sagt Monika Materna, fachliche Referentin in der Altenhilfe der Zieglerschen.

Für Dennis Kutzner und Oliver Brückner ist Sport der Hauptbestandteil ihrer Freizeit. Sie spielen Volleyball und Fußball, trainieren drei bis sechs Mal pro Woche – und haben Freundschaft geschlossen.

André Letzner, 49, ist Sporttherapeut in der Suchtfachklinik Ringgenhof der Zieglerschen.