Titelthema
Dezember 2020
Der erste Tag
Drei, zwei, los: Wie haben Menschen bei den Zieglerschen ihren ersten Tag erlebt?
Text: Sarah Benkißer, Emily Gasser, Vanessa Lang, Annette Scherer und Jens Walther
»Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne ...«, so formulierte es einst Hermann Hesse. Anders gesagt: Der erste Tag ist immer ein besonderer. Neugier, Vorfreude, aber auch Unsicherheit und Angst – viele Emotionen sind damit verbunden. Wie wird der neue Job oder der erste Schultag? Wie stellt man sich einem Anfang, den man eigentlich nicht will? Zum Beispiel im Pflegeheim oder in einer Jugendhilfeeinrichtung? Und was ist, wenn ein Anfang nicht ausreicht und man viele Anläufe bis zum Ziel braucht? Wir haben uns umgehört, wie Menschen bei den Zieglerschen ihren ersten Tag erlebt haben und was aus ihren Eindrücken wurde ...
Es ist ein wahres Wechselbad der Gefühle, das Sariaka Andrianome bei ihrem Start in ein neues Leben durchsteht: 2016, vor vier Jahren, kommt die heute 28-Jährige aus Madagaskar nach Deutschland. Eine Frau aus Berlin hatte ihr von Deutschland erzählt und den Wunsch in Sariaka geweckt, dort zu leben. »Der erste Tag war komisch und etwas verrückt«, erzählt sie. Sie reist über Frankreich nach Hannover, wo sie bei einer Gastfamilie als Au-pair arbeiten will. Am Flughafen verläuft sie sich und irrt eine Stunde herum, ehe sie den Ausgang findet. »Neu anzukommen war schwierig«, erinnert sie sich. »Alles war anders als zu Hause.« Sie braucht eine Weile, bis sie sich eingelebt hat.
Nach ihrem Au-pair-Jahr kommt der nächste »Kulturschock«. Sariaka Andrianome hat sich in der Behindertenhilfe der Zieglerschen für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) beworben – und zieht von der Großstadt Hannover aufs Land nach Wilhelmsdorf. Wieder erlebt sie eine kleine Odyssee bei der Anreise. Ganz alleine fährt sie mit dem Zug in Hannover los, hat davor Angst, und tatsächlich: Der Zug kommt wegen technischer Probleme nur bis Düsseldorf. Den Ersatzbus verpasst sie und muss eine ganze Nacht ausharren, bis sie weiterreisen kann. Ihre Gastmutter in Hannover unterstützt sie moralisch per Telefon.
Endlich angekommen, wird nun alles leichter. Sariaka, die bereits weiß, dass sie nach dem FSJ eine Ausbildung zur Altenpflegerin im »Haus Schild« der Behindertenhilfe beginnt, bekommt von ihrem Team gleich Unterstützung. Das habe ihr den Start sehr erleichtert, erzählt die begeisterte Joggerin. Doch bis sie sich selbstständiges Arbeiten zutraut, dauert es. »Ich sollte die Wohngruppe für den Herbst dekorieren, aber Deko kannte ich höchstens an Weihnachten«, berichtet sie. Und meist hätte man in Madagaskar gar kein Geld für Weihnachtsschmuck, ebenso wenig wie für Geschenke. Man gehe einfach in die Kirche und feiere mit der Familie. Das erste Weihnachten in Deutschland habe sie fasziniert, ebenso die Jahreszeiten: Warum werden die Blätter bunt? Im tropischen Klima ihrer Heimat gibt es das nicht. Mittlerweile hat Sariaka ihr zweites Ausbildungsjahr begonnen. Ihr Freund ist aus Madagaskar nachgereist und hat bei den Zieglerschen Arbeit gefunden. Sariaka ist angekommen. Rückblickend sagt sie: »Man muss immer positiv denken, wenn man etwas macht.« Der Satz ist ihr wichtig.
Wesentlich unaufgeregter gestaltet sich der Neuanfang für Didier aus Bayern. Im September 2019 kommt der Zwölfjährige in die Jugendhilfeeinrichtung Martinshaus Kleintobel. Kathrin Frick, die Didier seit seinem Einzug kennt und inzwischen seine Bezugserzieherin ist, erinnert sich: »Didier hat von Anfang an mit allen Kontakt geschlossen. Das war ein sehr harmonischer Start.« Er wird von seiner Mutter mit dem Auto gebracht und kommt einen Tag früher als alle anderen in Kleintobel an. »Das machen wir immer so«, sagt Kathrin Frick. »Am Aufnahmetag müssen die Kinder viele Formulare ausfüllen, dann wird das Zimmer eingeräumt. Danach ist Zeit, sich von den Eltern zu verabschieden. Das geht am besten, wenn noch nicht alle da sind«, erklärt die Erzieherin das Aufnahmeprozedere.
Und Didier? »Ich fand das erst mal nicht so cool«, sagt er nüchtern. Er hat schon viel »Schul-Frust« erlebt: »Auf jeder Schule hab ich nach einem Jahr gewechselt«, berichtet er. Anfangs liegt das an Umzügen der Familie, danach kommen schlechte Zeugnisse ins Spiel. »Ich hab selten Hausaufgaben gemacht oder gelernt, weil mir das alles zu viel war«, sagt er. Auf einem Internat kommt er ebenso wenig zurecht wie am Regelgymnasium. Nun also Kleintobel.
»Am ersten Tag hatte ich schon ein bisschen Heimweh, aber nicht sooo«, erzählt Didier. Erstmal lernt er seine Wohngruppe kennen, die »IWG 2«. Die Erzieher dort »waren ganz cool«, erinnert er sich. Und mit einem Jungen von der benachbarten »IWG 1« unterhält er sich lange, entdeckt gemeinsame Interessen. Am Abend fahren sie mit den Erziehern nach Ravensburg – es gibt Abendessen im Fast-Food-Restaurant. Mit dem Jungen von der IWG 1 guckt Didier noch einen Film – und dann ist der erste Tag auch schon vorbei. Der erste Schultag ist ebenfalls »ganz okay«. Eigentlich müsste Didier die 6. Gymnasialklasse wiederholen, aber er entscheidet sich, lieber in den Realschulzweig und dort in die 7. Klasse einzusteigen. »Da waren zwei, mit denen habe ich in der Pause Basketball gespielt«, erzählt er. Der eine sei mittlerweile sein bester Freund – »ja, eigentlich sogar beide«.
Kontakt zu Menschen zu knüpfen, die in derselben Situation sind wie man selbst, kann einen Neuanfang vereinfachen, wissen die Psychologen (siehe unseren Expertentipp). Margit Scheerer hingegen liegt genau das gar nicht. »Ich bin am liebsten für mich auf meinem Zimmer«, sagt die 63-Jährige. Ihr Zimmer befindet sich im Seniorenzentrum Bad Waldsee und Margit Scheerer ist eine Bewohnerin der »ersten Stunde«. Als das Haus 2003 eröffnet, zieht sie in eine der angeschlossenen Betreuten Wohnungen. Da ist sie erst 44 Jahre, doch durch ihre Multiple Sklerose ist sie pflegebedürftig. Zuvor hat sie bei ihren Eltern gelebt. Der Vater betreibt eine Baumschule und ist wenig zu Hause. Die Mutter kümmert sich um die schwer kranke Tochter. Der Umzug war »keine leichte Entscheidung«, erinnert sie sich. Die Mutter sagte damals, sie kann so nicht mehr. Aber Margit Scheerer besteht darauf, dass sie selbst die Entscheidung getroffen habe, in das Seniorenzentrum zu ziehen.
An den ersten Tag erinnert sie sich nur noch vage: Die Mutter habe ihre Sachen gepackt und sie zur neuen Wohnung gefahren. Einige Möbel habe sie mitnehmen können. »In der großen Zwei-Zimmer-Wohnung konnte ich ja recht selbstständig leben.« Nach einer Operation folgt einige Zeit später der Wechsel vom Betreuten Wohnen ins Pflegeheim – ein »zweiter erster Tag«. »Damit habe ich mich dann nicht mehr schwergetan«, erzählt sie. Schließlich habe sie das Haus und das Personal ja schon gekannt.
Dass Margit Scheerer auch noch einen »dritten ersten Tag« vor sich hat, steht bereits fest: Im Frühjahr 2021 wird das Seniorenzentrum in einen Neubau umziehen, der gerade ein paar hundert Meter entfernt entsteht. Den Umzug sieht sie mit gemischten Gefühlen. »Es ist schade, dass wir von der Stadtmitte weggehen«, sagt sie bedauernd, »die Nähe zum Stadtsee wird mir fehlen.« Andererseits werde natürlich alles neu und moderner sein. »Und wenn die Spaziergänge am See weiter möglich sind, dann wird das wohl schon gut.«
Während Margit Scheerer mit ihren »drei ersten Tagen« in der Altenhilfe eine Ausnahme ist, gibt es in der Suchthilfe der Zieglerschen häufiger Menschen, die mehrere Anläufe nehmen. Es sind Patientinnen und Patienten, die nach der Rückkehr in den Alltag rückfällig werden, sich aber für eine erneute Therapie entscheiden. So wie Klaus P.*, damals 48. Er hat 2012 seinen ersten Tag in der Tagesreha der Zieglerschen in Ulm. Da ist er bereits 32 Jahre lang alkoholkrank und spielsüchtig. Relativ spontan hat er sich entschieden, ohne professionelle Unterstützung mit dem Trinken und Spielen aufzuhören. Am nächsten Tag bricht er bei der Arbeit zusammen – eine Folge des Entzugs. Sein Arzt rät ihm umgehend zu Entzug und Reha, Klaus P. befolgt den Rat. Unterstützt von seinem damaligen Arbeitgeber, für den er schon lange arbeitet und bei dem er gut verdient, startet er seine erste Therapie. Wenige Tage nach der Entlassung beginnt er wieder zu trinken und zu spielen.
An seinen »zweiten ersten Tag« – 2014 – erinnert sich Klaus P. noch gut: »Als meine Frau und ich in Wilhelmsdorf an der Fachklinik Ringgenhof ankamen, hatte ich große Angst, dass ich jetzt eingesperrt werde.« Spontan bittet er seine Frau, ihn wieder mit nach Hause zu nehmen. Sie weigert sich – und so bleibt er in der Klinik für suchtkranke Männer sechs Wochen. Er entwickelt einen guten Draht zu seinem Therapeuten. Trotzdem wird er wieder rückfällig. »Heute denke ich: die Zeit war zu kurz. Schon beim Abschied wusste ich, dass ich wieder trinken werde.« Sehr ungünstig sei auch gewesen, dass er zu alten Bekannten und unguten Gewohnheiten zurückgekehrt sei. Und dass er sich keiner Selbsthilfegruppe angeschlossen hat. In dieser Zeit scheitert seine Ehe. Und ein Verwandter, der ihm sehr wichtig war, stirbt.
Sechs Jahre später, am 17. Februar 2020 um 9 Uhr, beginnt Klaus P. seinen »dritten ersten Tag«, wieder in der Fachklinik Ringgenhof. Jetzt ist er sicher: »Das ist mein Start in ein neues Leben.« Hatte er keine Angst, seine Therapeuten wiederzusehen und vielleicht als »Versager« dazustehen? »Gar nicht«, sagt er. Im Gegenteil. Er habe sich bewusst wieder für den Ringgenhof entschieden. »Ich hatte viel nachgedacht und vieles abgeschlossen«, erzählt er. Vor allem habe er erkannt, »dass ich niemandem mehr etwas beweisen und nicht mehr dem vielen Geld hinterherrennen muss«. Denn das »hat mich nicht glücklich gemacht, sondern kaputt«.
Einer, der ebenfalls neue Lebensenergie bei den Zieglerschen gefunden hat, ist Roland Probst. An seinem ersten Tag in der Hausmeisterei der »Schule am Wolfsbühl« in Wilhelmsdorf ist er 54 Jahre. Ein bewegtes und arbeitsreiches Leben steckt ihm da bereits in den Knochen. Zuerst lernt er den Beruf des Winzers. Später kommen Stahlschweißer, Baggerführer und Kfz-Mechaniker dazu. Mehr als 35 Jahre arbeitet er bei jedem Wetter im Freien oder saniert an sechs Tagen pro Woche Altbauten. »Ich habe mich zuletzt wie ein Wanderarbeiter gefühlt«, blickt er zurück.
Weil er nicht mehr wochenlang von seiner Familie getrennt sein möchte, wird Roland Probst arbeitslos. 2008 vermittelt ihn das Arbeitsamt als Ein-Euro-Jobber an die Zieglerschen. An seinen ersten Arbeitstag erinnert er sich noch gut, »ich musste Fliesen neu verfugen«. Doch nach einer Woche wird er krank, hat einen Blinddarmdurchbruch. Sein Chef aber hält ihm die Stelle frei: »Der Roland kommt, sonst keiner!«
2009 wird er fest ins Team aufgenommen, zuerst als Krankheitsvertretung, dann als Angestellter: »Ich bin gut aufgenommen worden.« Hier, im Hör-Sprachzentrum, passt jetzt alles für den heute 67-Jährigen. Seine Aufgabe, die Instandhaltung des gesamten Schulgebäudes einschließlich Außenanlagen, empfindet »der Draußenmensch«, wie er sagt, als angenehm und abwechslungsreich. Die Erfahrungen seiner früheren Berufe kann er nutzen und lernt noch etwas Neues: den Kontakt mit hör- und sprachbehinderten Kindern, »mit denen du vor allem zusammen bist«. Es klappt gut. Am 1. Mai 2020 hätte Roland Probst in den Ruhestand gehen können, doch er hat verlängert. »Ich kann mir vorstellen, auch 2021 noch zu arbeiten«, sagt er. Dann wäre er 68 ...
Auch Klaus P.s Geschichte endet nicht mit dem dritten Therapieversuch, sondern mit einem neuen Platz im Leben. Weil er schon immer gerne mit alten Menschen zu tun hatte und auch sein Sohn in der Pflege beschäftigt ist, beginnt der inzwischen 56-Jährige ein Praktikum in einem Seniorenzentrum der Zieglerschen. Hier fühlt er sich wohl, die Arbeit passt. Deshalb hat Klaus P. bald seinen »vierten ersten Tag«: Anfang 2021 wird er fester Mitarbeiter der Altenhilfe! »Ich freue mich darauf. Endlich keine Versteckspiele mehr, alle kennen meinen Hintergrund. Und jeden Tag denke ich: Jetzt hast du auch mal geholfen – Menschen, die es nötig haben.«
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Sariaka Andrianome (Pfeil) kurz nach ihrer Ankunft im September 2017 – beim Treffen der FSJLer
Freundschaft: Am ersten Schultag spielt Didier mit zwei Jungs in der Pause Basketball – mittlerweile sind sie die besten Freunde.
Ausblick: »Mal sehen, vielleicht arbeite ich noch nächstes Jahr«, meint Roland Probst. Dann wäre er 68 ...