Titelthema

April 2016

»... und kein bisschen leise!«

Wenn sich eine Ein­richtung, in der größten­teils Menschen leben, die gehörlos sind, als Motto zum 50-jährigen Jubiläum »… und kein bisschen leise!« aussucht, dann muss dort ein besonderer Menschen­schlag arbeiten. Leute mit Humor, aber auch mit Kampfgeist. Leute, die sich ins Zeug legen für die Menschen mit Hör-Sprach- und gleich­zeitiger geistiger Behin­derung, die in dieser Einrichtung eine Schule, einen Sprach­raum und vor allem ein Zuhause gefunden haben. Als »Komplex­stand­ort« hat die Haslach­mühle im 50. Jahr der Arbeit als Ein­richtung für Menschen mit Behinderung keinen leichten Stand in der aktuellen Inklusions­debatte. Doch wie wurde die Haslach­mühle zu der Ein­rich­tung, die sie heute ist? Und wie kann es für sie weitergehen? VisAvie hat fünf frühere, aktuelle und künftige Leitungs­kräfte aus der Haslach­mühle getroffen und sich mit ihnen über die Haslach­mühle zwischen gestern, heute und morgen unterhalten.

Text: Sarah Benkißer mit Hilfe vieler aktueller und ehemaliger Kolleginnen und Kollegen der Haslachmühle

»Weißt du, ich schum­mel immer ein biss­chen, wenn ich über die Ent­ste­hung der Has­lachmühle erzähle«, gesteht Bernd Eisen­hardt sei­nem ehe­ma­li­gen Chef und Amts­vorgänger Ernst Blickle. »Ich behaupte immer, du seist damals mit dei­nen Schülern hier­her gekom­men, weil ihr euch in der Gehörlo­sen­schule in Wil­helms­dorf nicht an das Gebärden­ver­bot gehal­ten habt.« Dass Bernd Eisen­hardt, seit 2014 Direk­tor der Heim­son­der­schule (bzw. laut neuem Schul­ge­setz des »Son­derpädago­gi­schen Bil­dungs- und Bera­tungs­zen­trums «) Has­lachmühle damit zwar nicht ganz recht hat, aber von der Wahr­heit auch nicht allzu weit ent­fernt ist, stellt sich im Gespräch mit Ernst Blickle und Eisen­hardts Stell­ver­tre­te­rin Sonja Fahr­bach schnell her­aus.

Blickle gehört zusam­men mit der ver­stor­be­nen Heidi Zieg­ler zu den Pio­nie­ren der Schule in der Has­lachmühle. Im Dezem­ber 1966 zogen die bei­den als Leh­rer mit 12 gehörlo­sen Schülern mit geis­ti­ger Behin­de­rung in die Has­lachmühle ein. Bereits im Frühjahr des­sel­ben Jah­res war eine Erwach­se­nen-Wohn­gruppe auf das Gelände gekom­men, die in der angren­zen­den Land­wirt­schaft arbei­tete. Zu die­sem Zeit­punkt waren die Gebäude in der Has­lachmühle gerade frei gewor­den. Die »Trin­ker­heil­an­stalt«, die noch von Johan­nes Zieg­ler selbst im Jahr 1905/06 dort gegründet wor­den war, war kurz zuvor in den neu erbau­ten Ring­gen­hof nach Wil­helms­dorf umge­zo­gen.

Der Gebäude­leer­stand in der Has­lachmühle sowie die 1965 in Baden-Württem­berg ein­geführte Schul­pflicht für Kin­der mit einer geis­ti­gen Behin­de­rung waren dann auch die eigent­li­chen Gründe, warum die Schul­klasse in die Has­lachmühle ein­zog, berich­tet der Gehörlo­sen­leh­rer Ernst Blickle. »Die Nach­frage nach Bil­dungsmöglich­kei­ten für geis­tig behin­derte Kin­der mit zusätzli­cher Hör-Schädigung war groß«, erin­nert er sich.

Und schon ist das Gespräch beim Thema Gebärden ange­kom­men, für das die Has­lachmühle deutsch­land­weit bekannt ist. Denn wie unter­rich­tet man Kin­der, die gehörlos sind und zusätzlich eine geis­tige Behin­de­rung haben? Das war für die dama­li­gen Pädago­gen eine Her­aus­for­de­rung. Ernst Blickle erzählt: »Ich hab ja in mei­nem gesam­ten Gehörlo­sen­leh­rer-Stu­dium kei­nen Fatz für geis­tig Behin­derte stu­diert!« Der aus heu­ti­ger Sicht nahe­lie­gende Ansatz, sich eben »mit Händen und Füßen« zu verständi­gen, war in der dama­li­gen Gehörlo­senpädago­gik verpönt. Sonja Fahr­bach, seit 2014 stell­ver­tre­tende Direk­to­rin der Has­lachmühle und zuvor in der Bera­tungs­stelle des Hör-Sprach­zen­trums der Zieg­ler­schen tätig, berich­tet von einer Kol­le­gin, der man in der Aus­bil­dung auch zwan­zig Jahre später immer noch gesagt habe: »Behal­ten Sie Ihre Hände am bes­ten auf dem Rücken, damit Sie gar nicht erst in die Ver­su­chung kom­men, etwas mit Gebärden zu erklären.« Gehörlose Kin­der, so die ver­brei­tete Fach­mei­nung, soll­ten möglichst die Laut­spra­che und das Lip­pen­le­sen ler­nen, um gesell­schaft­lich anschlussfähig zu sein. Dass die­ser Anspruch für Gehörlose mit einer zusätzli­chen geis­ti­gen Behin­de­rung eine Über­for­de­rung war, stell­ten Ernst Blickle und seine Kol­le­gen schnell fest. Gemein­sam mit Heidi Zieg­ler, dem 1969 ein­ge­setz­ten Heim­lei­ter Otto Georgi und ande­ren Kol­le­gen besuchte Blickle Schwei­zer Schu­len und ließ sich bera­ten. Auch von den ins­ge­samt nur sechs Schu­len in Deutsch­land, die auf diese spe­zi­elle Ziel­gruppe aus­ge­rich­tet waren, sowie vie­len wei­te­ren Ein­rich­tun­gen ver­schaffte sich der enga­gierte Schul­lei­ter einen persönli­chen Ein­druck: »Ich hab keine Schule gefun­den, wo die Schüler auf dem Pau­sen­hof nicht gebärdet hätten, obwohl sie nie darin unter­wie­sen wor­den waren.«

Mit Heidi Zieg­ler, »Tante Heidi« genannt, hatte die Has­lachmühle die rich­tige Frau im Team: Die Hilfs­schul­leh­re­rin war in der dama­li­gen »Taub­stum­men­an­stalt« der Zieg­ler­schen in Wil­helms­dorf groß gewor­den. »Die hat viel­leicht gebärden können«, sagt Ernst Blickle lachend. Die wis­sen­schaft­li­che Arbeit eines jun­gen Leh­rers bestätigte: Gehörlose Kin­der mit geis­ti­ger Behin­de­rung können Gebärden mit eini­ger Übung sehr gut erler­nen, während nur die wenigs­ten von ihnen beim
Lip­pen­le­sen und in der Laut­spra­che über­haupt irgend­wel­che Erfolge erzie­len. Mit eige­nen Beschrei­bun­gen und selbst gezeich­ne­ten Skiz­zen begin­nen sie also ihre Gebärden­samm­lung. 1971 bringt die Has­lachmühle im Eigen­ver­lag die erste Aus­gabe von »Wenn man mit Händen und Füßen reden muß!« her­aus. »Das haben uns andere Schu­len aus den Händen geris­sen«, erzählt Ernst Blickle.

Mit ihrer Pio­nier­ar­beit schaf­fen die Kol­le­gen um Ernst Blickle aber nicht nur eine neue Kom­mu­ni­ka­ti­onsmöglich­keit für Men­schen mit geis­ti­ger Behin­de­rung, sie wer­den auch zu Weg­be­rei­tern der Deut­schen Gebärden­spra­che (DGS), die von »nor­mal­be­gab­ten« Gehörlo­sen gespro­chen wird. 1972 wird Ernst Blickle nach Ham­burg ein­ge­la­den und wirkt als Experte an der Aus­wahl der Gebärden für die spätere DGS mit. Heute distan­zie­ren sich Gehörlose teils sehr vehe­ment von den ein­fa­chen Gebärden aus der Has­lachmühle. Bernd Eisen­hardt hat dafür Verständnis: »Die Gehörlo­sen wur­den lange bevor­mun­det und ihrer ›Mut­ter­spra­che‹ beraubt. Nach­dem die DGS end­lich offi­zi­ell aner­kannt war, woll­ten sie mit den Gebärden für Men­schen mit geis­ti­ger Behin­de­rung nicht in Ver­bin­dung gebracht wer­den.«

»Schau doch meine Hände an« – so lau­tet der Titel der Gebärden­samm­lung heute. Der Erfolg von »Wenn man mit Händen und Füßen reden muß!« führte nämlich dazu, dass in vie­len ande­ren Schu­len par­al­lel eigene Gebärden­samm­lun­gen ent­wi­ckelt wur­den. Ende der Acht­zi­ger rief der Ver­band evan­ge­li­scher Ein­rich­tun­gen für geis­tig und see­lisch Behin­derte (heute: Bun­des­ver­band evan­ge­li­scher Behin­der­ten­hilfe) die Ein­rich­tun­gen dann an einen Tisch, um eine deutsch­land­weite Verein­heit­li­chung der Gebärden in evan­ge­li­schen Ein­rich­tun­gen zu schaf­fen. Die so ent­stan­dene Samm­lung wird seit 1991 unter dem Titel »Schau doch meine Hände an« ver­trie­ben. Das Feld der Unterstützten Kom­mu­ni­ka­tion reicht mitt­ler­weile zudem weit über die Gebärden hin­aus. In der Has­lachmühle
wird auch mit Bil­dern, Sym­bo­len und tech­ni­schen Hilfs­mit­teln gear­bei­tet. Bernd Eisen­hardt stellt fest: »Seit es Tablets wie das iPad gibt, ist der Markt für Unterstützte Kom­mu­ni­ka­tion auf den Kopf gestellt. Alle benut­zen nun elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel.«

Über­haupt hat sich viel getan in die­sen 50 Jah­ren. Auch die Kli­en­tel hat sich gewan­delt, berich­tet Bernd Eisen­hardt. Während ursprünglich aus­sch­ließlich Gehörlose mit geis­ti­ger Behin­de­rung in der Has­lachmühle leb­ten, macht diese Gruppe heute nur noch etwa ein Vier­tel der Schüler aus. Auch leben heute nur noch etwa die Hälfte der Schüler auf dem Gelände, die ande­ren kom­men aus der Region und wer­den teil­sta­tionär beschult. Bei den Dia­gno­sen hat es eben­falls klare Ver­schie­bun­gen gege­ben. »Das Thema Autis­mus zieht sich wie ein roter Faden in den letz­ten Jah­ren durch die Auf­nah­mean­fra­gen«, sagt Bernd Eisen­hardt. Sonja Fahr­bach ergänzt, dass gerade in jünge­rer Ver­gan­gen­heit viele Eltern von Kin­dern mit psych­ia­tri­schen Dia­gno­sen anfra­gen würden. Ein Ergeb­nis der Inklu­si­ons­po­li­tik? Bernd Eisen­hardt nickt: »Man hat Struk­tu­ren zer­schla­gen, die für man­che Men­schen ein­fach not­wen­dig waren. Die wen­den sich jetzt an die letz­ten ver­blie­be­nen Ein­rich­tun­gen, wo sie noch das Ange­bot fin­den, das sie brau­chen.«

Inklu­sion, Dezen­tra­li­sie­rung, Ambu­lan­ti­sie­rung – diese Ent­wick­lun­gen beein­flus­sen die unmit­tel­bare Zukunft der Has­lachmühle. Das sagen auch San­dro Fer­dani, Bereichs­lei­ter Woh­nen in der Has­lachmühle seit 2012, und Chris­tina Hörr, Grup­pen­mit­ar­bei­te­rin und Pro­jekt­lei­te­rin für den künfti­gen dezen­tra­len Stand­ort Engen. Beide repräsen­tie­ren die junge Gene­ra­tion von Mit­ar­bei­tern, obwohl sie klar sagen, einen Gene­ra­tio­nen­kampf gebe es in der Has­lachmühle nicht. »Her­aus­for­dernd wird es viel­mehr, wenn die gan­zen älte­ren Kol­le­gen in den kom­men­den Jah­ren in Ruhe­stand gehen«, sagt Fer­dani. Qua­li­fi­zier­ten Nach­wuchs zu gewin­nen sei schwie­rig – auch auf­grund der ländli­chen Umge­bung und der schlech­ten Infra­struk­tur. Dass dies auch die Teil­habe für die Bewoh­ner ein­schränkt, sehen beide ebenso.

Wie ist die vor­an­schrei­tende Dezen­tra­li­sie­rung zu bewer­ten? Bei einer Podi­ums­dis­kus­sion in der Has­lachmühle im ver­gan­ge­nen Herbst mel­de­ten sich gleich meh­rere besorgte Eltern zu Wort, die beklag­ten, für ihre Kin­der gebe es im Anschluss an die Schule kei­nen Wohn­platz mehr. Eine Ent­wick­lung, die Schul­di­rek­tor Bernd Eisen­hardt bestätigt: »Die­ses Schul­jahr wer­den wir erst­mals nicht allen Schul­abgängern, die das wol­len, einen Wohn­platz im Erwach­se­nen­be­reich anbie­ten können.«

Chris­tina Hörr kann die Ängste nach­voll­zie­hen: »Für viele Eltern ist es schon mit so vie­len Sor­gen und Vor­ge­schich­ten ver­bun­den, bis sie ihr Kind hier­her in die Schule geben. Dann mer­ken sie: Hier läuft’s. Und wenn sie dann wie­der den Schritt nach draußen gehen sol­len, fan­gen die Ängste von vorne an.« Und natürlich gebe es auch viele ältere Bewoh­ner, die nicht weg woll­ten, weil sie hier ihre Hei­mat gefun­den hätten. »Andere wie­derum sit­zen quasi auf gepack­ten Kof­fern«, berich­tet die Heil­er­zie­hungs­pfle­ge­rin, die schon ihre Aus­bil­dung »in der Mühle« gemacht hat.

Eine Zukunft ohne die Has­lachmühle kann sich trotz aller Debat­ten kei­ner der fünf vor­stel­len: Ins­be­son­dere der ein­zig­ar­tige Sprach­raum, der sich in klei­nen dezen­tra­len Ein­hei­ten nie kopie­ren ließe, macht die Has­lachmühle für nicht spre­chende Men­schen mit geis­ti­ger Behin­de­rung zu einem wert­vol­len Lebens­raum. Aber auch die Ver­kehrs­be­ru­hi­gung ermögli­che den Men­schen hier sogar mehr Selbstständig­keit als in einem städti­schen Umfeld, sagt Chris­tina Hörr: »In Engen müsste ich man­chen Bewoh­nern, die nicht ver­kehrs­si­cher sind, die Tür vor der Nase zusper­ren und sagen: ›Nur in Beglei­tung!‹ Hier können sie sich frei bewe­gen.« San­dro Fer­dani betont, dass sich die Ein­rich­tung aber auf jeden Fall wei­ter­ent­wi­ckeln müsse. »Wir wol­len mehr Begeg­nungs­punkte mit der Bevölke­rung schaf­fen. Ande­rer­seits muss uns klar sein, dass immer mehr Men­schen mit star­ken Ver­hal­tens­auffällig­kei­ten und psych­ia­tri­schen Pro­blem­la­gen zu uns kom­men wer­den. Für diese Men­schen ein Ange­bot zu machen, das sie woan­ders nicht mehr fin­den, ist eine Auf­gabe für uns. Da haben wir einen Auf­trag und auch die Kom­pe­tenz dazu.« Für die Wei­ter­ent­wick­lung wünscht San­dro Fer­dani sich vor allem den Schul­ter­schluss mit der Gemeinde Hor­gen­zell: das zur­zeit geschlos­sene, sanie­rungs­bedürftige Schwimm­bad, ein Mit­tags­tisch für Senio­ren oder ein gemein­sa­mer Kin­der­gar­ten – die Möglich­kei­ten, die Has­lachmühle für die Bevölke­rung der Umge­bung zu öffnen, seien vielfältig. Sowohl der Gemein­de­rat als auch der Bürger­meis­ter von Hor­gen­zell hätten bereits mehr­fach Inter­esse an einem enge­ren Zusam­men­wach­sen bekun­det. Die Zei­chen ste­hen also gut.

Und die Zukunftswünsche für die Has­lachmühle? Ernst Blickle for­mu­liert es so: »Ich wünsche mir, dass die Has­lachmühle sich posi­tiv wei­ter­ent­wi­ckelt und den Bedürfnis­sen der Zeit gerecht wird.« Bernd Eisen­hardt wird kon­kre­ter: »Ich wünsche mir, dass jeder, der in die Has­lachmühle kom­men möchte, hier auch einen Platz bekommt, also ein ech­tes Wunsch- und Wahl­recht hat. Dazu wer­den wir auch in die ent­spre­chende Aus­stat­tung inves­tie­ren müssen.« Sein Kol­lege San­dro Fer­dani ergänzt: »Wenn wir uns zur Has­lachmühle beken­nen, dann muss sie eine offene Ein­rich­tung mit vie­len Kon­taktmöglich­kei­ten sein. Da haben wir noch einen Weg vor uns.«

Erfahren Sie mehr

Bis heute hat die Arbeit mit Gebärden in der Haslachmühle einen hohen Stellenwert.

Christina Hörr und Sandro Ferdani

Ernst Blickle, Bernd Eisenhardt und Sonja Fahrbach (v.l.n.r)

Jubiläum: Die »Heimsonderschule Haslachmühle« heißt nach neuem Schulgesetz »Sonderpädagogisches Bildungs ‑ und Beratungszentrum«. 200 Kinder und Jugendliche werden hier beschult, 260 Personen wohnen auf dem Gelände.