Titelthema
Dezember 2021
Menschlichkeit
Ein großes Wort, das sich oft im Kleinen zeigt. In liebevollen Gesten, achtsamen Zuwendungen und der Zeit, die wir verschenken.
Text: Stefan Wieland, Nicola Philipp , Jacqueline de Riese, Rebekka Barth
»Menschlichkeit ist ein starkes Wort«, sagt Elfriede Riost. Sie ist 94 Jahre alt und lebt im Seniorenzentrum Aldingen. Sie ist eine der Protagonistinnen dieses Titelthemas. Doch was verbirgt sich nun hinter dem starken Wort »Menschlichkeit«? Und was haben Butterbrezel, Dinnete und Franzbranntwein damit zu tun? Die Antwort liegt auf der Hand: Es sind nicht unbedingt die großen Heldentaten, eher kleine Gesten, liebevolle Zuwendungen und die Haltung, den anderen und seine Bedürfnisse wahrzunehmen. Das im Alltag knappe Gut »Zeit« – »Zeit, die man sich trotz allem nimmt« – entpuppt sich als besonders kostbare Gabe.
Marianne Schneider ist Einrichtungsleiterin im Seniorenzentrum Erolzheim. Mehr noch, seit der Einweihung vor 17 Jahren ist sie dort der gute Geist des Hauses. Mit ihrer offenen und sympathischen Art gelingt es der 60-Jährigen, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch die Mitarbeitenden in ihrem Seniorenzentrum zu Hause fühlen. Das zeigt sich auch an den familiären Umgangsformen, mit denen sich die Menschen hier in der Regel begegnen. »Die Bewohner bitten uns oft, sie mit Du und dem Vornamen anzusprechen. Viele wünschen sich das ausdrücklich«, erzählt sie. Dies sei ein schöner Vertrauensbeweis. Ob »Du« oder »Sie« sei letztlich zweitrangig, viel entscheidender sei das gute Miteinander – und das von Beginn an.
»Erstgespräche sind immer das Wichtigste für mich. Das ist der Moment, um eine Beziehung aufzubauen und Ängste zu nehmen – denn die meisten haben Angst, ins Pflegeheim zu gehen.« Ihre Devise dabei lautet »sich Zeit nehmen«, denn die sei wichtig für die Eingewöhnung und Integration. Dafür ließe sie auch einmal andere Aufgaben liegen. Das gelte auch, wenn Familienmitglieder ein Anliegen hätten. »Wenn Angehörige jetzt etwas wollen, ist es wichtig. Punkt. Das kann dann nicht bis zum Angehörigenabend warten«, ist sie sich sicher. »Wenn es ein Problem gibt, dann müssen wir halt gemeinsam eine Lösung finden.« Und auch dafür nimmt sie sich Zeit. »Wir haben es bisher noch immer geschafft, dass sich jeder hier wohlfühlt«, lacht sie und erntet Zustimmung von Maria Luise Wittmann.
Die 68-Jährige lebt seit 2020 im Seniorenzentrum Erolzheim – zuvor kam sie fünf Jahre lang regelmäßig zur Tagespflege. »Mir hat es hier von Anfang an gut gefallen, das Heim und auch die Menschen.« Maria Luise Wittmann engagiert sich heute als Heimbeirätin für die Belange ihrer Mitbewohnerinnen und -bewohner. »Es ist sehr schön hier! Man redet mit den Bewohnern, man singt, man macht vieles gemeinsam.« Gemeinsam Zeit zu verbringen, Quality time, wie es auf Neudeutsch heißt, und: auf die großen und kleinen Wünsche einzugehen, das ist das Wohlfühlrezept in Erolzheim. »Wenn das Wetter schön ist und jemand Geburtstag hat, dann gibt es am Nachmittag eine Dinnete. Oder wir gehen Eis essen oder bestellen den Eiswagen. Da sind wir recht spontan«, erzählt Marianne Schneider und schmunzelt. Auch für die kalte Jahreszeit hat sie schon eine ihrer vielen kreativen Ideen umgesetzt. »Wenn‘s schneit, gibt’s eine Schneebar!« Dann packen alle mit an, zur Not auch mal nach Dienstende, ehrenamtlich. »Irgendwie sind wir hier alle wie eine große Familie.«
Auf die Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner einzugehen, das ist auch Karin Korb im 130 Kilometer entfernten Aldingen wichtig. Sie ist Leiterin der Sozialen Betreuung im dortigen Seniorenzentrum der Zieglerschen. »Mir ist wichtig, dass wir in unseren Bewohnerinnen und Bewohnern immer den Menschen sehen, ihnen auf Augenhöhe begegnen und uns bemühen, ihren Blickwinkel einzunehmen«, betont die 55-Jährige. Empathie oder das »Herz-zu-Herz-Verständnis«, wie sie es nennt, sei ein wichtiger Baustein fürs Miteinander. Dies könne sich auch in kleinen Dingen zeigen. »Eine Kollegin war morgens beim Bäcker und erinnerte sich an eine Bewohnerin, die Heißhunger auf eine Butterbrezel hatte. Also kaufte sie spontan eine Brezel und brachte diese zur großen Freude der Seniorin mit.«
Ähnliches hat auch Elfriede Riost erlebt. Die 94-Jährige lebt seit zwei Jahren im Seniorenzentrum in Aldingen. Der Umzug ins Heim sei ihr schwergefallen, kleine Aufmerksamkeiten hätten ihr aber die Eingewöhnung erleichtert, erzählt sie. »Eine Pflegerin hatte für mich nach ihrer Arbeit eine Flasche Franzbranntwein gekauft und mir am nächsten Tag meine schmerzenden Beine eingerieben.« Dass auf diese Weise ihre Bedürfnisse gesehen würden, empfinde sie als etwas Besonderes. Ja, sie fühle sich im Aldinger Seniorenzentrum zu Hause, betont sie.
Solche aufmerksamen Gesten könnten das Leben bereichern, sagt auch Karin Korb, zuweilen aber auch eine emotionale Belastung darstellen. »Manchmal stellt sich die Frage, wo Menschlichkeit aufhört, und wo pflegerische Professionalität anfängt. Zum Beispiel, wenn ein 85-jähriger Bewohner mit einer starken Diabetes-Erkrankung nachmittags gerne drei Stück Torte essen möchte, weil er es als gelernter Bäcker sein Leben lang so gewohnt ist. Aus menschlicher Perspektive würden wir ihm gerne den Wunsch erfüllen. Als Pflegerinnen und Pfleger wissen wir aber um die gesundheitlichen Konsequenzen.« Dieses Spannungsfeld sei nicht immer leicht auszuhalten, weiß Karin Korb. Sie weiß aber auch, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Spannungsfeld nicht allein seien und sich in Einzelfallbesprechungen austauschen könnten. »Wichtig ist, dass man im Berufsleben Mensch sein darf – mit allen Gefühlen und Fragen. Denn nur so kann man dem ›Abstumpfen‹ im Arbeitsalltag entgegenwirken.«
Mensch sein – das darf und soll auch Fritz Kaufmann an der Leopoldschule Altshausen. Sein Beruf am Hör-Sprachzentrum der Zieglerschen ist mehr eine Berufung, er ist Hausmeister. Oder: die gute Seele der Schule. Dies attestieren ihm die Lehrerinnen und Lehrer. Was diese aussprechen, mögen die Kleineren fühlen, denn Fritz Kaufmann hängt an seinen Schützlingen – manchmal auch über deren Schulzeit hinaus. Das zeigt sich in seinem Büro. Auf zwei gerahmten Fotos sind nicht etwa seine Kinder zu sehen, sondern zwei Schüler, die im Internat gewohnt und ihm über Jahre hinweg regelmäßig geholfen haben. »Sie fanden das viel spannender als jede AG«, erinnert sich der 59-Jährige mit einem Augenzwinkern. Sein Angebot ist und darf niederschwelliger sein als das, was im Curriculum vorgeschrieben ist und das komme bei den Schülern an. »Ich repräsentiere für die Jungs die Generation, der ihre Väter angehören. Zu den beiden hatte ich einfach ein besonderes Verhältnis.«
Mit seiner freundlichen Art erfüllt Fritz Kaufmann die Erwartungen, die bei seiner Einstellung vor fast 20 Jahren an ihn gestellt wurden. Der damalige Schulleiter suchte »einen Hausmeister, zu dem alle gerne gehen«, lacht er. Das versucht er jeden Tag zu erfüllen. »Manchmal bekommen die Kinder die Aufgabe ›Geh mal zum Hausmeister.‹ Manchen merke ich dann die Aufregung an.« Daher sei es ihm wichtig, die Kinder freundlich und respektvoll zu empfangen. Sein Grundsatz: Wünsche ernst nehmen, egal woher sie kommen. Und er versucht, Wünsche zu erfüllen, baut zum Beispiel eine neue Spielhütte für den Kindergarten. Klar, dass so viel Engagement belohnt wird. Immer wieder bekommt er von den Kindern kleine Überraschungen oder Geschenke. Besonders freut er sich aber, wenn es über den Schulhof fröhlich schallt: »Hallo Hausmeister!«
Zurück nach Erolzheim. Auch hier nimmt Einrichtungsleiterin Marianne Schneider Wünsche wahr und kümmert sich darum. »Für unsere ausländischen Mitarbeitenden suche ich Wohnungen, wir beschaffen Möbel, wir machen aber auch mit den Mitarbeitenden spontan Ausflüge, gehen zusammen essen. Es gibt Wunsch-Schichten, die möglichst eingehalten werden und das funktioniert gut, weil alle mitmachen.« Bei all der Nähe zu den Menschen, die im Seniorenzentrum Erolzheim leben und arbeiten, weiß Marianne Schneider, dass auch eine professionelle Distanz notwendig ist. »Ich geh hier raus, muss vielleicht noch kurz über den Tag reden, aber nachts schlafe ich meistens gut.« Nur so könne sie ihre Batterien wieder aufladen. »Nur ganz schwierige Geschichten nehme ich auch mal mit, und die bereiten mir dann ein, zwei schlaflose Nächte«, gesteht sie.
Bedrückende Situationen kennen die meisten Pflegekräfte, sagt Johannes Ehrismann. Er hat bei den Zieglerschen eine besondere Position. Als Leiter des Referats für Theologie und Ethik ist er – neben anderen Verpflichtungen – auch als Seelsorger für die Menschen da. »Wenn ich in den Einrichtungen unterwegs bin, frage ich immer: Wo bleibt ihr als Mitarbeitende? Vor kurzem war ich in einer Wohngruppe der Behindertenhilfe und habe einfach nur Eis mitgebracht«, erinnert sich der 39-Jährige. Mit diesem »einfach nur« ist stets die Möglichkeit verknüpft »Dampf abzulassen«. »Dass dies mitten im Arbeitsalltag auch mal möglich ist, dass man einfach mal sagen kann, wie es einem geht, ist schon etwas Besonderes.« Oft helfe es schon, die Dinge zu benennen und ihnen auf diese Weise Raum zu geben. Im Pflegealltag gebe es dafür zu wenig Zeit – umso wertvoller seien dann diese Momente. »In der Regel spreche ich mit Menschen, die sonst anderen Menschen helfen – manchmal aber verkennen, dass sie auch selbst Unterstützung brauchen«, ist sich Ehrismann sicher. »Die besondere Verantwortung eines diakonischen Arbeitgebers ist es, den Mitarbeitenden, Bewohner, Schüler oder Kunden als Menschen wahrzunehmen. Dass ich dazu vielleicht ein bisschen beitragen kann, gefällt mir.«
Das gilt auch bei existenziellen Fragestellungen. Zugewandtheit, Menschlichkeit sollten nicht nur im Alltag spürbar sein, sondern auch bei Krankheit und in der Sterbephase. »Jeder von uns kann durch Unfall, Krankheit oder hohes Alter in die Situation kommen, wichtige Fragen nicht mehr selbst entscheiden zu können. Und dann ...?« Insbesondere Menschen mit Behinderung bräuchten hier frühzeitige Unterstützung. Gemeinsam mit Carina Wachter und Stefan Weber von der Behindertenhilfe ist es ihm ein Anliegen, »die Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner, besonders auch für die Behandlung bei schwerer Krankheit, kennenzulernen und aufzuschreiben«, erklärt er das Angebot der Vorsorgeplanung. Wichtig dabei: Rechtliche Betreuer, Angehörige und Betreuer der Einrichtung würden einbezogen. »Das geschieht in einer entspannten Atmosphäre, in der wir auf das Leben blicken.« Was war schön in meinem Leben, was schwierig? Was ist mir wichtig? Mit diesen Fragen nähert er sich behutsam diesem sensiblen Thema.
Seit rund einem Jahr ist Johannes Ehrismann bei den Zieglerschen. Er empfindet es als Privileg, die christlich-diakonische Identität des Unternehmens im Auge zu behalten und zu fördern. »Im Wortsinn des griechischen ›diakonía‹ heißt dies ›beauftragt zu sein‹. Es geht also nicht nur darum, von Gottes Menschwerdung zu erzählen, sondern das Wesen von Jesus durch Tun in die Welt zu tragen. Das heißt Gefühle zeigen, authentisch sein.« Und das erlebe er immer wieder bei den Zieglerschen. »Es gibt ein Netzwerk von Kolleginnen und Kollegen, die sich um einen kümmern und bemerken, wenn es jemandem nicht so gut geht«, erzählt Ehrismann. Gerade hatte er ein Gespräch mit einem jungen Mann, dessen private Probleme sich auf die Arbeit auswirkten. Sein Vorgesetzter riet ihm, sich mit dem Seelsorger in Verbindung zu setzen und der Kollege nutzte die Chance. »Dass ein Unternehmen so etwas ermöglicht«, findet Johannes Ehrismann, »das ist schon etwas sehr Besonderes«.
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Seit 17 Jahren ist sie der gute Geist im Seniorenzentrum Erolzheim: einrichtungsleiterin Marianne Schneider.
Johannes Ehrismann ist als Seelsorger für die Menschen in den Zieglerschen da – hier bei einem Gottesdienst im Seniorenzentrum.
Stefan Weber und Carina Wachter beraten Menschen mit Behinderung bei der Vorsorgeplanung.