Titelthema

September 2021

Wir helfen zu Hause

Immer mehr Menschen möchten zu Hause gepflegt werden. Die Zieglerschen erweitern ihr Angebot und bauen die Ambulanten Dienste aus. Wir stellen sie vor.

Text: Stefan Wieland, Nicola Philipp und Jacqueline de Riese

Die Nach­frage nach Pflege zu Hause boomt. Immer mehr Men­schen ent­schei­den sich, möglichst lange in den eige­nen vier Wänden ver­sorgt zu wer­den. Die Zieg­ler­schen haben rea­giert und ihre ambu­lan­ten Ange­bote aus­ge­wei­tet. Allein in der Alten­hilfe sind sie­ben mobile Pfle­ge­teams am Start, Ten­denz: wei­ter stei­gend. Wir stel­len die Ambu­lan­ten Dienste der Alten­hilfe vor. Wie läuft ein Tag ab? Was ist anders als im Pfle­ge­heim? Wieso ent­schei­den sich Men­schen für diese Form der Pflege? Wir haben nach­ge­fragt – und auch erfah­ren, was die Poli­tik tun müsste, um den All­tag in der ambu­lan­ten Pflege leich­ter zu machen.

6.30 Uhr, Wil­helms­dorf. Beginn der Frühschicht für Anita Steg­maier. Die 39-Jährige ist stell­ver­tre­tende Pfle­ge­dienst­lei­te­rin in der Dia­ko­nie-Sozi­al­sta­tion Wil­helms­dorf, die zu den Zieg­ler­schen gehört. Der Check des Tou­ren­plans und des Über­ga­be­buchs mit even­tu­ell wich­ti­gen Infor­ma­tio­nen für die anste­hen­den Haus­be­su­che gehört ebenso zur mor­gend­li­chen Rou­tine wie das Packen des Mate­ri­als. Hand­schuhe, Verbände, Wund­auf­la­gen dürfen nicht feh­len, auch nicht die aktua­li­sier­ten Medi­ka­men­tenpläne und Ver­ord­nun­gen. Und: die Haustürschlüssel für die Woh­nun­gen oder Häuser der Kli­en­tin­nen und Kli­en­ten. Fünf Stun­den wird sie nun in der ambu­lan­ten Pflege unter­wegs sein, manch­mal auch länger. Etwa, wenn noch eine pfle­ge­ri­sche Betreu­ung not­wen­dig ist. »Heute fah­ren wir nach der Tour zu einem Kli­en­ten und pas­sen dort auf ihn auf, bis die Ehe­frau von ihren Ter­mi­nen wie­der zurückkommt. Das kann dann schon mal bis 13 oder 14 Uhr gehen«, sagt Anita Steg­maier.

Die Mut­ter zweier Kin­der hat sich bewusst für die ambu­lante Pflege ent­schie­den. »Seit April 2018 bin ich in Wil­helms­dorf und konnte hier beide Wel­ten – die ambu­lante und die sta­tionäre – ken­nen­ler­nen.« Bereut hat sie ihre Ent­schei­dung nicht, zumal sie lange auf einer Demenz­sta­tion im geschützten Bereich gear­bei­tet hat. »Der ambu­lante Dienst unter­schei­det sich grundsätzlich vom sta­tionären. Hier kann ich selbstständig arbei­ten.« Diese Selbstständig­keit, die in Kri­sen­si­tua­tio­nen auch her­aus­for­dernd sein kann, schätzt sie sehr. Als Ein­zelkämpfe­rin sieht sie sich nicht. »Wir müssen auch immer für die ande­ren Kol­le­gen mit­den­ken. Braucht der Kol­lege eine Info für den Spätdienst? Wer holt die Medi­ka­mente ab?« Hier sei Team­ar­beit gefragt – und Fle­xi­bi­lität. Ein­mal habe sie eine Kli­en­tin mit Unter­zu­cke­rung in ihrem Hoch­bett vor­ge­fun­den. Also sei sie hin­auf­ge­klet­tert und habe in dem ihr zur Verfügung ste­hen­den Arbeits­be­reich von 60 Zen­ti­me­tern zwi­schen Matratze und Decke agiert. »Mein Lieb­lings­satz in der Doku­men­ta­tion war dann: Aus den uns zur Verfügung ste­hen­den Platz­verhältnis­sen mach­ten wir das Bestmögli­che.«

Den­noch oder gerade des­we­gen: Eine Rückkehr in die sta­tionäre Betreu­ung kann sie sich nicht vor­stel­len. »Ich habe zwi­schen­drin eine Auto­fahrt mit schöner Musik und kann run­ter­kom­men.« Dies seien wich­tige Momente, ergänzt sie. »Ich muss abschal­ten, um beim nächs­ten Kli­en­ten wie­der Kraft für höchs­tes Einfühlungs­vermögen, Respekt und Wertschätzung zu haben.« Ein wei­te­rer Vor­teil: »Ich muss nicht auf eine Klin­gel rea­gie­ren und schon gar nicht auf fünf Klin­geln gleich­zei­tig. Ich kann mich immer auf die neue Situa­tion ein­stel­len, die mir im nächs­ten Haus­halt begeg­net.« Das bedeute, dass sie indi­vi­du­ell auf die Bedürfnisse der Kli­en­ten ein­ge­hen könne und das lasse sie abends zufrie­den nach Hause gehen. »Sta­tionär herrscht ständi­ger Zeit­druck. Alle wol­len zwi­schen acht und neun Uhr frühstücken. Und die Haus­wirt­schaft will auch, dass alle mit dem Frühstück fer­tig wer­den, um mit den Vor­be­rei­tun­gen für das Mit­ta­ges­sen begin­nen zu können.«

Sze­nen­wech­sel. Seit mehr als 22 Jah­ren sitzt Monika Salz­mann im Roll­stuhl und ist auf Hilfe ange­wie­sen. Ihre Dia­gnose, Mul­ti­ple Skle­rose, hat sie vor 35 Jah­ren erhal­ten. Den Lebens­mut hat die 59-Jährige des­we­gen aber nicht ver­lo­ren. »Nicht auf­ge­ben« ist ihr Lebens­motto. Diese Ein­stel­lung strahlt sie aus und dies zeigt sich auch in der lie­be­voll ein­ge­rich­te­ten Woh­nung. Far­ben­frohe Bil­der zie­ren die Wände, Bücher füllen die Regale. Die Bil­der hat sie größten­teils selbst gemalt oder per Ser­vi­et­ten­tech­nik erstellt. An »guten Tagen« liebt sie es, mit einer Hand oder mit Hilfe des Mun­des zu malen, Schmuck her­zu­stel­len oder ihren Enkeln Tipps beim Bas­teln zu geben.

Trotz aller Lebens­be­ja­hung musste sie ler­nen, mit den zuneh­men­den Defi­zi­ten, die die chro­ni­sche Erkran­kung des zen­tra­len Ner­ven­sys­tems mit sich bringt, umzu­ge­hen und sie zu akzep­tie­ren. »Das war nicht immer leicht«, erin­nert sie sich. »Zu akzep­tie­ren, auf Hilfe ange­wie­sen zu sein, war gerade am Anfang schwie­rig.« Viele alltägli­che Dinge sind bei Monika Salz­mann nicht mehr möglich. Bei Hygie­nemaßnah­men oder der Wund­ver­sor­gung braucht sie täglich Unterstützung. Auf Dauer war dies für ihren Ehe­mann Helge allein nicht schaf­fen – neben dem Beruf und der Betreu­ung sei­ner Eltern. Nach einem Kurz­zeit­auf­ent­halt in einem Pfle­ge­heim war bei­den klar, dass dies nicht der rich­tige Weg ist. Gemein­sam haben sie sich für ambu­lante Pflege ent­schie­den. Seit zwan­zig Jah­ren kommt nun regelmäßig eine Pfle­ge­fach­kraft der Dia­ko­nie-Sozi­al­sta­tion Mössin­gen zu ihnen nach Hause. Neben der Ent­las­tung bei den Pfle­ge­auf­ga­ben bie­tet der Haus­not­ruf auch Sicher­heit während der Abwe­sen­hei­ten von Helge Salz­mann. »Es war eine gute Ent­schei­dung«, betont Monika Salz­mann. »Ich bin ein Fami­li­en­mensch und auf diese Weise kann ich trotz mei­ner Erkran­kung zu Hause in mei­ner gewohn­ten Umge­bung leben.« Und dies möchte sie so lange wie möglich.

So wie Monika Salz­mann ent­schei­den sich immer mehr Men­schen für das ambu­lante Pfle­ge­mo­dell. Andrea Bader, Regio­nal­lei­te­rin für die Ambu­lan­ten Pfle­ge­dienste bei den Zieg­ler­schen, kann dies exem­pla­risch für das Ein­zugs­ge­biet Leut­kirch bestätigen, wo die Zieg­ler­schen im Mai einen neuen Dienst eröffnet haben. »Mitte letz­ten Jah­res haben wir hier durch unsere Markt­ana­ly­sen einen wach­sen­den Bedarf an ambu­lan­ten Pfle­ge­leis­tun­gen fest­ge­stellt. Diese Erkennt­nis deckt sich mit unse­ren Erfah­run­gen vor Ort, wo die Anfra­gen ankom­men.« Das stra­te­gi­sche Ziel der Zieg­ler­schen ist es, die ambu­lan­ten und teil­sta­tionären Ange­bote wei­ter­zu­ent­wi­ckeln und sinn­voll aus­zu­bauen, sagt auch Sebas­tian Köbbert. »Es ist uns wich­tig, Men­schen mit pfle­ge­ri­schem Unterstützungs­be­darf und ihren Angehörigen wohn­ort­nah ein breit gefächer­tes Pflege- und Betreu­ungs­an­ge­bot zu machen und somit einen bedarfs­ge­rech­ten Mix aus sta­tionären, teil­sta­tionären und ambu­lan­ten Hil­fe­leis­tun­gen anzu­bie­ten«, so der Geschäftsführer der Zieg­ler­schen Alten­hilfe wei­ter.

Der Ein­satz von aus­ge­bil­de­ten Pfle­ge­fachkräften und hohe Pfle­ge­stan­dards sind Köbbert auch im ambu­lan­ten Bereich wich­tig. »Mit dem Fokus ›ambu­lant vor sta­tionär‹ tra­gen wir Sorge dafür, dass pfle­ge­bedürftige Senio­ren so lange wie möglich zu Hause pro­fes­sio­nelle Unterstützung erhal­ten und erst dann in eine sta­tionäre Ein­rich­tung zie­hen, wenn die Pfle­gedürftig­keit ent­spre­chend zunimmt.« Aus die­sem Grund erwei­tert der Geschäfts­be­reich Alten­hilfe kon­ti­nu­ier­lich die bereits beste­hen­den ambu­lan­ten Ange­bote – zum Bei­spiel am Stand­ort Erolz­heim und Schorn­dorf – bzw. geht mit neuen Ambu­lan­ten Diens­ten an den Markt, wie in Leut­kirch. Der­zeit bie­ten die Zieg­ler­schen an sie­ben Stand­orten ambu­lante Pflege in den eige­nen vier Wänden an, rund 1.650 Kli­en­tin­nen und Kli­en­ten wur­den im letz­ten Jahr betreut. Ten­denz: stei­gend.

Mit Blick auf die Rah­men­be­din­gun­gen durch die Gesund­heits­po­li­tik sehen die Alten­hil­fe­ex­per­ten der Zieg­ler­schen Nach­hol­be­darf. Auch im Ver­gleich mit den Gesund­heits­sys­te­men ande­rer Länder. Bei­spiel Schwe­den. Dort sei die Pflege steu­er­fi­nan­ziert und damit eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Auf­gabe. Darüber hin­aus funk­tio­niere das Sys­tem primär über Sach­leis­tun­gen. »Das heißt: wenn ich einen Pfle­ge­dienst her­an­ziehe, bekomme ich diese Leis­tung bezahlt. In Deutsch­land kann ich ent­schei­den, ob ich einen Pfle­ge­dienst beauf­trage oder selbst pflege und dafür Geld erstat­tet bekomme«, erklärt Andrea Bader und merkt kri­tisch an: »Die Frage ist, ob die Oma dann wirk­lich gut gepflegt wird oder ob gespart wird, weil das Pfle­ge­geld noch für den Enkel rei­chen muss, der stu­diert. Ich wäre klar auch für ein Sach­leis­tungs­sys­tem.« Und sie hat einen wei­te­ren Wunsch. »Wir müssen die Bürokra­tie abbauen. Wir bekom­men die Ver­ord­nung vom Arzt auf Papier, das wird dann in unsere Soft­ware übert­ra­gen. Nach­dem der Pfle­ge­kunde und wir unter­schrie­ben haben, geht das in Schrift­form an die Kasse und kommt von dort in Schrift­form wie­der zurück. Dann pfle­gen wir es wie­der ins Sys­tem ein, weil wir es digi­tal für die Abrech­nung brau­chen. Total auf­wen­dig!«

Ein wei­te­rer Aspekt ist die Bezahl­bar­keit der Pflege. Die Hoff­nung, dass die viel dis­ku­tierte Pfle­ge­re­form eine wesent­li­che Ent­las­tung bringt, ist gedämpft. »Wir tei­len die Einschätzung der Exper­ten, dass die aktu­ell bekann­ten Inhalte der Pfle­ge­re­form nur ein ers­ter klei­ner Schritt in die rich­tige Rich­tung sein können«, betont Sebas­tian Köbbert. »Aus unse­rer Sicht führt die Reform in der aktu­el­len Fas­sung noch nicht zu einer spürba­ren finan­zi­el­len Ent­las­tung für pfle­ge­bedürftige Men­schen und ihre Angehörigen. Wir set­zen uns wei­ter­hin für eine umfas­sende Pfle­ge­re­form ein, die die Pflege für alle bezahl­bar macht, und uns als Leis­tungs­er­brin­ger gleich­zei­tig in die Lage ver­setzt, die Rah­men­be­din­gen für unsere Mit­ar­bei­ten­den wei­ter zu opti­mie­ren!«

Während die Finan­zie­rung nur wenig Spiel­raum bie­tet, sieht es mit wei­te­ren Rah­men­be­din­gun­gen zum Glück anders aus. In Erolz­heim bei­spiels­weise fährt der Pfle­ge­dienst statt mit dem Auto mit dem E-Bike vor. Die Idee wurde aus der Not her­aus gebo­ren, denn eine neue Kol­le­gin hatte kei­nen Führer­schein. Also wurde ein flot­tes E-Fahr­rad ange­schafft, das sich mitt­ler­weile großer Beliebt­heit erfreut. »Wir sind mit dem E-Bike vor allem auf Kurz­stre­cken flott und umwelt­freund­lich unter­wegs und benötigen kei­nen Park­platz«, erklärt Leo­nie Bail, stell­ver­tre­tende Pfle­ge­dienst­lei­te­rin. Das sei in der Stadt ein großer Vor­teil. Auch Aus­zu­bil­dende, die noch kei­nen Führer­schein haben, seien so rela­tiv mobil. »Eine tolle Sache, die sich bewährt hat.« Auch andere Pfle­ge­teams haben inzwi­schen E-Bikes.

Zurück zu Anita Steg­maier. Am Ende ihrer Tour hat sie 15 bis 20 Kli­en­ten betreut, doch ihre Schicht ist noch nicht zu Ende. »Eine Alten­pfle­ge­rin aktua­li­siert noch das Über­ga­be­buch oder tele­fo­niert mit der nächs­ten Schicht. Als stell­ver­tre­tende Pfle­ge­dienst­lei­tung habe ich noch zusätzli­che Auf­ga­ben. Da sagt mir eine Fach­kraft zum Bei­spiel: Ruf mal die Angehörigen an, der Abfluss ist ver­stopft. Oder ich muss vom Augen­arzt wis­sen, wie lange wir die Salbe noch ver­ab­rei­chen sol­len.« Zusam­men mit sechs ande­ren Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen kümmert sie sich in Wil­helms­dorf lie­be­voll und mitfühlend um 50 bis 60 Kli­en­ten. Mit­gefühl sei wich­tig, sagt Steg­maier, die gleich­zei­tig Pra­xis­an­lei­te­rin ist. »Was ich ganz häufig mit Schülern und neuen Mit­ar­bei­ten­den hab, ist der Unter­schied zwi­schen Mit­gefühl und Mit­leid. Wer Mit­leid emp­fin­det, der geht mir hier kaputt. Der kann irgend­wann nachts nicht mehr schla­fen. Was wir brau­chen ist Mit­gefühl.« Den Unter­schied könne man ler­nen. »Wir bie­ten viel in Rich­tung Resi­li­enz an. Das ist der Schlüssel zwi­schen Mit­leid und Mit­gefühl«, sagt die 39-Jährige. Und ergänzt: »Unser Wei­ter­bil­dungs­an­ge­bot ist toll. Man ist gut auf­ge­ho­ben bei den Zieg­ler­schen.«

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Anita Stegmaier (2. v.l.) und das Team der Diakonie-Sozialstation Wilhelmsdorf mit ihrem Pflegedienstleiter Horst Mertens (2.v.r.)

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