Titelthema
September 2024
Sag mal
Die Nachfrage nach Sprachförderung für Kinder steigt. Was Smartphone und Social Media damit zu tun haben – und wie die Zieglerschen helfen.
Text: Nicola Philipp
Sprache ist der Schlüssel zu erfolgreichem Lernen. Was aber, wenn es mit dem Sprechen Probleme gibt? In den letzten Jahren ist im Hör-Sprachzentrum der Zieglerschen die Nachfrage nach Beratung und Unterstützung gestiegen. Die Ursachen liegen nicht zuletzt bei Smartphones und Social Media, die oft die Zeit stehlen, in denen Kinder und Eltern gemeinsam lesen oder singen könnten. Wie die Expertinnen und Experten des Hör-Sprachzentrums helfen und was die Frage »Wie können wir herausfinden, wo Regenwürmer leben?« damit zu tun hat – davon erzählt unser Titelthema.
Alan, dessen Name wie der aller Kinder in diesem Text geändert ist, streckt die Zunge raus. Ganz weit. Finn versucht mit der Zungenspitze seine Nase zu berühren. Und William lässt seine Zunge kreisen: Von einem Mundwinkel über die Oberlippe zum anderen Mundwinkel. Er zögert kurz, konzentriert sich. Dann geht es über die Unterlippe zurück zum Ausgangspunkt. Geschafft. Ein ganzer Kreis! Mit dem Ärmel wischt er sich den Mund ab. Er grinst. »Gut gemacht, William. Jetzt darfst du würfeln und weiterziehen«, lobt Sonderpädagogin Julia Kiebler, die zusammen mit den drei Knirpsen um einen Tisch im Sprachheilkindergarten Biberach sitzt. Vor ihnen ein Spielbrett, ein Würfel, jeder hat eine Katzenfigur. Kiebler hält Ereigniskarten in der Hand. Diese zeigen Zeichnungen von Katzen, die die Zunge rausstrecken, einrollen, kreisen lassen. »Die Übungen hier dienen vor allem der Stärkung der Muskulatur und der Zungenbeweglichkeit. Das ist eine Voraussetzung für die Weiterarbeit im Bereich der Aussprache«, erklärt Kiebler. Das Spiel zur Mundmotorik ist vom »Verlag am Sprachheilzentrum« der Zieglerschen. Entwickelt von der Praxis für die Praxis. Weil die drei Jungs gewisse Laute noch nicht richtig bilden können, müssen sie das üben und automatisieren.
Dass Sprache der Schlüssel zu Lernen und Bildung ist, liegt auf der Hand. Dass die Förderung der Sprache am besten im Alltag der Kinder geschieht, eigentlich auch. Und doch beobachtet Uschi Matt, die seit vielen Jahren Erzieherinnen und Erzieher im Bereich Sprachförderung coacht und berät, dass Eltern oft nicht bewusst ist, wie wichtig es ist, dass sie mit ihren Kleinkindern sprechen. »Kinder verstehen schon sehr viel, bevor sie sprechen«, erklärt die erfahrene Fortbildnerin und Leiterin der Mobilen Sprachberatung, die zu den Zieglerschen gehört. Die Zeit, um mit Kindern zu sprechen, ihnen zuzuhören, vorzulesen oder mit ihnen zu singen ist wertvoll, doch oft ein rares Gut. Gemeinsame Sprechzeit steht in Konkurrenz mit digitalen Medien wie Tablets oder Smartphones. Reime, Kniereiter, das gemeinsame Spielen und dabei Sprechen sind nicht mehr so selbstverständlich. Damit gehen wichtige Impulse für die Anbahnung von Sprache verloren. Erzieherinnen und Erzieher in Kindergärten können das nur bedingt auffangen. »Nämlich dann, wenn sie im Alltag die geeigneten Momente erkennen, um sprachförderlich zu agieren«, so Matt. Fragt ein Kindergartenkind die Erzieherin: »I nane haben?«, dann könnte eine sprachfördernde Antwort so lauten: »Du willst eine Banane haben? Komm, wir schauen, wo die Bananen sind. Hier, ich gebe dir eine Banane. Die Banane ist ganz schön krumm.« Durch die vielen Wiederholungen und das Nennen der Mehrzahl hat das Kind einen großen Nutzen. Stellt die Erzieherin einem Kind eine Frage, sollte das Kind ins Erzählen geraten können. »Ist das ein Regenwurm?« sei eine viel zu einfache Frage. Besser wäre: »Wie könnten wir herausfinden, wo Regenwürmer leben?«
Oft können Kinder ihre Sprachbeeinträchtigung bereits im Kindergartenalter überwinden. Doch wenn sie zusätzlich über einen geringen Wortschatz verfügen, sich schwertun, grammatikalisch richtige Sätze zu formulieren und zu verstehen, dann kann eine Sprachheilschule der passende Ort für sie sein. Andreas Schmid, Schulleiter der Schule am Wolfsbühl, erklärt das so: »Unterrichten passiert überwiegend über Sprache. Die Schülerinnen und Schüler müssen dem Gesagten folgen. Wenn sie sich aber schwertun mit Sprache, dann ist das anstrengend und sie kommen nicht mehr mit. Das geht auch mir so, wenn ich einer Fremdsprache lausche, die ich nicht so gut kann.« Darum läuft Unterricht in Sprachheilschulen stark über visuelle Reize, der sprachliche Input wird knappgehalten. Die Klassenzimmer sind mit einer Technik ausgestattet, die für perfekte akustische Bedingungen sorgt. Denn ohne gutes Hören ist auch gutes Sprechen nicht möglich.
Gabriele Spehr, Klassenlehrerin der Klasse 4a in Ravensburg trägt ein Mikrofon, das mit der Nahbeschallungsanlage verbunden ist. An jedem Ort im Klassenzimmer ist ihre Stimme für ihre 13 Schülerinnen und Schüler perfekt zu hören. Auch wenn sie zwischen den Reihen unterwegs ist, um »ihren Kids« direkt zu helfen. Dazu spricht sie sehr deutlich. Die Kinder gestalten gerade einen Steckbrief. Als Leon wissen will, wie man seinen Lieblingssport »Volleyball « schreibt, buchstabiert sie es langsam, bildet außerdem mit den Fingern ein V, ein O, zweimal ein L … Dann notiert sie das Wort auf einen Zettel und legt ihn vor Leon hin. »Ich habe diese Klasse durch die letzten vier Schuljahre geführt. Sprachlich dürfte eigentlich nichts mehr zu hören sein«, so Spehr. 12 von 13 Kindern werden auf ihre örtliche weiterführende Schule wechseln. Neun davon lässt sie sehr gerne ziehen, drei anderen hatte sie ein Bleiben am Sprachheilzentrum empfohlen. Die Entscheidung treffen die Eltern.
Vielen Eltern ist es wichtig, dass ihr Kind zusammen mit den Nachbarskindern die örtliche Schule besucht. Manchmal sind die Fahrtwege zu Sprachheilschulen zu weit. Dann kann eine inklusive Beschulung durch eine Sonderpädagogin das Richtige sein. Im Landkreis Biberach sind von Seiten der Zieglerschen 16 Sonderpädagoginnen an 21 Grundund zwei Gemeinschaftsschulen unterwegs. Sie unterstützen circa 50 Schülerinnen und Schüler. Diese bekommen zwei bis drei Stunden pro Woche ein sprachheilpädagogisches Angebot. »Keine Inklusion gleicht der anderen«, erzählt Katharina Lehmann, die eine der 16 Sonderpädagoginnen mit dem Schwerpunkt Sprache ist und seit 15 Jahren mit Kindern mit Sprachbehinderungen arbeitet. In der inklusiven Arbeit ist es ihr wichtig, zurückhaltend und möglichst flexibel zu agieren, »dann kommt es oft zu einem sehr intensiven und fruchtbaren Miteinander mit der Lehrkraft der Grundschule. Manchmal ist es aber auch sinnvoller, wenn ich das Kind aus dem Unterricht rausnehme, um es in seiner sprachlichen Entwicklung gut unterstützen zu können.«
Ein schönes Beispiel für gelungene Inklusion sind Cem und Cemile. Die Zwillinge besuchten den Sprachheilkindergarten Biberach. Beim Übergang in die Grundschule wagten Eltern und Kinder den Wechsel an die örtliche Schule. Katharina Lehmann stand mit Rat und Tat zur Seite, begleitete die beiden aufgrund der bewilligten Inklusionsstunden durch die vier Grundschuljahre. Mittlerweile sind Cem und Cemile in Klasse 6 an der örtlichen Realschule und kommen ohne sprachheilpädagogische Unterstützung klar. Die Mutter der Kinder, Aylin Yilmaz, blickt zurück: »Wir waren sehr froh, dass wir Frau Lehmann hatten. Dass ich immer Rücksprache halten konnte, das war Gold wert. Sie hat mit unseren Kindern spielerisch gelernt, ohne Druck, das fand ich schön. Die Kinder kamen immer mit neuen Arbeitsblättern und kleinen Würfelspielen nach Hause. Mit Hilfe von Frau Lehmann haben sie sich von Woche zu Woche weiterentwickelt.«
Genau das ist das Ziel der sonderpädagogischen Beschulung: Die Kinder da abholen, wo sie stehen, individuell fördern, in Sprache bringen, den Übergang in die örtlichen Schulen ermöglichen. »Die Kinder sollen in der Lage sein, ihre Zukunft in unserer Welt eigenständig und selbstbewusst in die Hand zu nehmen«, so Christiane Stöppler, Geschäftsführerin des Hör-Sprachzentrums der Zieglerschen. Dabei helfe nicht zuletzt die gute Vernetzung des Hör-Sprachzentrums. Im April hatte Andreas Schmid das »Forum Diagnostik Sprache« organisiert, zu dem über 130 Personen aus ganz Baden-Württemberg angereist waren. Auch das »Programm für interdisziplinäre Fortbildung«, genannt »PfiF« dient der Vernetzung und Weiterbildung. Es wendet sich an interne und externe Fachleute, die im medizinischen, pädagogischen und therapeutischen Bereich tätig sind. »Die stetige Weiterbildung unserer Erzieherinnen und Lehrkräfte ist mir sehr wichtig. Dadurch schaffen wir Qualität«, so Stöppler.
Für Qualität in der Ausbildung steht auch Dr. Anja Theisel, Direktorin am Seminar für Ausbildung und Fortbildung der Lehrkräfte Heidelberg in der Abteilung Sonderpädagogik. »Man sieht nur, was man weiß«, erklärt die 53-Jährige. »Eine differenzierte Ausbildung in der Fachrichtung Sprache ermöglicht den Lehrkräften, den Sprachentwicklungsstand und somit den Unterstützungsbedarf der Kinder zu erfassen. Bei einer breiten Ausbildung besteht die Gefahr des Nichterkennens von Problemen und deren Ursachen.« Ein Defizit beim Sprachverständnis ließe sich beispielsweise gut verstecken. »Kinder, die das haben, fragen nicht nach. Sie orientieren sich an den zentralen Wörtern im Satz und reimen sich den Rest zusammen. Das kann zufällig stimmen, immer wieder werden sie aber falsch liegen.« Wenn die Lehrkraft das erkennt und weiß, kann sie darauf eingehen und beispielsweise in Mathematik Sachaufgaben so formulieren, dass der betreffende Schüler nicht schon an der Sprache scheitert, sondern die Chance hat, sich mit dem mathematischen Problem befassen zu können.
Auch am Internat der Leopoldschule geht es darum, die individuellen Stärken der Kinder und Jugendlichen zu sehen und weiter zu stärken. Friedrich ist 16 und erst seit einem Jahr an der Leopoldschule. Er hat eine hochgradige Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS). Aber er kann sich richtig gut ausdrücken. Er liebt Kunst und Geschichte und weiß darüber sehr viel zu erzählen. »Er wird von den anderen Jugendlichen hier bewundert und akzeptiert«, erzählt Erzieherin Elke Haller. »Er lernt auditiv, seine Eltern unterstützen ihn sehr viel übers Telefon.« Am Anfang ließ er sich nur ungern helfen. Mittlerweile nimmt er immer mehr Hilfe an. »Er hat gemerkt, dass er hier so sein darf, wie er ist«, freut sich Haller.
Zurück in den Sprachheilkindergarten Biberach, wo die Kinder inzwischen spielen. Alan und Finn knien gerade auf dem Boden und liefern sich ein Rennen mit kleinen Polizeiwagen. Plötzlich taucht William im Türrahmen auf und blickt suchend in den Raum. Die beiden Rennfahrer halten für einen Moment inne und rufen: »William, William«. Als dieser zu ihnen schaut, strecken sie ihm frech die Zunge raus. Daraufhin reckt William sein Kinn, zeigt ebenfalls seine Zunge und lässt sie kreisen. Das hat er schließlich heute Morgen geübt. Die drei kichern und spielen weiter. Jetzt alle drei zusammen.
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Zunge raus, und zwar ganz weit: Das stärkt die Muskulatur und Zungenbeweglichkeit und hilft bei der Verbesserung der Aussprache.
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