Titelthema

September 2017

Sucht im Alltag

Wer die Worte Sucht und Zieglersche hört, denkt vielleicht zunächst an die Sucht­hilfe der Zieglerschen. Allein im letzten Jahr haben hier mehr als 1.000 Patienten Hilfe gefunden. Doch in dieser Ausgabe haben wir unser Augen­merk auch auf die anderen Hilfe­felder gerichtet und gefragt, wo uns Sucht im Alltag noch begegnet. In vielen Bereichen sind wir fündig geworden. Lesen Sie selbst!

Text: Jacqueline de Riese, Claudia Apel, Harald Dubyk, Jens Walther und Katharina Stohr

Klaus Meu­rer (Name geändert) sitzt im Roll­stuhl und lebt im Senio­ren­zen­trum. Vor über 34 Jah­ren hat der Alko­hol sein Leben fast zerstört. Damals war er 20 Jahre alt und arbei­tete auf dem Bau. Eines Tages ver­ur­sachte er mit sei­nem Motor­rad einen Unfall. Alko­ho­li­siert. Seit dem Unfall ist er quer­schnitts­gelähmt.

Viele Jahre lang wurde Klaus zu Hause von sei­nen Eltern gepflegt. Der Tod eines Eltern­teils vor zehn Jah­ren führte ihn zur Kurz­zeit­pflege in ein Pfle­ge­heim. Anfangs sträubte er sich mas­siv gegen die­sen Weg – doch dann wech­selte er bald in die Dau­er­pflege. Während sei­nes Auf­ent­halts lernte er, dass Lebens­qua­lität in sei­ner Situa­tion nicht nur aus Trin­ken, Rau­chen und Essen besteht. Den­noch hält ihn die Sucht bis heute fest, der Alko­hol spielt nach wie vor eine große Rolle in sei­nem Leben. Noch kann er den Bier­krug selbst hal­ten. Doch beim Rau­chen muss ihm jemand die Ziga­rette anzünden.

Selbst­be­stimmt und wie vor­her zu Hause zu leben: Das ist für die meis­ten Bewoh­ner in einem Senio­ren­zen­trum das wich­tigste Kri­te­rium für Lebens­qua­lität im Alter. Dabei ist diese Selbst­be­stim­mung facet­ten­reich: Was ziehe ich heute an? An wel­chen Akti­vitäten nehme ich teil, an wel­chen nicht? Was will ich essen und was will ich trin­ken? Der Gesetz­ge­ber for­dert und fördert diese Selbst­be­stim­mung ausdrücklich. Für die Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter in Pfle­ge­hei­men jedoch bedeu­tet das mit­un­ter eine Grat­wan­de­rung. Denn selbst­be­stimmt zu leben heißt ja auch, Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, die nicht gut­tun, die der Gesund­heit scha­den oder gar gefährdend sind – eben Süchte zum Bei­spiel. Süchte hören ja nicht plötzlich mit dem Umzug ins Senio­ren­zen­trum auf.

Ziga­ret­ten, das tägli­che Glas Bier oder Medi­ka­men­ten­sucht: Die Mit­ar­bei­ter der Alten­hilfe in den Zieg­ler­schen wer­den im All­tag mit einer Viel­zahl von Süchten kon­fron­tiert. Für Rau­cher im Senio­ren­zen­trum gibt es klare Regeln und Orte, an denen das Rau­chen erlaubt ist. Beim Alko­hol ist das schwie­ri­ger: Oft wer­den ent­spre­chende Bedürfnisse beim Auf­nah­me­ge­spräch ver­schwie­gen. Für viele Senio­ren gehört das Glas Wein zum Abendes­sen dazu. Die Bewoh­ner sol­len diese Lebens­qua­lität behal­ten, die Alten­hilfe will hier nicht regle­men­tie­ren. Trotz­dem kann die Grenze zwi­schen Wohlfühlen und Alko­holabhängig­keit fließend sein.

Ähnlich verhält es sich mit der eigenständi­gen Medi­ka­men­ten­ein­nahme. Jede ärzt­li­che Ver­ord­nung wird im Senio­ren­zen­trum genau doku­men­tiert und überprüft. Aber was pas­siert, wenn ein Bewoh­ner sich seine Mit­tel­chen bei ver­schie­de­nen Ärzten oder über andere Wege selbst besorgt? Bei der Medi­ka­men­ten­sucht verändert sich das Sucht­ver­hal­ten oft­mals mit der Zeit: Was in jun­gen Jah­ren mit einem gele­gent­li­chen harm­lo­sen Schmerz­mit­tel beginnt, wird im Alter plötzlich zur unver­zicht­ba­ren tägli­chen Droge. In sol­chen und ähnli­chen Fällen wird der sucht­kranke Bewoh­ner von einem pro­fes­sio­nel­len und geschul­ten Team zusam­men mit einem Arzt bera­ten. Um Schmer­zen anders als nur mit Hilfe von Tablet­ten lin­dern zu können, steht den Senio­ren bei­spiels­weise eine »Pain Nurse« zur Seite. Sie berät ent­spre­chend der ärzt­li­chen Dia­gnose und zeigt alter­na­tive Schmerz­the­ra­pien auf. Gemein­sam wer­den dann klare Abspra­chen getrof­fen und Pläne ver­ein­bart.

Ganz klar: Die Lebens­qua­lität der Bewoh­ner steht in den 23 Senio­ren­zen­tren der Zieg­ler­schen an ers­ter Stelle. Aber: wich­tig ist auch, dass die Senio­rin­nen und Senio­ren gut zusam­men­le­ben können. Daher darf durch einen zu hohen Kon­sum von Sucht­mit­teln kein aggres­si­ves oder gewalttätiges Ver­hal­ten ent­ste­hen. So ist der Roll­stuhl von Klaus unter Alko­ho­lein­fluss schon das eine oder andere Mal umgestürzt oder an der Auf­zugtüre hängen­ge­blie­ben. Und nicht sel­ten stra­pa­ziert er des Nachts die Geduld des Pfle­ge­per­so­nals. Zum Glück wis­sen diese pro­fes­sio­nell und gut mit Klaus’ Ver­hal­ten umzu­ge­hen. Und das müssen sie auch, denn bis­lang ver­hallte jeder Rat­schlag von Ärzten oder Pfle­gern bei Klaus ungehört. Auch das ist Selbst­be­stim­mung.

Sze­nen­wech­sel. Auch in der ambu­lan­ten Betreu­ung der Behin­der­ten­hilfe der Zieg­ler­schen gibt es Kun­den, die zu Sucht­ver­hal­ten nei­gen. Smart­pho­nes, Nut­zung von Spiel­au­to­ma­ten, Essen, Rau­chen, Alko­hol trin­ken etc. – die Liste ist lang. Doch hier ste­hen die Mit­ar­bei­ter der Ambu­lan­ten Dienste außerdem noch ganz ande­ren Her­aus­for­de­run­gen gegenüber: »Deutsch­land­weit stel­len sich Mit­ar­bei­tende von Ambu­lan­ten Diens­ten die Frage, wel­che geeig­ne­ten The­ra­pie­kon­zepte es für Men­schen mit Behin­de­rung gibt«, sagt Clau­dia Apel, Lei­te­rin der Ambu­lan­ten Dienste. Dabei ist egal, ob es um Men­schen mit geis­ti­ger Behin­de­rung, um Lern- oder um Hör- und Sprach­be­hin­de­rung geht. »Bis­her sind wir auch im Aus­tausch mit ande­ren Anbie­tern nicht fündig gewor­den«, sagt Apel. Men­schen mit Behin­de­rung gehen zum Ent­zug in Kli­ni­ken und erhal­ten ebenso wie Men­schen ohne Behin­de­rung ansch­ließende Reha-Maßnah­men.

Was heißt das für die Betrof­fe­nen aus der Behin­der­ten­hilfe? »Beim Ent­zug fängt es schon an, denn unsere Kun­den sind den Anfor­de­run­gen eines Kran­ken­haus­auf­ent­hal­tes ohne unsere Assis­tenz nicht gewach­sen«, sagt Apel. Wenn die Kran­kenhäuser in der Nähe sind, orga­ni­siert sie mit ihrem Team Besu­che, damit die Kun­den mit Assis­ten­ten-Hilfe ihre Auf­ga­ben erfüllen können.

Anders bei Reha-Maßnah­men: »Diese sind weitaus schwie­ri­ger. Die vor­han­de­nen The­ra­pie­kon­zepte ori­en­tie­ren sich nicht am Bedarf unse­rer Kun­den. Diese sind mit den Anfor­de­run­gen eines Kran­ken­hau­ses oder einer Reha­bi­li­ta­ti­ons­ein­rich­tung ent­we­der von Anfang an oder nach kur­zer Zeit über­for­dert.« Alleine die Spra­che inhalt­lich nicht zu ver­ste­hen reicht aus, um bei ihnen ungute Gefühle aus­zulösen. Es fol­gen Abbrüche und Frus­tra­tio­nen. Was fehlt, ist ein ent­spre­chen­des Ange­bot. »Diese Marktlücke sollte bald geschlos­sen wer­den. Über Markt­for­schung könnte man her­aus­fin­den, wie hoch der Bedarf ist und wie sich diese Maßnah­men finan­zie­ren las­sen«, so Apel.

Der­zeit beglei­ten die Ambu­lan­ten Dienste zwei Männer, die seit vie­len Jah­ren tro­cken sind. Clau­dia Apel: »Die bei­den beschrei­ben einen stei­ni­gen Lebens­weg und sind sehr froh, dass sie es geschafft haben.« Sie wis­sen, die Gefahr lau­ert über­all, eine Garan­tie gibt es nicht. Aller­dings haben sie die schreck­li­che, anstren­gende und ein­same Zeit während ihrer Sucht nicht ver­ges­sen. Da wol­len sie nie wie­der hin.

Ein­sam­keit – die­sen Zustand ken­nen auch viele Besu­cher der Ves­per­kir­che im Land­kreis Ravens­burg. Seit 2009 ver­an­stal­ten das Dia­ko­ni­sche Werk Ravens­burg und die Johan­nes-Zieg­ler-Stif­tung gemein­sam die Ves­per­kir­che. 2017 begrüßten die Orga­ni­sa­to­ren ihren 100.000. Gast. »Dass dar­un­ter auch viele Gäste sind, die eine irgend­wie gear­tete Such­ter­kran­kung haben, ist uns klar«, sagt Harald Dubyk von den Zieg­ler­schen, einer der Orga­ni­sa­to­ren. Immer wie­der tau­chen alko­ho­li­sierte Gäste auf, die buchstäblich am Rande der Gesell­schaft leben. Aber das gehört zu einer Ves­per­kir­che unter dem Motto »Offen für alle« dazu. Die Gäste tra­gen ihren All­tag – und damit auch ihre All­tagssüchte – in die Kir­che hin­ein. »Die Ves­per­kir­che ist somit auch ein Spie­gel­bild der Gesell­schaft«, so Dubyk. »Und in einem begrenz­ten Kir­chen­raum fällt das auch sofort auf.«

Bis­her gab es damit kaum Schwie­rig­kei­ten. »In Wein­gar­ten muss­ten wir ein­mal einen stark alko­ho­li­sier­ten und ver­bal aggres­siv auf­tre­ten­den Gast aus der Kir­che bit­ten«, erin­nert sich Harald Dubyk. Dass der Gast zudem im Roll­stuhl saß, war für die Verant­wort­li­chen noch­mals her­aus­for­dern­der. »Aber es ging in die­ser kon­kre­ten Situa­tion lei­der nicht anders. Sonst wäre es wohl eska­liert. Hier haben wir uns für die Gemein­schaft und nicht für den Ein­zel­nen ent­schie­den. Das fiel nicht leicht«.

Was kann man tun, damit Sucht gar nicht erst ent­steht? Wie ver­hin­dert man, dass Kin­der und Jugend­li­che rau­chen, trin­ken oder Dro­gen neh­men? Sol­che Gedan­ken macht man sich an der »Schule am Wolfsbühl« in Wil­helms­dorf schon lange. Die Schule gehört zum Hör-Sprach­zen­trum der Zieg­ler­schen. Hier ler­nen Kin­der und Jugend­li­che mit Pro­ble­men beim Hören und Spre­chen. Einige woh­nen im Inter­nat. In der Wohn­gruppe 1 des Inter­na­tes macht man sich beson­ders viele Gedan­ken: Die zwölf Kin­der und Jugend­li­chen zwi­schen 10 und 18 Jah­ren bestärken sich gegen­sei­tig, gar nicht erst mit den Las­tern anzu­fan­gen. »Be smart – don’t start«, über­setzt also: »Sei klug und fang gar nicht erst an«, heißt ein Anti­rau­cher-Wett­be­werb, an dem auch in die­sem Jahr wie­der über 5.000 Schul­klas­sen aus ganz Deutsch­land teil­ge­nom­men haben. Die WG 1 aus Wil­helms­dorf war eine davon – und beson­ders erfolg­reich. Denn wie­der ein­mal ging auch in die­sem Jahr ein Preis nach Wil­helms­dorf. Schon vor zwei Jah­ren hatte die WG 1 für die tolle Idee einer Geo­ca­ching Tour zum Thema Rau­chen gewon­nen. Beim Geo­ca­chen wird mit Hilfe eines GPS-Gerätes nach »caches« gesucht. Ein cache ist bei­spiels­weise bis heute in der Nähe des Wil­helms­dor­fer Fried­ho­fes ver­steckt und heißt »Rau­cher ster­ben schnel­ler«.

Laut Michael Kos­te­lecky, dem langjähri­gen Erzie­her der WG 1, lief das alles eher neben­her mit. »Vor allem wol­len die WG-Kin­der wis­sen, wie meine persönli­chen Erfah­run­gen mit Alko­hol und Niko­tin aus­se­hen und ob mir Dro­gen im Leben gehol­fen haben«, sagt Kos­te­lecky. Sol­che Fra­gen bespricht die Wohn­gruppe dann beim gemein­sa­men Essen. Wich­tig ist, über die Gefah­ren von Sucht zu spre­chen. Auch haben schon Gespräche mit Pati­en­ten der Fach­kli­nik Ring­gen­hof oder mit akti­ven Rau­chern statt­ge­fun­den. »Die WG-Kin­der können dadurch ansatz­weise nach­voll­zie­hen, wie eine Sucht ent­steht«, so Kos­te­lecky.

In vie­len Elternhäusern wird geraucht. Für Erzie­her Michael Kos­te­lecky ist es schon eine große Leis­tung, wenn die Jugend­li­chen das Ver­hal­ten ihrer Eltern nicht nach­ah­men. »Sol­che Kin­der sind mehr gefährdet«. Somit ist wich­tig, dass Präven­tion möglichst früh beginnt. Die Chan­cen in Wil­helms­dorf ste­hen jeden­falls nicht schlecht. Denn im Flur der WG 1 hängt eine Liste mit den Namen aller Kin­der. Hin­ter jedem Namen fin­det sich ein Häkchen und die Unter­schrift des Kin­des. Ich fange nicht an, bedeu­tet die Unter­schrift. Ein guter Schritt.

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»Natürlich neigen auch Menschen mit Behinderungen zu Sucht: Smartphones, Essen, Alkohol. Ungeklärt ist nur, welche Therapiekonzepte es für sie gibt.«

»Bei der Vesperkirche tragen die Gäste ihren Alltag – und damit auch ihre Süchte – in die Kirche hinein. Das gehört zum Motto »Offen für alle« einfach dazu.«

Preisgewinner: Die smarten Kids der WG1 in Wilhelmsdorf fangen gar nicht erst mit Rauchen an.