Macht das tägliche Glas Wein schon süchtig?

Expertentipp

Macht das tägliche Glas Wein schon süchtig?

Expertentipp

September 2017

Fragen an Thomas Greitzke, therapeutischer Leiter der Fachklinik Ringgenhof, über die Grenze zwischen Alltagsgewohnheit und Sucht sowie die unheilvolle Rolle von Angehörigen.

Text: Katharina Stohr

Herr Greitzke, Sie behan­deln in Ihrer Kli­nik jährlich etwa 550 Männer, die an allen mögli­chen For­men der Sucht erkrankt sind. Wo liegt die Grenze zwi­schen All­tags­ge­wohn­heit und Such­ter­kran­kung? Macht das tägli­che Gläschen Wein schon süchtig?
Wir Men­schen sind ja alle Gewohn­heits­tiere (lacht). Jeder von uns hat schon mal ver­sucht, schlechte Ange­wohn­hei­ten los­zu­wer­den und hat dann gemerkt, wie schwie­rig das ist. Trotz star­kem Wil­len: Auf ein­mal spre­chen uns andere Dinge an und wir können es dann doch nicht las­sen und grei­fen bei­spiels­weise zur Ziga­rette. Wenn eine Gewohn­heit aller­dings so stark wird, dass sie unse­ren Leben­sall­tag bestimmt oder wenn ich von einer süchtig machen­den Sub­stanz wie Alko­hol immer mehr zu mir neh­men muss, bis ich die Kon­trolle darüber ver­liere und ein Zwang zum Kon­sum ent­steht – spätes­tens dann spricht man von einer Such­ter­kran­kung.

Der All­tag ist voll von ver­schie­dens­ten Din­gen, zu denen man Abhängig­kei­ten ent­wi­ckeln kann: Alko­hol, Dro­gen, Medi­ka­mente, Niko­tin, Essen, Inter­net, soziale Medien, Fern­se­hen &hel­lip; Wel­cher Schritt aus der Abhängig­keit ist der erste?
Es fängt immer mit der Wahr­neh­mung an. Wieso komme ich nicht mehr vom Fern­seh­ap­pa­rat weg oder wieso schaue ich mir Sachen an, die mich gar nicht inter­es­sie­ren? Steuere ich das Ganze noch oder bin ich schon die Gei­sel von bestimm­ten Ver­hal­tens­wei­sen oder Sub­stan­zen? An die­sem Punkt könnte man über­le­gen: Ist da etwas nicht in Ord­nung? Die meis­ten, die von Sucht betrof­fen sind, fra­gen sich das erst sehr viel später. Nämlich dann, wenn sie hand­feste Pro­bleme bekom­men oder wenn sie von zwang­haf­tem Ver­hal­ten wie bei der Spiel­sucht völlig beherrscht sind. Erst wenn der Lei­dens­druck mas­siv groß ist, zie­hen die Leute die Reißleine und holen sich Hilfe. Dann ist es aber schon sehr weit gekom­men. Wir sind Meis­ter im Selbst­be­trug! Wir machen uns ewig etwas vor, ver­blei­ben in Situa­tio­nen, die uns schon längst schädigen und hören den­noch nicht auf damit.

Wo fin­den abhängige Men­schen Hilfe?
Es kommt immer dar­auf an, um wel­che Pro­bleme es tatsächlich geht. Ein Mensch, der deut­lich zu viel Alko­hol trinkt, sollte zu sei­nem Haus­arzt gehen und sehr offen über sein Pro­blem reden. Und sich dann bera­ten las­sen. In Deutsch­land gibt es ein sehr gutes Sucht­hil­fe­sys­tem, ange­fan­gen von Selbst­hil­fe­grup­pen bis hin zu Sucht­be­ra­tungs­stel­len mit pro­fes­sio­nel­len Hel­fern. Und viel­leicht ist dann der nächste Weg, sich pro­fes­sio­nell in einer Kli­nik hel­fen zu las­sen.

Was können Angehörige tun?
Angehörige spie­len – ohne dass sie es beab­sich­ti­gen – lei­der oft eine unheil­volle Rolle. Viel­leicht besor­gen sie dem Sucht­kran­ken in falsch ver­stan­de­ner Hilfs­be­reit­schaft das Sucht­mit­tel oder dul­den, dass er es nimmt. Zwar lei­den sie schon unter dem Zustand, wagen es aber nicht, klare Kon­se­quen­zen aus­zu­spre­chen. Wir sagen jedem hil­fe­su­chen­den Angehörigen, dass er den Lei­dens­druck erhöhen soll. Kon­kret heißt das: Den betrof­fe­nen Such­ter­krank­ten nur noch unterstützen, wenn echte und ehr­li­che Bereit­schaft zur Umkehr vor­han­den ist. Diese Kon­se­quenz zu zei­gen, ist für Angehörige oft sehr schwer. Es gibt viele Bera­tungs­stel­len mit Angehörigen­grup­pen. Da kommt sehr schnell sehr gute Hilfe!

Herz­li­chen Dank für das Inter­view!

Tipp

Der erste Schritt aus der Abhängigkeit fängt immer mit der eigenen Wahrnehmung an. Wieso komme ich nicht mehr vom Fernsehapparat weg? Trinke ich zuviel? Steuere ich das Ganze noch? Ein Mensch, der deutlich zu viel Alkohol trinkt, sollte zu seinem Hausarzt gehen, offen über sein Problem reden und sich dann beraten lassen.