Titelthema

März 2017

Vom Umgang mit dem Tod

»Erfüllt mit Leben« – das ist der Wahlspruch der Zieglerschen. Er prangt auf Briefköpfen, Broschüren, den Jahresberichten und vielem mehr. Das Leben in allen seinen Facetten steht bei uns Tag für Tag im Mittelpunkt. Doch wie sieht es eigentlich mit Sterben und Tod aus, die ebenso zum Leben gehören? Wir haben uns diesem – zugegeben nicht ganz leichten – Thema gewidmet und in den Zieglerschen nach dem Umgang mit dem Sterben gefragt.

Text: Volkmar Schreier

Ja, unter den Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­nern im Senio­ren­zen­trum Taläcker in Wend­lin­gen ist der Tod durch­aus Gesprächsthema. »Erst letzte Woche ist eine Bewoh­ne­rin auf mich zuge­kom­men. Kurz vor­her war jemand ande­res auf dem Wohn­be­reich gestor­ben. ›Jetzt hat sie es auch geschafft‹, meinte sie zu mir«, erzählt Nat­ha­lie Wied­mann, die im Senio­ren­zen­trum für den Bereich Soziale Betreu­ung zuständig ist.

Der Tod als Erlösung? Bettlägerig­keit, ständige Schmer­zen, Wun­den, die nicht mehr ver­hei­len, der Geist ver­fal­len, der Körper aber irgend­wie noch am Leben – der aller­letzte Lebens­ab­schnitt als körper­li­che Lei­dens­zeit. Oder aber die alte Frau, weit über 90 Jahre alt, von der eine erfah­rene Pfle­ge­kraft, die unge­nannt blei­ben will, berich­tet. Körper­lich und geis­tig noch fit, kin­der­los, der Mann seit Jah­ren tot, Freunde und Bekannte eben­falls schon lange ver­stor­ben. »Wann holt mich Gott end­lich auch zu sich?«, habe sie immer wie­der gefragt. Da ver­liert der Tod viel­leicht wirk­lich sei­nen Schre­cken.

Die Angst vor dem Tod, die gibt es auch. Doch sel­ten wird sie expli­zit geäußert, sie zeigt sich eher in Klei­nig­kei­ten: Nie­der­ge­schla­gen­heit, nicht schla­fen können, Unruhe, das Rufen nach den längst ver­stor­be­nen Eltern. Manch­mal wird das Ster­ben auch zum sprichwörtli­chen Rin­gen mit dem Tod, das sich in die Länge zieht. Wenn sich dann irgend­wann auf dem Gesicht des Ster­ben­den das weiße Drei­eck um Nase und Mund abzeich­net, die Nase spitz und die Lip­pen lang­sam bläulich wer­den, dann wis­sen die Pfle­gekräfte: Jetzt geht es zu Ende.

In Wend­lin­gen beglei­ten die Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter des Betreu­ungs­diens­tes die Ster­ben­den in die­sem letz­ten Lebens­ab­schnitt, unterstützt, wenn gewünscht, durch den örtli­chen Hospiz­dienst. Sie leis­ten Bei­stand, hal­ten die Hand des Ster­ben­den, ver­su­chen, die Angst zu neh­men, sind ein­fach da. Hil­f­reich dabei ist die soge­nannte »Ster­be­box«, die alles enthält, um das Zim­mer des Ster­ben­den würde­voll zu gestal­ten: Ein Kreuz, eine elek­tri­sche Kerze, Bibel, Gesang­buch, Kar­ten mit kur­zen Tex­ten und Gebe­ten fin­den sich unter ande­rem darin. »Bei jeman­dem, von dem wir wis­sen, dass er sehr religiös ist, stel­len wir dann bei­spiels­weise das Kreuz auf und die Kerze, bei jeman­dem, dem der Glaube nicht so wich­tig war, eben nur die Kerze – eben so, wie es sich der Bewoh­ner gewünscht hat.« Woher Nat­ha­lie Wied­mann und ihre Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen wis­sen, was sich der Betref­fende gewünscht hat? »Wir erfra­gen das bei­spiels­weise bei der Auf­nahme, oft ist es aber auch so, dass uns die Bewoh­ner das ein­fach so sagen, wenn man sich unterhält.«

Aber wie geht man damit um, so oft mit Ster­ben und Tod kon­fron­tiert zu wer­den? Ganz unter­schied­lich, sagt eine, die es wis­sen muss. Petra Feh­lei­sen ist langjährige Ein­rich­tungs­lei­tung in der Alten­hilfe der Zieg­ler­schen und hat zuletzt das Wend­lin­ger Senio­ren­zen­trum auf­ge­baut. So man­cher komme damit auf Dauer nicht klar und suche sich einen ande­ren Job. Andere wie­derum ließen die Dinge zu sehr an sich heran – am Ende stehe der Bur­nout. »Man muss sich letzt­end­lich eine pro­fes­sio­nelle Distanz dazu aneig­nen«, sagt sie.

Was noch hilft: Gemein­sa­mes Trau­ern und Abschied­neh­men. »Manch­mal ist es auch so, dass wir gemein­sam, also Pfle­gekräfte und Angehörige zusam­men, von dem Ver­stor­be­nen in sei­nem Zim­mer mit einem kur­zen Gebet Abschied neh­men«, erzählt Nat­ha­lie Wied­mann. Wenn möglich, geht jemand aus der Ein­rich­tung zur Beer­di­gung, das Senio­ren­zen­trum Taläcker besorgt eine Grab­schale und den Angehörigen wird eine persönli­che Trau­er­karte geschickt. Und wenn an der Mit­tags­ta­fel des Wohn­be­reichs plötzlich ein Platz leer bleibt, hal­ten Bewoh­ner und Mit­ar­bei­ter kurz inne, jemand ver­liest ein Gedicht oder spricht für den Ver­stor­be­nen ein kur­zes Gebet. Im monat­li­chen Got­tes­dienst wer­den die Ver­stor­be­nen in die Fürbit­ten ein­ge­schlos­sen. Im Kon­do­lenz­buch des Senio­ren­zen­trums wird ein neuer Ein­trag mit einem Gedicht oder Spruch und ein paar persönli­chen Zei­len für den Ver­stor­be­nen ange­legt. »Der Tod soll kein Tabuthema sein«, sagt Nat­ha­lie Wied­mann.

Während bei Alten- und Pfle­ge­hei­men der Tod also quasi schon auf dem Türschild steht, würde man dies von ande­ren Arbeits­be­rei­chen der Zieg­ler­schen so nicht ver­mu­ten. Dabei sind Ster­ben und Tod durch­aus auch bei jun­gen Men­schen ein Thema – so auch in der Jugend­hilfe der Zieg­ler­schen.

»Es geht nicht darum, dass, ob oder wie wir ster­ben«, sagt Ste­fan Gei­ger, »son­dern wie wir damit umge­hen.« Gei­ger ist einer, der dem Tod schon in allen sei­nen Facet­ten begeg­net ist. Ste­fan Gei­ger, der mit sei­ner the­ra­peu­tisch-seel­sor­ger­li­chen Auf­gabe sowohl für die Jugend-, als auch die Behin­der­ten­hilfe der Zieg­ler­schen tätig ist, hat selbst schon ein Nahto­der­leb­nis gehabt, »mit Herz­still­stand, Licht am Ende des Tun­nels und so wei­ter«. Das habe sei­nen Blick auf das Leben und den Tod verändert.

In der Jugend­hil­fe­ein­rich­tung Mar­tins­haus Klein­to­bel beklei­det Ste­fan Gei­ger die Stelle »the­ra­peu­tisch-seel­sor­ger­li­cher Fach­dienst«. Was er da tut? Vor allem Jugend­li­chen zuhören und mit ihnen reden, sie the­ra­peu­tisch und in Kri­sen beglei­ten. Ein­zel­ge­spräche, deren Inhalte in der Regel ver­trau­lich blei­ben. Es geht auch um den Tod. »Jugend­li­che beschäftigt es vor allem, wenn Gleich­alt­rige oder aber die Eltern ster­ben«, berich­tet Ste­fan Gei­ger. »Und fast alle Jugend­li­chen haben in der Pubertät Selbst­mord­ge­dan­ken.« Aber, so weiß der erfah­rene Seel­sor­ger auch: »Die aller­meis­ten tun es nicht.« Den­noch nimmt er jeden, der etwas in der Rich­tung sagt, sehr ernst.

Im Auf­trag der Behin­der­ten­hilfe berät Ste­fan Gei­ger außerdem an drei Kli­ni­ken in Stutt­gart, Ulm und Kon­stanz meist junge und jugend­li­che Pati­en­ten mit vielfälti­gen Kom­mu­ni­ka­ti­onsstörun­gen. Nicht sel­ten mündet dies in die Beglei­tung der gan­zen Fami­lie. Vor allem bei Erkran­kun­gen, die zum Tode führen können oder auch bei jun­gen Men­schen, die auf­grund eines schwe­ren Unfalls bei nor­ma­ler Intel­li­genz plötzlich schwer­be­hin­dert sind.

Einen sol­chen Fall hat er mit dem erst 15-jähri­gen Tobias erlebt, der seit einem Unfall im Roll­stuhl sitzt, quasi mit Totallähmung. Tobias, des­sen Name hier geändert wurde, kann nicht mehr spre­chen, ist aber nor­mal­be­gabt geblie­ben und drückte seine Verzweif­lung mit Hilfe der Augen­spra­che aus. »Er wollte nicht mehr wei­ter­le­ben, wollte, dass sein Vater oder ich ihn umbrin­gen sol­len. Das Schlimmste für ihn war, wenn jemand ver­suchte, ihm Mut zuzu­spre­chen durch ent­spre­chende Aus­sa­gen wie: ›Wir wer­den einen Weg fin­den, dass du glücklich wirst‹«, erklärt Gei­ger. »Also habe ich ihm in unse­rer ers­ten Begeg­nung direkt gesagt: Tobias, wenn ich Du wäre, würde ich mich umbrin­gen – aber nicht mal das bekommst du mit dei­ner Lähmung hin! Er lachte und weinte bit­ter­lich zugleich. Wir haben uns ver­stan­den. Inzwi­schen sind wir ›die zwei fast bes­ten Freunde‹ und sowohl seine Todes­sehnsüchte, als auch seine Depres­sio­nen sind nur noch sel­ten – ich bewun­dere ihn.«

Seine Erfah­run­gen fasst Ste­fan Gei­ger so zusam­men: »Ob in der Jugend­hilfe, der Behin­der­ten­hilfe oder der Kli­niktätig­keit, meine Erfah­rung ist, dass das Thema Tod meis­tens angst­be­setzt und distan­ziert behan­delt wird.« Sein Fazit: »Wir haben in unse­rer Gesell­schaft ein­fach keine Trau­er­kul­tur«.

Ster­ben und Tod ist auch ein Thema in der Behin­der­ten­hilfe der Zieg­ler­schen. Immer wie­der ster­ben Schülerin­nen und Schüler der Has­lachmühle – ent­we­der hier oder an den Heim­fahr­wo­chen­en­den daheim. »Ster­ben gehört zum Leben dazu. Meist geschieht das völlig uner­war­tet, jemand geht abends ganz nor­mal ins Bett und wacht mor­gens nicht mehr auf. Man­che unse­rer Schüler ster­ben aber auch infolge pro­gres­si­ver Krank­hei­ten «, erzählt Bernd Eisen­hardt, Direk­tor des son­derpädago­gi­schen Bil­dungs- und Bera­tungs­zen­trums Has­lachmühle.

Ein beson­de­rer Platz zum Trau­ern und Erin­nern wurde des­halb bereits vor eini­gen Jah­ren auf dem Gelände der Has­lachmühle geschaf­fen: der Gar­ten der Erin­ne­rung. Rosen, Laven­del und Wild­blu­men umsäumen und schmücken die­sen beson­de­ren Ort. Der Gar­ten ist nach einer Idee von Andreas Krapp kreisförmig ange­legt und sym­bo­li­siert einen Mühlstein und ein Was­ser­rad. Gegen die Hang­seite wurde der Gar­ten mit einer Tro­cken­mauer ein­ge­fasst, auf der Por­zel­lan-Täfel­chen mit den Fotos und den Namen der Ver­stor­be­nen befes­tigt sind.

Dabei ist der Gedanke an den Tod oft­mals keine schlimme Vor­stel­lung, wie Ulla Krüger vom psy­cho­lo­gi­schen Fach­dienst der Behin­der­ten­hilfe berich­tet. »Was mich immer wie­der über­rascht, ist die Stärke, mit der behin­derte Men­schen mit dem Tod umge­hen«, sagt sie. In der doch eher gegenständlich geprägten Gedan­ken­welt vie­ler behin­der­ter Men­schen sei der Tod kein Ein­schnitt mit unge­wis­sem Aus­gang: »Sie ster­ben ja nicht, sie gehen heim. Es ist eher ein Über­gang – die Seele reist ja wei­ter zu Jesus.«

Viel wich­ti­ger ist dann die Frage, was mit dem Körper nach dem Tod geschieht. Viele der behin­der­ten Men­schen, mit denen Ulla Krüger spricht, wol­len keine Feu­er­be­stat­tung. »Sie wol­len ja eines Tages mit gan­zem Körper wie­der auf­er­ste­hen.« Bei einem Häufchen Asche gehe das in deren Vor­stel­lung nicht. »Viele sagen das dann auch ganz expli­zit und dif­fe­ren­ziert, gerade die, die sich im Leben viel mit dem Glau­ben beschäftigt haben.«

Sehr wich­tig sind auch Rituale, gerade beim Abschied­neh­men. »Wir rich­ten die Ver­ab­schie­dung sehr stark auf die Per­son des Ver­stor­be­nen hin aus und zei­gen auch viele Bil­der von gemein­sa­men Begeg­nun­gen und Unter­neh­mun­gen«, erzählt Bernd Eisen­hardt. Und so kommt es in der Has­lachmühle schon mal vor, dass bei einer Aus­seg­nungs­feier »Hänschen klein« oder »Muss i denn zum Städtele hin­aus« gesun­gen wird. Nämlich dann, wenn das Lied das Lieb­lings­lied des Ver­stor­be­nen war.

Mit Ker­zen werde der Ver­stor­be­nen gedacht und jeder spüre, dass es kein nor­ma­ler Got­tes­dienst sei. Eisen­hardt wei­ter: »Es herrscht eine andere Atmo­sphäre und Ruhe, auch stark ein­ge­schränkte Per­so­nen spüren diese Betrof­fen­heit. Man­che tra­gen etwas vor, viele wei­nen.« Wenn der Sarg sich bei der Abschieds­feier noch auf dem Gelände befin­det, wird er von Schülern und Mit­ar­bei­tern nach draußen ins Fahr­zeug gebracht und mit offe­ner Heck­klappe vom Gelände hin­aus­ge­fah­ren. Beglei­tet vom Win­ken der Freun­din­nen und Freunde. Nach der Abschieds­feier folgt in der Regel ein gemein­sa­mes Kaf­fee­trin­ken mit der Wohn­gruppe, mit Leh­rer und Lei­tern. »Oft sind Eltern beein­druckt und gerührt über diese Anteil­nahme von Kol­le­gium und Mitschülern«, so Eisen­hardt. »Doch für uns ist das selbst­verständlich und wich­tig.

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»Manchmal ist es auch so, dass Pflegekräfte und Angehörige gemeinsam mit einem kurzen Gebet Abschied nehmen.«

Ein besonderer Platz zum Trauern: der »Garten der Erinnerung« auf dem Gelände der Haslachmühle