Titelthema

Dezember 2014

Tiere als Therapeuten

Vor vielen 1.000 Jahren dienten viele Tiere nur dazu, uns Menschen mit Fleisch, Milch oder Fett zu versorgen. Heute nehmen sie in unserer Gesellschaft einen anderen Stellen­wert ein. Was Tiere für Menschen mit Handicaps, für Pflegebedürftige oder für Jugendliche in seelischen Nöten bedeuten und bewirken können, dieser Frage sind wir in dieser Ausgabe der visAvie nachgegangen. Lesen Sie selbst.

Text: Katharina Stohr und Jens Walther

Michael putzt einen Kohl­kopf an sei­nem Arbeits­platz in der Gemüsever­ede­lung der Bio­land Rotach-Gärtne­rei. In einer hal­ben Stunde wird er den dabei ent­stan­de­nen Abfall sei­nen bei­den Hasen-Damen in der Heim­son­der­schule Has­lachmühle füttern. Der 27-Jährige ist erklärter Hasen­lieb­ha­ber. Vor 15 Jah­ren kam er in die Has­lachmühle, zwei Jahre später brachte er die erste Häsin von zu Hause mit und fing an, in der Has­lachmühle eine kleine Zucht auf­zu­bauen. »Als Michael zu uns kam, konnte er nicht gebärden – das war für ihn, der nicht spre­chen kann und geis­tig behin­dert ist, sehr schwie­rig«, sagt Direk­tor Bernd Eisen­hardt. »Über sein Lieb­lings­thema Tiere hat er sich jedoch die Gebärden­spra­che schnell aneig­nen können.«

In Haus­meis­ter Erhard Scher, 63, hat er einen unterstützen­den Stell­ver­tre­ter fürs Füttern und Mis­ten gefun­den. Gebärdend erklärt Michael, dass seine Hasen-Damen im Frühjahr für einen Tag mit zum künfti­gen Hasen-Papa in Bernd Eisen­hardts Stall dürfen. Vier Wochen später brin­gen die Hasen-Damen dann süße Häschen auf die Welt, die sich nach ein paar Tagen aus dem Stall ins Frei­ge­hege trauen und sämtli­che Bewoh­ner der Has­lachmühle bei ihren Spa­ziergängen erfreuen. Denn viele Bewoh­ner sind moto­risch schwer behin­dert und begeis­tert, wenn sie den Häschen Gras­halme zum Knab­bern durchs Git­ter ste­cken können. »Etwa drei Monate später unter­su­chen Michael und ich nach dem Vier-Augen-Prin­zip den gesam­ten Nach­wuchs und tren­nen Männlein und Weib­lein von­ein­an­der, um den Hasen-Bestand nicht wei­ter explo­die­ren zu las­sen«, sagt Eisen­hardt. Im Herbst klopft Michael erneut an Eisen­hardts Bürofens­ter und gibt ihm zu ver­ste­hen, dass es nun an der Zeit ist, die inzwi­schen aus­ge­wach­se­nen Hasen an Inter­es­sen­ten für Kanin­chen­ge­richte zu ver­mit­teln. »Das erscheint auf den ers­ten Blick hart, aber es gehört dazu, solange wir Men­schen Fleisch essen«, sagt Eisen­hardt, »das ist der Kreis­lauf des Lebens und Tiere sind in der Has­lachmühle wich­tig, weil sie den All­tag unse­rer Bewoh­ner berei­chern.«

Einen tie­ri­schen Kreis­lauf erle­ben auch die Mit­ar­bei­ten­den in und rund um das Haus Salem in Wil­helms­dorf, wel­ches unter ande­rem die Vor­stand­se­ta­gen der Zieg­ler­schen beher­bergt. Hoch auf dem Dach­first thront dort jedes Jahr ein Stor­chen­paar und berei­tet das Nest für den Nach­wuchs vor. Anne Beck, Refe­ren­tin für Pro­jekte, hat von ihrem Arbeits­platz aus direk­ten Blick auf die Ein­flug­schneise. »Ich sehe beim Lan­de­an­flug der Störche genau, ob sie einen Frosch oder einen Ste­cken im Schna­bel haben«, sagt sie. Außerdem sind die Störche ein mar­kan­tes Zei­chen: »Allen Besu­chern wird der Weg zu uns mit­tels ›Haus mit Störchen auf dem Dach‹ beschrie­ben«. Im Laufe der Monate fin­det dadurch auch ein tota­ler Bezie­hungs­auf­bau statt, so Beck. »Die Störche struk­tu­rie­ren das Jahr«, sagt sie. Im Frühjahr ein Kom­men, im Spätsom­mer ein Gehen.

100 Kilo­me­ter wei­ter war­tet Hund Spi­key sehnsüchtig auf Don­ners­tag. Don­ners­tag ist Fei­er­tag für ihn. Dann fah­ren abwech­selnd er oder zwei sei­ner Hunde-Kol­le­gen mit Frau­chen Agnes Graf ins Gemein­de­pfle­ge­haus Kus­ter­din­gen. Die 63-jährige Ehren­amt­li­che aus Tübin­gen hat jedoch weitaus mehr Tiere im Gepäck, wenn sie die demen­ten Bewoh­ner besucht: »Alle war­ten immer schon ganz gespannt dar­auf, wen ich heute wie­der dabei habe.« Denn sie wählt jedes Mal neu zwi­schen ihren 30 bis 40 Tie­ren aus: »Hühner, Enten, Kat­zen, Hasen und zur­zeit habe ich auch ein Reh«, zählt sie auf. Mit ins Heim dürfen aber nur cha­rak­ter­lich ein­wand­freie Tiere. »Demente Men­schen grei­fen oft sehr fest zu, das muss ein Tier aus­hal­ten können.«

Viele Tiere der Tierschütze­rin sind gehan­di­capt. Bei Katze Fin­chen etwa, die schon ein­ein­halb Jahre alt ist und nie größer wurde als ein klei­nes Kätzchen, sprin­gen regel­rechte Mut­ter­gefühle vie­ler Bewoh­ne­rin­nen an. »Ob sie wohl Schmer­zen hat?« hört sie dann. Ihr Ziel ist, dass die Tiere Kon­takt zwi­schen den Bewoh­nern her­stel­len, der auf­grund der Demenz sonst nicht so da ist. »Viele zie­hen sich zurück – wenn dage­gen Ente Lie­se­lotte im Stuhl­kreis umher wat­schelt und vor einem Bewoh­ner ste­hen­bleibt, dann sehe ich plötzlich strah­lende Augen oder es huscht ein Lächeln über‘s Gesicht, wo zuvor kei­nes zu sehen war.« Tiere sind Türöffner und Brücken­bauer, fin­det Graf – sie brin­gen Nähe und Freude und für die Ehren­amt­li­che ist es schön, den Bewoh­nern etwas mit­ge­ben zu dürfen. Sel­bige haben bei ihren Besu­chen natürlich auch eine Auf­gabe. Sie strei­cheln, bürsten oder füttern bei­spiels­weise Hund Spi­key mit Lecker­lis, die er aus­nahms­weise nur im Pfle­ge­heim bekommt. Er bekommt sie auch dann, wenn er Agnes Graf am Frei­tag beglei­ten darf. Denn da hat sie ihren fes­ten Tier-Besuchs­tag im Mar­tins­haus Kir­chen­tel­lins­furt.

Feste Besuchs­tage haben auch die drei The­ra­pie-Pferde des Sprach­heil­zen­trums Ravens­burg. Jedes Schul­kin­der­gar­ten­kind darf ein hal­bes Jahr lang wöchent­lich eine Stunde in den Pfer­de­stall zum Heilpädago­gi­schen Rei­ten. Der vierjährige Noah hat es sich gerade bäuch­lings auf Lukas‘ Rücken bequem gemacht. Verträumt kuschelt er sich in das Fell des Nor­we­ger-Wal­lachs und blickt dabei in die schein­bar ver­kehrte Rich­tung – nämlich zum Pferde-Schweif. »Das Pferd soll Ruhe ins Leben der Kin­der brin­gen«, sagt Reitpädago­gin und Grund- und Haupt­schul­leh­re­rin Hil­de­gard Duhm-Ugrik, 61. Heute ver­brachte Noah seine zweite Stunde auf dem Pfer­derücken.

Mutig hat er sich am Ende auf die moti­vie­ren­den Worte sei­ner Leh­re­rin hin mit bei­den Füßen auf Felix‘ Rücken gestellt und stolz in die Runde geblickt. »Bezie­hungs­an­bah­nung «, sagt Duhm-Ugrik zu die­ser Übung, und: »Heilpädago­gi­sches Rei­ten spricht das ganze Kind an. Es nimmt Ängste, gibt Ver­trauen und Sicher­heit und ver­mit­telt das Gefühl des Getra­gen-Wer­dens.« Egal ob Put­zen, Führen, Rei­ten: Jeder Schritt mit dem Pferd wird von Sprach-Ritua­len beglei­tet. So ist beim Hufe aus­krat­zen etwa »Lukas, heb den Fuß« zu hören. Oder: »Lukas, lauf jetzt los«, wenn Noahs Freund den Wal­lach am Strick führt. »Heilpädago­gi­sches Rei­ten ist ein guter Unter­bau, um in unge­zwun­ge­ner Umge­bung zu spre­chen«, sagt Duhm-Ugrik. Ein Modell übri­gens, das das Sprach­heil­zen­trum schon seit den 70er Jah­ren anbie­tet.

Auch in der Fach­kli­nik Höchs­ten der Sucht­hilfe gehören Tiere schon seit vie­len Jah­ren zum The­ra­pie­all­tag. Wo ursprünglich ein rei­ner Arbeits­the­ra­pie­be­reich ange­legt war, arbei­tet Psy­cho­lo­gin Elke Hey­mann-Sza­gun nun seit drei Jah­ren mit tier­gestützter The­ra­pie mit Hund, Pfer­den, Lamas, Alpa­kas und Zie­gen. »Tiere sind ein wich­ti­ges Mit­tel im Hei­lungs­pro­zess sucht­kran­ker Frauen«, sagt sie. »Immer wie­der erlebe ich, wie schnell durch die Tiere ein Zugang möglich ist – gerade auch bei den the­ra­piemüden Frauen.« Viele ihrer Pati­en­tin­nen sind unsi­cher, ängst­lich und haben Gewalt und Miss­brauch erfah­ren. »Durch den Tier­kon­takt über­win­den die Frauen ihr Miss­trauen – Ver­trauen wird möglich«. Außerdem gehen Schutz­hal­tung und Pas­si­vität in eine Form von Akti­vität über. Einer der tie­ri­schen Hel­fer dabei ist die Gol­den Retrie­ver-Hündin Feli. »Sie geht von sich aus auf die Pati­en­tin­nen zu und nimmt Kon­takt auf.« Ist eine Pati­en­tin eher zurückge­zo­gen oder nie­der­ge­schla­gen, stupst Feli sie an und holt sie ins »Hier und Jetzt«.

Als Spie­gel für eigene Ver­hal­tens­wei­sen oder Gefühle eig­nen sich auch Pferde sehr gut, so die The­ra­peu­tin. »Men­schen gehen zum Bei­spiel gerne direkt auf ein Pferd zu und berühren es am Kopf. Ein Pferd mag das jedoch nicht gleich und ver­sucht sich zu ent­zie­hen. Diese Reak­tion ist geeig­net, um über­grif­fige The­men zu bespre­chen.« Meis­tens wol­len die Pati­en­tin­nen mit den Tie­ren in Kon­takt tre­ten. Will das Tier kei­nen Kon­takt, ist die Bereit­schaft der Pati­en­tin­nen größer, diese Ableh­nung zu ver­ste­hen. Für Hey­mann-Sza­gun ein hilf­rei­cher Ansatz: »Die Moti­va­tion der Pati­en­tin­nen ist höher, mein Feed­back über die Ver­hal­tens­weise des Tie­res anzu­neh­men, als wenn ich dies von mir aus als The­ra­peu­tin geben würde.«

Einen bedeu­ten­den Bei­trag leis­ten Tiere auch für die Wohn­ge­mein­schaft 4 im Hör-Sprach­zen­trum Wil­helms­dorf. Denn dort leben nicht nur zwölf Kin­der und Jugend­li­che im Alter von 6 bis 15 Jah­ren mit beson­de­ren sprach­li­chen Pro­ble­men, son­dern auch The­ra­pie­hund Benni, ein vier­ein­halb Jahre alter Gol­den Retrie­ver. Darüber hin­aus gibt es noch zwei großzügige Frei­ge­hege, in dem zehn zufrie­dene Kanin­chen her­um­hop­peln und zehn Meer­schwein­chen um die Wette quie­ken. Für Ulrike Ahfeldt, 54, seit vie­len Jah­ren Erzie­he­rin in der WG 4, ist es das Natürlichste der Welt, dass in ihrer Wohn­ge­mein­schaft Kin­der mit Tie­ren auf­wach­sen können. »Tiere machen kei­nen Unter­schied zwi­schen Men­schen, ihnen ist es egal, wenn ein Kind her­um­schreit – sie las­sen sich davon nicht beir­ren«, sagt sie. Alle Tiere haben eine beru­hi­gende Wir­kung auf die WG-Mit­be­woh­ner, wobei Benni eine Son­der­stel­lung hat. Er spürt sofort, wenn ein Kind gest­resst ist.

»Wenn ich mit einem Kind rede, das ein Pro­blem hat, legt sich Benni dazu oder legt sei­nen Kopf auf den Schoß des Kin­des. Meis­tens beginnt das Kind im Gespräch dann den Hund zu strei­cheln und zu krau­len.« Dadurch kommt Ulrike Ahfeldt im Gespräch leich­ter an das Kind heran. Es kann auch schon Wun­der bewir­ken, wenn Benni ein WG-Kind mit »Null-Bock-Hal­tung « vor Unter­richts­be­ginn zur Klas­sen­zim­mertür beglei­tet und durch sein Dasein die vor­han­dene Anspan­nung abbauen hilft. Durch die ständige Anwe­sen­heit der WG-Tiere erle­ben die Kin­der auto­ma­tisch, dass sie Verant­wor­tung für ihre »Kuschel­tiere« übert­ra­gen bekom­men und bei jedem Wind und Wet­ter raus müssen, um die Tiere zu füttern oder abends in ihre Ställe zu sper­ren.

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Agnes Graf mit ihren Tieren. Für ihr Engagement erhielt sie den Tierschutzpreis des Landes.

Lamas und Alpakas gehören seit vielen Jahren zur Fachklinik Höchsten: Der Umgang mit Tieren tut Suchtkranken Frauen gut und Fördert ihren Heilungsprozess.