Titelthema

September 2015

Zufrieden alt werden – im Pflegeheim?!

Wie möchten Sie alt werden? Möglichst gesund ver­mut­lich, geistig fit und mobil bis zum Schluss. Dabei finanziell einigermaßen abgesichert. Und auch nicht ganz untätig, sondern in Maßen aktiv mit Hobbys, Ehrenämtern oder ähnlichem. So wünschen wir uns das Alter wahr­schein­lich alle. Doch so ist es nicht allen vergönnt. Pflege­bedürf­tig­keit kann jeden treffen. War es das dann mit der Lebens­qualität? Die Expertinnen und Experten unserer Altenhilfe haben sich der Frage gestellt, wie ein zufriedenes Leben auch im Pflegeheim möglich ist. Lesen Sie mehr.

Text: Volkmar Schreier, Annette Scherer und Sarah Benkißer

»Mir geht es hier gut«, sagt Johanna Gödele (Name geändert). Die 95-jährige alte Dame lebt seit März im Kirch­hei­mer Hen­ri­et­ten­stift. »Das Essen ist gut und es gibt viel Pro­gramm im Haus.« Außerdem könne sie jeden Tag auf­ste­hen und ihre Angehörigen kämen oft zu Besuch, berich­tet sie. Ihr gefalle auch das freund­li­che und offene Haus und das helle Zim­mer. Das Wich­tigste aber ist: »Hier sind alle nett und freund­lich zu mir!« Und Petra Feh­lei­sen, Haus­lei­tung des Hen­ri­et­ten­stifts erzählt: »Wenn ich sie treffe und mit ihrem Namen anspre­che, zau­bert das sofort ein Lächeln auf ihr Gesicht.«

Kann Lebens­qua­lität im Pfle­ge­heim so ein­fach sein? Ein Dach über dem Kopf, ein Bett, drei Mahl­zei­ten täglich, Tage­s­pro­gramm und freund­li­ches Per­so­nal? Johanna Gödele würde ver­mut­lich mit Ja auf diese Frage ant­wor­ten – die bettlägrige und schwerst­pfle­ge­bedürftige Bewoh­ne­rin einige Zim­mer wei­ter viel­leicht nicht. Karl-Ernst Kreut­ter, der bei der Alten­hilfe der Zieg­ler­schen unter ande­rem für das interne Fort- und Wei­ter­bil­dungs­pro­gramm zuständig ist und zum Thema Lebens­qua­lität im Pfle­ge­heim ver­schie­dene Ver­an­stal­tun­gen kon­zi­piert hat: »Lebens­qua­lität wird immer sub­jek­tiv emp­fun­den. Man hat Kreb­spa­ti­en­ten und Lot­to­mil­lionäre zu ihrer Lebens­qua­lität befragt – und im Ergeb­nis haben sich beide Grup­pen nicht unter­schie­den.« Das rein sub­jek­tive Emp­fin­den ist also für die Bewer­tung der eige­nen Zufrie­den­heit ebenso aus­schlag­ge­bend wie die objek­ti­ven Rah­men­be­din­gun­gen, in denen ein Mensch lebt.

Ein Befund, der von den Prak­ti­kern im Hei­mall­tag bestätigt – und auf­ge­nom­men wird. »Wir wol­len direkt die Bewoh­ner und ihre Wünsche wahr­neh­men und dar­auf ein­ge­hen«, sagt zum Bei­spiel Haus­lei­te­rin Monika Materna. Sie ist die Lei­te­rin des neuen »Senio­ren­zen­trums im Wel­vert« in Vil­lin­gen, das Anfang August eröffnet wurde. Im neuen Haus soll Lebens­qua­lität für die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner möglichst indi­vi­du­ell ent­ste­hen. Monika Materna, eine erfah­rene Haus­lei­te­rin, die bis vor kur­zem das Senio­ren­zen­trum der Zieg­ler­schen in Bad Wald­see gelei­tet hat, hat ihrem enga­gier­ten Team des­we­gen einen Per­spek­ti­ven­wech­sel ver­ord­net. »Ein­mal gedank­lich eine pfle­ge­ri­sche Situa­tion aus der Sicht des Bewoh­ners zu sehen und nicht aus der Sicht der Pflege« – das sei eine ein­fa­che Möglich­keit, bes­ser auf die Bedürfnisse der Men­schen in der Ein­rich­tung ein­zu­ge­hen.

Auch sonst hat Monika Materna viel vor in der neuen Ein­rich­tung, die bau­lich alles mit­bringt, was ein moder­nes Pfle­ge­heim heut­zu­tage aus­macht. Die ins­ge­samt 90 Plätze tei­len sich in Wohn­grup­pen zu je 15 Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­nern auf. Alle Zim­mer sind Ein­zel­zim­mer und verfügen über ein eige­nes Bad. Jede Wohn­gruppe wie­derum ist mit einer eige­nen Küche, einem eige­nen Wohn­zim­mer und einem Ess­zim­mer aus­ge­stat­tet. »Wir wol­len min­des­tens ein­mal pro Monat gemein­sam kochen. Jeder Bewoh­ner darf sich sein Lieb­lings­ge­richt wünschen, das kochen und essen dann Mit­ar­bei­ter und Bewoh­ner zusam­men. Es ist schon etwas Beson­de­res, wenn alle gemein­schaft­lich schaf­fen und der Duft von frisch zube­rei­te­ten Mahl­zei­ten durchs Haus zieht.«

Weil viele der Bewoh­ner nicht mobil sind, will sie »die Welt zu uns rein­ho­len« – mit großen Fotos von Vil­lin­gen und vom schönen Schwarz­wald. »Wir wol­len ganz gezielt einen Bezug zur Hei­mat­stadt vie­ler Bewoh­ner schaf­fen«. Wich­tig ist es ihr, die Betreu­ungs­an­ge­bote sehr genau auf die Bewoh­ner abzu­stim­men. »Ob gemein­sa­mes Sin­gen, Grup­pen­gym­nas­tik, Ein­zel­be­treu­ung mit Vor­le­sen, Spa­zie­ren­ge­hen, Kuchen backen oder gemein­sa­mes Gespräch – alles muss für den Bewoh­ner Sinn machen«, erklärt sie.

Alles kann, nichts muss: Das gilt dabei für alle Ange­bote, denn die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner sol­len möglichst frei sein in ihren Ent­schei­dun­gen. »Wir wol­len nie­man­dem etwas aufdrücken, son­dern unsere Ange­bote auf die Wünsche unse­rer Bewoh­ner anpas­sen, damit sie nicht fremd­be­stimmt sind«, sagt Materna. Und: »Wir soll­ten im Umgang mit alten Men­schen immer wertschätzend sein – das spüren Men­schen bis zum Schluss.«

Im ober­schwäbischen Leut­kirch ist Priska Schnei­der-Doli­nar gerade im End­spurt: Anfang Okto­ber eröffnet dort das neue »Senio­ren­zen­trum am Ring­weg«. Die desi­gnierte Haus­lei­te­rin macht sich natürlich auch Gedan­ken darüber, wie das Thema Lebens­qua­lität in dem neuen Haus mit 75 Plätzen adäquat umge­setzt wer­den kann. »In einem neuen, hel­len Haus zu leben ist natürlich schon Lebens­qua­lität«, sagt sie. »Aber das muss man auch mit Leben füllen.« Das »Senio­ren­zen­trum am Ring­weg« soll des­halb ein offe­nes Haus sein. So ist bei­spiels­weise eine Koope­ra­tion mit einem Kin­der­gar­ten geplant. Wenn alles klappt, sol­len die Kin­der ein­mal in der Woche zum gemein­sa­men Mit­ta­ges­sen in die Ein­rich­tung kom­men und so Leben ins Haus brin­gen. Doch allen Koope­ra­tio­nen zum Trotz sieht Schnei­der-Doli­nar beim Thema Zufrie­den­heit im Pfle­ge­heim zual­ler­erst sich selbst und ihre Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter gefor­dert: »Persönli­che Zuwen­dung ist wich­ti­ger als schön zu woh­nen.« Das wie­derum, die persönli­che Zuwen­dung, ist ihrer Ansicht nach eine Team­auf­gabe, die alle – von der Pfle­ge­fach­kraft über die All­tags­be­glei­ter, die Haus­wirt­schaft und auch sie selbst – angeht. »Wenn ich von mei­nen Mit­ar­bei­tern Wertschätzung gegenüber den Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­nern erwarte, muss ich diese auch mei­nem Team ent­ge­gen­brin­gen.«

Und im Kirch­hei­mer Hen­ri­et­ten­stift, der Hei­mat von Johanna Gödele? Für Haus­lei­te­rin Petra Feh­lei­sen sind es sind die Klei­nig­kei­ten, die ein zufrie­de­nes Leben im Pfle­ge­heim möglich machen. So eine Klei­nig­keit ist bei­spiels­weise die Hol­ly­wood­schau­kel, die mit Hilfe des Freun­des­krei­ses ange­schafft wer­den konnte. »Wir haben hier eine krebs­kranke Bewoh­ne­rin, deren sehn­lichs­ter Wunsch es war, draußen im Gar­ten sit­zen zu können «, berich­tet sie. »Inzwi­schen ist die Hol­ly­wood­schau­kel unter den alten Damen der Ren­ner.« Oder die mor­gend­li­che Auf­steh­zeit. Heute können die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner dann auf­ste­hen, wann sie es wol­len – und nicht mehr, wie das vor ein paar Jahr­zehn­ten im Hei­mall­tag noch Gang und Gäbe war – nach einem streng orga­ni­sier­ten Ablauf­plan. »Lebens­qua­lität erschöpft sich nicht im Aufhängen von Qua­litätssie­geln «, macht Petra Feh­lei­sen klar. Apro­pos Freun­des­kreis und die vie­len ehren­amt­li­chen Hel­fe­rin­nen und Hel­fer, die sich im Besuchs­dienst enga­gie­ren oder das Sonn­tags-Café im Saal ver­ant­wor­ten: Auch das schafft Lebens­qua­lität. Man­che Bewoh­ner, die keine Angehörigen haben, bekom­men zum Bei­spiel ein­mal pro Woche »ihren« Besuch vom Besuchs­dienst – das ist dann das High­light der Woche.

Hol­ly­wood­schau­kel, gemein­sa­mes Kochen, Kin­der­gar­ten­ko­ope­ra­tion – macht also jede Ein­rich­tung in Sachen Lebens­qua­lität ihr eige­nes Ding? Nein, denn so ver­schie­den die Ein­rich­tun­gen auch sind stützen sich alle auf einen gemein­sa­men Unter­bau: die vie­len Exper­ten­stan­dards, das Wohn­grup­pen­kon­zept, nach dem die Wohn­be­rei­che in den ein­zel­nen Ein­rich­tun­gen auf­ge­baut sind, das Qua­litätsma­na­ge­ment mit sei­nen Hand­lungs­an­wei­sun­gen und Pro­zess­be­schrei­bun­gen und nicht zuletzt das neue »Rah­men­kon­zept Lebens­qua­lität«, das eine Exper­ten­gruppe aus Haus­lei­tun­gen, Qua­litätsma­na­gern und Haus­wirt­schafts­lei­tun­gen der Alten­hilfe erar­bei­tet hat. »Tatsächlich ist das Thema Lebens­qua­lität bei uns in der Alten­hilfe nicht wirk­lich neu. Neu ist aber, dass wir nun sämtli­che in der Alten­hilfe der Zieg­ler­schen vor­han­de­nen und geleb­ten Ansätze zusam­men­geführt und sys­te­ma­tisch zu einem umfas­sen­den Kon­zept gebündelt haben«, sagt Karl-Ernst Kreut­ter, Mit­glied der Exper­ten­gruppe.

Das neue Rah­men­kon­zept hat auch schon sei­nen Weg in das interne Fort- und Wei­ter­bil­dungs­pro­gramm der Alten­hilfe gefun­den, wie Karl-Ernst Kreut­ter berich­tet. »Im Laufe des letz­ten Jah­res sind die Bezüge zum neuen Rah­men­kon­zept bereits in das aktu­elle Fort­bil­dungs­pro­gramm ein­ge­flos­sen. « Fort­bil­dun­gen für Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter bil­den in der Alten­hilfe der Zieg­ler­schen einen wich­ti­gen Schwer­punkt. Die rund 50 Ange­bote pro Jahr rei­chen von pfle­ge­fach­li­chen Fort­bil­dun­gen über Führungs­the­men bis hin zu Spi­ri­tua­lität und Seel­sorge.

Damit, wie durch rituale in der Pflege Lebens­qua­lität gestei­gert wer­den kann, befass­ten sich bei­spiels­weise Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter aus dem Bereich soziale Betreu­ung der Alten­hilfe in einem Work­shop. »Rituale spie­len im Leben eines jeden Men­schen eine wich­tige Rolle. Sie geben Halt, Sicher­heit und Ori­en­tie­rung mit­ten im All­tag und an Lebensübergängen«, berich­tet Karl-Ernst Kreut­ter. »Gerade auch in der Arbeit mit des­ori­en­tier­ten Men­schen ent­fal­ten Rituale ihre heil­same Wir­kung. So beginnt ein Tag mit bewusst prak­ti­zier­ten Mor­gen­ri­tua­len bereits ganz anders.«

Was die Fort­bil­dun­gen eben­falls ver­mit­teln: Nur im Zusam­men­spiel aller Akteure in einer Ein­rich­tung kann die Schaf­fung von Lebens­qua­lität funk­tio­nie­ren. Wenn also alle Zahnrädchen rei­bungs­los inein­an­der­grei­fen, kann das pas­sie­ren, was Petra Feh­lei­sen als ulti­ma­tive Bestätigung bezeich­net: »Wenn eine Bewoh­ne­rin zu mir sagt: Hier wohne und lebe ich, und das ist gut so, dann weiß ich, dass wir etwas rich­tig gemacht haben. Das ist das beste Lob für mich.«

Ganz soweit ist es bei Johanna Gödele noch nicht – dafür trau­ert sie noch zu sehr um ihren ver­stor­be­nen Ehe­mann und um das gemein­same Haus, in dem sie nach des­sen Tod nicht mehr alleine leben konnte. Aber als ihre Angehörigen sie besu­chen kom­men, ist sie nicht in ihrem Zim­mer – statt­des­sen sitzt sie im Sonn­tags-Café bei Kaf­fee und Kuchen: »Da hatte ich jetzt ein­fach Lust dazu ...«

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