Titelthema

März 2012

Hallo Welt, wir kommen! – Inklusion

Gut zwei Jahre sind vergangen, seit die UN-Behinderten­rechts­konvention in Deutsch­land in Kraft getreten ist. Seither ist das Wort »Inklusion« in aller Munde. Es besagt, dass kein Mensch aus­geschlossen, aus­gegrenzt oder an den Rand gedrängt werden soll, insbesondere im Bildungs­bereich. Doch Inklusion stellt eine viel­schichtige Heraus­forderung dar. Lesen Sie, wie sich die Zieglerschen dieser Aufgabe in ihren Schulen, in der Behindertenhilfe oder in den Suchtkliniken mit großer Tatkraft stellen.

Text: Sabine Batram, Annette Scherer, Katharina Stohr, Harald Dubyk

»Ich habe mei­ner Klasse von dem Arti­kel in der visAvie erzählt und die Schüler gefragt, ob sie wis­sen, warum man über ihre Klasse etwas schrei­ben will«, sagt Anne­rose Kau­de­rer. Die Son­der­schul­leh­re­rin des Sprach­heil­zen­trums Ravens­burg unter­rich­tet gemein­sam mit einer Grund­schul­leh­re­rin 21 Kin­der in einer Außen- und Inklu­si­ons­klasse an der Neu­wie­sen­schule Ravens­burg. Beson­der­heit die­ser Klasse: Vier Zweitklässler, die sprach­lich und son­derpädago­gisch gefördert wer­den, drücken zusam­men mit zehn Erstklässlern und neun Zweitklässlern der all­ge­mei­nen Grund­schule die Schul­bank, und das seit dem Schul­jahr 2010/2011.

Warum nun soll man über diese Klasse, die Ü2, schrei­ben? Alle Schülerin­nen und Schüler waren sich einig, erzählt Anne­rose Kau­de­rer. Einig, dass man wohl des­halb über sie berich­ten wolle, weil die Ü2 zwei Klas­sen­zim­mer habe und die 1. und 2. Klasse zusam­men unter­rich­tet wird. Aus­sa­gen ihrer Schützlinge, dass die Ü2 aus Kin­dern mit und ohne sprach­li­chem Förder­be­darf bestehe, hat sie nicht ver­nom­men.

In der gemein­sa­men Klasse soll jede Schülerin und jeder Schüler in sei­ner Ein­zig­ar­tig­keit wahr­ge­nom­men und akzep­tiert wer­den. Begriffe wie »Behin­de­rung« und »Nicht­be­hin­de­rung« wer­den im Unter­richt nicht ver­wen­det, denn beide Schüler­grup­pen sol­len sich als eine zusam­men­gehörende Klasse erfah­ren. Aus die­sem Grund prak­ti­zie­ren die Leh­rer in der Ü2 fle­xiblen und offe­nen Unter­richt, was außerdem dem unter­schied­li­chen Alter der Kin­der ent­ge­gen­kommt. Zwei Klas­senräume, die jeweils für alle Schüler der Klasse bestuhlt sind, unterstützen die­sen indi­vi­du­el­len Ansatz. So wird bei­spiels­weise wöchent­lich ent­schie­den, ob mit leis­tungs­schwäche­ren Erstklässlern in einem Klas­sen­zim­mer noch­mals Unter­richtss­toff wie­der­holt und mit den ande­ren Schülern das Thema im zwei­ten Klas­sen­zim­mer fort­geführt wird.

»Es ist schön, den Schülern mit erhöhtem Förder­be­darf die­sen schu­li­schen Rah­men bie­ten zu können: wohn­ort­nahe Beschu­lung, ein nor­ma­les Schu­ler­le­ben als Grund­schul­kind und vor allem für diese Kin­der ange­mes­sen Zeit zu haben, sie ein­zeln und in der Gruppe sprach­lich zu fördern«, sagt Anne­rose Kau­de­rer. »Noch immer bin ich froh, die Möglich­keit genutzt zu haben, in der Klasse Ü2 in der Neu­wie­sen­schule arbei­ten zu können.« Sie genießt die guten Rah­men­be­din­gun­gen und die dadurch mögli­che Arbeit mit den Kin­dern der gan­zen Grund­schul­klasse.

Ins­ge­samt 30 Schülerin­nen und Schüler des Hör-Sprach­zen­trums wer­den in die­sem Schul­jahr in ver­schie­de­nen Grund­schu­len in Ober­schwa­ben inklu­siv beschult. In der Neu­wie­sen­schule in Ravens­burg wurde bereits die zweite Außen-/ Inklu­si­ons­klasse instal­liert. Geplant ist, die­ses gemein­same Schul­an­ge­bot für Kin­der mit und ohne Sprach­be­hin­de­rung für die Klas­sen eins bis vier ein­zu­rich­ten. »Sol­che Modell­pro­jekte hängen stark von der Bereit­schaft der Betei­lig­ten ab, sich auf Neues ein­zu­las­sen sowie von der guten Zusam­men­ar­beit zwi­schen den bei­den Schu­len – hier der Neu­wie­sen­schule und dem Sprach­heil­zen­trum«, sagt Ursula Belli-Schil­lin­ger, Fach­li­che Geschäftsführe­rin des Hör-Sprach­zen­trums. »Wir bege­ben uns hier auf neue Wege und sam­meln wert­volle Erfah­run­gen. Das heißt aber auch, dass Raum da sein muss, um Dinge aus­zu­pro­bie­ren«.

Auf neue Wege begibt sich auch die Behin­der­ten­hilfe. Bereits vor Jah­ren hat man hier das Pro­jekt »Dezen­tra­li­sie­rung in der Behin­der­ten­hilfe« gest­ar­tet, kurz: »DeziBel«. Mit Förde­rung von »Aktion Mensch« wer­den an ver­schie­de­nen Orten der Region neue Wohn- und Arbeitsmöglich­kei­ten für Men­schen mit Behin­de­run­gen aller Alters­grup­pen ent­ste­hen, damit sie tatsächlich wählen können, ob sie lie­ber in der Stadt oder auf dem Land leben und arbei­ten wol­len. Damit sie also Wahlmöglich­kei­ten haben – ganz im Sinne der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion.

Nach lan­gem Vor­lauf ist es im Som­mer soweit: Dann zie­hen 18 Men­schen mit Behin­de­run­gen nach Bad Saul­gau. Die »Umsied­ler« sind bereits gefun­den, ebenso ein neues Team um Lei­te­rin Silke Fischer. Ob die WG in Bad Saul­gau funk­tio­niert? Bestimmt. Der nächste neue Stand­ort ist Aulen­dorf. Hier wurde bereits ein schönes Grundstück gegenüber der Schwa­ben-Therme gekauft, die Bau­pla­nun­gen lau­fen. Ent­ste­hen wird ein neues Wohn­haus plus Förder- und Betreu­ungs­be­reich (FuB). Der Ein­zug ist für Frühjahr 2014 geplant.

In Biber­ach wird der ungewöhnlichste neue Stand­ort geplant. Mit­ten im dicht­be­sie­del­ten Stadt­teil Mit­tel­berg ent­steht auf dem Gelände der Bon­ho­ef­fer­kir­che das »neue Bon­ho­ef­fer­haus«. Es wird künftig von Kir­chen­ge­meinde, Behin­der­ten­hilfe und Alten­hilfe gemein­sam genutzt. Für die Behin­der­ten­hilfe sind ein Wohn­haus für 14 Men­schen, ein Förder- und Betreu­ungs­be­reich, betreute Woh­nun­gen und ein Senio­ren­be­reich geplant. Im Mai 2012 läutet ein großer Visi­ons­tag mit Anwoh­nern, Laden­be­sit­zern, Gemein­de­mit­glie­dern etc. die kon­krete Arbeit ein und Ende 2012 begin­nen die Bau­ar­bei­ten. 2014 ist die Inbe­trieb­nahme geplant. Zu guter Letzt lau­fen Gespräche und Pla­nun­gen auch im Boden­see­kreis und im Land­kreis Kon­stanz. 2015 bzw. 2016 / 2017 will die Behin­der­ten­hilfe hier zu fin­den sein.

Dane­ben wer­den die bereits beste­hen­den Außenstand­orte aus­ge­baut. Zum Bei­spiel Obe­re­schach. Seit über zehn Jah­ren leben neun Men­schen mit Behin­de­rung in einem geräumig-gemütli­chen Ein­fa­mi­li­en­haus: »Haus Sara«. Sie wer­den von einem 10-köpfi­gen Team betreut. Eine der WG-Bewoh­ner/innen ist Anna (Name geändert). Wenn Ruth Häberle, eine Dorf­be­woh­ne­rin, die sich ehren­amt­lich enga­giert, zum gemein­sa­men Spa­zier­gang vor­bei­kommt, strah­len Annas Augen. »Das ist ihr High­light der Woche«, berich­tet eine Mit­ar­bei­te­rin. Über­haupt, wer die Gruppe besucht, der sieht: Hier geht’s familiär zu – fast wie in einer ech­ten Großfami­lie. Im Laufe der Jahre sind zu Nach­barn und Orts­be­woh­nern nette Bezie­hun­gen ent­stan­den. »Es braucht Jahre, bis so etwas wächst«, erklärt Heinke Schee­rer, die Lei­te­rin der Wohn­gruppe. In der Nähe von Haus Sara soll jetzt ein wei­te­res Wohn­haus mit neun Plätzen gebaut wer­den. Ein pas­sen­des Grundstück wurde schon ins Auge gefasst&hel­lip;

Ganz anders lebt Peter (Name geändert). Er ist vor drei Jah­ren nach Ravens­burg gezo­gen. Hier fühlt er sich pudel­wohl und schätzt die Frei­hei­ten, die das Leben in einer beleb­ten Innen­stadt zu bie­ten hat. Beson­ders liebt er es, diens­tags mit sei­nem Grup­pen­lei­ter Max Gwinn in den Box­ver­ein zu gehen.

Peter und Anna sind in ihren Wohn­grup­pen in der Stadt und auf dem Dorf gut auf­ge­ho­ben. Sie und auch die Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter schätzen das familiäre Mitein­an­der, das klei­nere Wohn­ein­hei­ten oft bie­ten und die Kon­takte zu Nach­barn und Freun­den.

Doch ist Dezen­tra­li­sie­rung gleich Inklu­sion? Sind wir voll durch­inklu­diert, wenn erst alle Wohnplätze von den bis­he­ri­gen Haupt­stand­orten Wil­helms­dorf und Has­lachmühle ver­la­gert sind? Oder wird Inklu­sion bereits in Wil­helms­dorf und der Has­lachmühle gelebt, wo das Mitein­an­der von Men­schen mit und ohne Behin­de­rung sich im Straßenbild, im Ver­eins­le­ben, in zwang­lo­sen Begeg­nun­gen, in tie­fen Freund­schaf­ten und auch in den christ­li­chen Gemein­den wider­spie­gelt? Wer defi­niert eigent­lich, wann jemand inklu­diert ist? Die­sen Fra­gen geht jetzt eine Stu­die der Hoch­schule Wein­gar­ten nach, deren Ergeb­nisse Ende März mit Span­nung erwar­tet wer­den.

Für Gisela Eberl ist die Ant­wort jetzt schon klar. Die Vor­sit­zende des Heim­bei­ra­tes, selbst »Heim«-Bewoh­ne­rin, die die Inter­es­sen ihrer »Kol­le­gen« ver­tritt, hat dazu eine klare Mei­nung: »Wil­helms­dorf ist für mich das beste Bei­spiel für Inklu­sion. Es gibt viele Bewoh­ner, die sich hier zu Hause fühlen. Natürlich sollte man junge Leute in die Außenwohn­grup­pen umzie­hen und machen las­sen. Ich hätte das in mei­ner Jugend auch gerne gemacht.« Aber, so meint sie auch: »Das Wort des Bewoh­ners sollte ent­schei­dend sein. Ich zum Bei­spiel lebe seit 40 Jah­ren hier in Wil­helms­dorf und möchte nicht mehr umzie­hen. Ich fühle mich hier daheim.«

Aus eige­ner Erfah­rung wis­sen auch die Mit­ar­bei­ten­den der Behin­der­ten­hilfe, wie wich­tig gerade für ihre Kun­den – Men­schen mit Hör-Sprach- und zusätzli­cher geis­ti­ger Behin­de­rung – geschützte (Sprach-)räume und Son­der­schu­len sind. Sie bie­ten Sicher­heit und das Gefühl von Hei­mat – manch­mal auch nur so lange, bis sich ein Kunde den Umzug in eine Außenwohn­gruppe sel­ber zutraut. Sie bie­ten ein hohes Maß an Selbstständig­keit, persönli­cher Ent­wick­lungs- und Ent­fal­tungsmöglich­keit – wie etwa für nicht ver­kehrs­si­chere Kun­den, die sich auf dem auto­freien Gelände der Has­lachmühle frei bewe­gen können. Viele leben gerne in den geschützten bar­rie­re­freien Räumen. »Unsere geschützten Räume neben den Außenwohn­grup­pen zu erhal­ten, ist unser Ziel. Nur so wird die Viel­falt der Bedürfnisse von Men­schen mit Behin­de­rung zuge­las­sen und auch dem Wunsch- und Wahl­recht Genüge getan – denn wer wählen soll, dem müssen auch Alter­na­ti­ven gebo­ten wer­den. Inklu­sion darf nicht zur Gleich­ma­che­rei führen. Jeder Mensch ist anders«, beschreibt es Sven Lange, Fach­li­cher Geschäftsführer in der Behin­der­ten­hilfe.

Sze­nen­wech­sel. Gibt es Inklu­sion eigent­lich auch in der Jugend­hilfe? Die Ant­wort ist ja. Schon länger, als man von »Inklu­sion« spricht. Regel­schu­len bera­ten, hil­fe­su­chende Eltern betreuen, ver­hal­tens­auffällige junge Men­schen in Fami­lien zurückführen und in Regel­schu­len inte­grie­ren – für die Pro­fis der Jugend­hilfe ist das ein jah­re­lang erprob­tes Feld.

Zum Bei­spiel Fritz (Name geändert). Er hats geschafft. Ein Jahr lang hat er im Mar­tins­haus Klein­to­bel gebüffelt, nun kehrt er wie­der zu sei­ner Fami­lie und an eine »nor­male« Schule zurück. »Wir führten mit Fritz und sei­nen Eltern zu Beginn viele Gespräche – irgend­wann war klar, dass Fritz‘ Pro­bleme nicht schu­lisch bedingt sind, son­dern von der Fami­lie herrühren«, so Schul­lei­ter Tho­mas Frick. Er freut sich über den Erfolg des 16-Jähri­gen, der wegen schu­li­scher Auffällig­kei­ten in die Schule für Erzie­hungs­hilfe mit inte­grier­ter Real­schule ans Mar­tins­haus kam. Es folg­ten Gespräche mit Klas­sen­leh­rer, Bezugs­er­zie­her, Psy­cho­loge, Fach­dienst und Ver­tre­tern des Jugend­am­tes, um gemein­sam die familiären Pro­bleme lösen zu können. »Dabei sind sich Fritz und seine Eltern wie­der näher gekom­men«, erläutert Tho­mas Frick. Aus Erfah­rung weiß er, dass bei vie­len Jugend­li­chen Schul­pro­bleme mit Kon­flik­ten im Eltern­haus ein­her­ge­hen. »Da führt das eine dann zum ande­ren.«

Auch in der Sucht­hilfe wird Inklu­sion schon immer gelebt. Selbst vor über 100 Jah­ren, als die Sucht­hilfe noch »Trin­ker­heil­an­stalt« hieß, war es das Ziel, Men­schen den Weg zurück in die Gesell­schaft zu ermögli­chen. Und so ist es bis heute. Petra (Name geändert) steht kurz vor Ende ihrer Reha in der Tages­re­ha­bi­li­ta­tion Boden­see-Ober­schwa­ben in Ravens­burg. Nach einem sehr schwie­ri­gen Jahr und einem Alko­holrückfall nach einer sta­tionären The­ra­pie macht sich bei der 32-Jähri­gen wie­der Zuver­sicht breit. Ihre Ent­las­sung steht kurz bevor. In einer lan­gen, lang­sa­men The­ra­pie hat sie es geschafft, ihre »see­li­schen Pakete« los­zu­wer­den. Kon­kret hieß dies, sich von der Fami­lie zu lösen, ihre Bezie­hun­gen zu ande­ren neu zu gestal­ten und eine beruf­li­che Per­spek­tive zu ent­wi­ckeln. Ihre beruf­li­che Neu­ori­en­tie­rung hat Petra fest im Blick. Nach The­ra­pie­ende nimmt sie an einer vierwöchi­gen Ori­en­tie­rungsmaßnahme teil. Ihre Berufswünsche: bio­lo­gisch-tech­ni­sche Assis­ten­tin oder Indus­trie­kauf­frau. Den Kon­takt zur Nach­sorge hat sie bereits in die Wege gelei­tet. Zudem hat sie sich einer Selbst­hil­fe­gruppe ange­schlos­sen und par­al­lel ihre Woh­nung reno­viert. »Ich bin wie­der aktiv gewor­den«, sagt sie. Auch Petra ist auf einem guten Weg. Zurück in die Gesell­schaft.

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