Titelthema
März 2025
Frühlingsgefühle
Lebensfreude, Glücksgefühle, Kribbeln im Bauch. Im Frühling erwacht die Natur – und mit ihr die Liebe. Lesen Sie kleine Geschichten über große Gefühle ...
Text: Stefan Wieland, Annette Scherer, Jacqueline de Riese und Nicola Philipp
Die Vögel zwitschern, die Bäume fangen an zu blühen. Die Tage werden länger und die Sonne wird wärmer: Frühling! Mit der Natur erwachen auch die Frühlingsgefühle: Gute Laune, Lebensfreude, Schmetterlinge im Bauch. So wie bei Sabine Reinhardt und Matthias Aigner. Die beiden haben sich in der NEULAND-Werkstatt kennengelernt und sind ein glückliches Paar. Ob Liebe am Arbeitsplatz, erste Liebe oder spätes Glück im Seniorenzentrum – wir haben uns auf die Suche nach Frühlingsgefühlen gemacht. Und bei den Zieglerschen viel Berührendes gefunden.
Sie sind ganz offensichtlich ein verliebtes und glückliches Paar – und das seit über drei Jahren. Die Rede ist von Sabine Reinhardt und Matthias Aigner. Hand in Hand kommen sie zum Interview, schauen sich während des Gesprächs immer wieder tief in die Augen. »Ich fühle mich romantisch und happy und bin so glücklich mit Sabine zusammen«, erzählt Matthias. Und Sabine berichtet von einem »Kribbeln im Bauch«, wenn Matthias in ihrer Nähe ist. An einer Kette trägt sie ihren silbernen Verlobungsring mit den eingravierten Vornamen der beiden. Den hat Matthias ihr zu ihrem 40. Geburtstag überreicht. »Ich bin hingekniet. Hab Prinz gespielt«, lacht er. Noch ganz genau erinnert er sich an den Tag, an dem er Sabine gefragt hat, ob sie mit ihm zusammen sein will: »Das war am 28. Oktober!«
»Er sieht gut aus, und wir streiten nie«, sagt Sabine auf die Frage, was sie an ihrem Verlobten gut findet. »Dass sie hübsch aussieht und ihr Lächeln«, gefällt Matthias an seiner Partnerin. Der 34-Jährige und seine 40-jährige Verlobte sehen sich jeden Tag bei der Arbeit in der NEULAND-Werkstatt. Dort schaffen sie als Mitarbeitende mit Assistenzbedarf. »Am Anfang war ich schüchtern. Und er auch«, lächelt Sabine und streicht ihm zärtlich übers Kinn. Beide erzählen, dass sie viel Zeit damit verbringen, um miteinander zu reden. Auch in der sexualpädagogischen Beratungsstelle »Hand aufs Herz« waren sie schon. »Das war gut«, sagt Sabine. »Da hat man uns viel beigebracht.«
»Hand aufs Herz« – dieses von Aktion Mensch geförderte Angebot der Zieglerschen gibt es seit gut einem Jahr. Es richtet sich an Menschen mit Beeinträchtigung und lädt ein, über Sexualität, Liebe und Partnerschaft zu sprechen – einzigartig im Landkreis Ravensburg. Wie Sabine und Matthias sind viele Ratsuchende froh, dass es diese Möglichkeit nun gibt – in einem Schutzraum über intime Dinge zu reden, wie Heilerziehungspflegerin und Sexual- und Paarberaterin Maximiliane Laplace erzählt. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Andreas von Großmann, ebenfalls Heilerziehungspfleger und Sexualpädagoge, leitet sie die Beratungsstelle. Rund 95 Beratungsgespräche haben die beiden bereits geführt. Paarberatungen sind eher selten.
»Es ist gut, dass es Euch gibt«, hören die beiden immer wieder. Denn Behinderung und das Bedürfnis nach Nähe und Sexualität scheinen auch heutzutage häufig noch ein Tabuthema zu sein. Das gilt für Angehörige und Betreuer – ebenso wie für die Klienten selbst. »Die Fragen reichen von ›Was ist, wenn meine Tochter schwanger wird?‹ bei den Eltern bis hin zu ›Darf ich das überhaupt?‹ bei den Menschen mit Beeinträchtigung«, erzählt Maximiliane Laplace. Und auch bei vielen Mitarbeitenden sorge das sensible Thema für Unsicherheit. Nicht immer eine Frage des Alters übrigens. Handlungssicherheit bei allen schaffen, das ist das Ziel von »Hand aufs Herz«. Dass der Kernzielgruppe – Menschen mit Beeinträchtigungen – das Thema besonders am Herzen liegt, stellt von Großmann immer wieder fest. Nicht selten wird er von Klienten bei zufälligen Begegnungen auf dem Flur angesprochen: »Andreas, bei unserem Termin bleibt es doch, oder?« Und er fügt hinzu: »Ich finde es berührend zu sehen, wie intensiv sie sich mit dem beschäftigen, was wir besprechen.«
Gibt es besondere Highlights seit es »Hand aufs Herz« gibt? »Ja«, sagt Laplace sofort, »das Herzens-Café. Das ist ein Angebot im Mehrgenerationenhaus Ravensburg, wo Menschen mit Behinderung in gemütlicher Atmosphäre neue Leute kennenlernen können, vielleicht sogar eine Partnerin oder einen Partner«, erklärt sie augenzwinkernd. Was es darüber hinaus noch brauche, wäre eine geschützte digitale Partnervermittlung für Menschen mit Beeinträchtigungen, sind sich beide einig.
Nicole und Josef Münch sind da schon ein paar Schritte weiter. Verliebt, verlobt, verheiratet und: Kollegen. Beide sind 34 Jahre alt, hörbehindert und arbeiten als Lehrkräfte an der Leopoldschule Altshausen des Hör-Sprachzentrums. Seit der 11. Klasse sind sie ein Paar, machten zusammen Abitur, studierten gemeinsam. Doch nach dem Referendariat wollte Nicole Münch eigentlich privat und beruflich stärker trennen. Also bewarben sich die Eheleute an verschiedenen Schulen der Zieglerschen: Er in Altshausen, sie in Wilhelmsdorf. Der Zufall wollte es, dass sie am Ende doch zusammen an einer Schule landeten. »Und mittlerweile«, so Josef Münch, »würden wir es nicht mehr anders wollen«. Nur eines hätten sie von Anfang an klargemacht: »Wer was von Nicole will, muss Nicole ansprechen, wer was von mir will, muss mich ansprechen.« Das funktioniere gut.
Tatsächlich spielte ihre Beziehung bei den Schülerinnen und Schülern lange gar keine Rolle. Erst als Nicole Münch schwanger war und den Kindern das mitteilte, wurde diesen klar, dass die beiden ein Paar sind. »Da hat ein Schüler sich gemeldet und zögerlich gefragt: Kriegst du das Kind mit Herrn Münch zusammen? Als ich bejahte, habe ich richtig gemerkt, wie das Kopfkino losging. Das war sehr lustig«, berichtet die 34-Jährige schmunzelnd. Im Moment ist sie zu Hause bei Tochter Linnea, die nun acht Monate alt ist. Die Arbeit macht ihr aber so viel Spaß, dass sie bald wieder einsteigen will. Vielleicht sogar schon ganz bald. Denn Josef könnte in Elternzeit gehen und sie seine Stunden übernehmen. »Das wäre eine gute Lösung.«
Liebe und Partnerschaft zwischen Kollegen – keine Seltenheit, wie eine Umfrage des Portals »Statista« bestätigt. Demnach lernen sich 18 Prozent aller Paare bei der Arbeit kennen, nur Online-Dating ist mit 21 Prozent noch erfolgreicher. Auch bei den Zieglerschen arbeiten zahlreiche Ehepaare. Münch und Münch, Fischer und Fischer, Kanz und Kanz – immer wieder stößt man hier auf doppelte Namen. Constantin Knall, Geschäftsführer Personal, gehört ebenfalls in diese Reihe. Auch seine Frau arbeitet bei den Zieglerschen: »Wenn Paare ihre beruflichen Wege gerne bei uns gemeinsam gehen, zeigt das, dass wir ein verlässlicher und attraktiver Arbeitgeber sind«, so der Personalchef und Vater von drei Kindern. »Wir bieten offenbar gute Rahmenbedingungen, damit Beruf und Familie in Einklang gebracht werden können.«
Dass enge Beziehungen am Arbeitsplatz positive Effekte haben, ist wissenschaftlich belegt. Mitarbeitende seien produktiver, engagierter und motivierten sich gegenseitig, so aktuelle Studien. Das kann Slavica Tillich, Einrichtungsleiterin im Seniorenzentrum Aitrach, nur bestätigen. In »ihrem« Haus arbeiten Oana und Madalin Grigoriu, zwei Pflegekräfte, die 2018 über ein Fachkräfteprogramm aus Rumänien kamen. Schon damals waren die beiden ein Paar und lebten sich, wohl nicht zuletzt deshalb, schnell in ihrer neuen Heimat ein. »Oana und Madalin haben unser Haus mit ihrer Persönlichkeit und Fachlichkeit schon nach kurzer Zeit sehr geprägt«, erzählt Slavica Tillich begeistert. »Das hat unser ganzes Team bereichert.« Schon bald wurde Oana die Wohnbereichsleitung übertragen und 2023 heirateten die beiden. Gefeiert wurde zuerst in Rumänien und dann in Aitrach – natürlich im Seniorenzentrum mit dem ganzen Team. Seit gut einem Jahr ist das Glück der kleinen Familie komplett. Tochter Anisia-Ioana kam im Dezember 2023 zur Welt, Mutter Oana ist derzeit zu Hause und kümmert sich, wie der Papa sagt, um das »schönste und süßeste Mädchen der Welt«. Ihre Zweitfamilie, das Team in Aitrach, ist aber nicht vergessen. Deshalb will Oana im Herbst wieder einsteigen im Seniorenzentrum – in Teilzeit, damit sie »beide Familien« unter einen Hut bringen kann.
Während die Grigorius ihr Glück bereits gefunden haben, machen die Jugendlichen im Martinshaus Kleintobel ihre ersten Erfahrungen mit der Liebe. Hier, in der Jugendhilfeeinrichtung der Zieglerschen, weiß man, wie wichtig dies für die persönliche Entwicklung junger Menschen ist. Andre Lux, einer von drei Mitarbeitenden des Pädagogischen Fachdienstes, erzählt: »Wir begleiten die Jugendlichen, damit sie Liebe als etwas Positives erleben. Denn bei einer Partnerschaft geht es ja nicht nur um romantische Gefühle, sondern auch um Verantwortung, Respekt und gegenseitige Wertschätzung.« Sobald sich eine Beziehung anbahnt, wird das Gespräch mit den Erziehungsberechtigten gesucht. Gemeinsam werden Regeln vereinbart, damit die junge Liebe in einem geschützten Rahmen wie dem Martinshaus gelebt werden kann. »Wir erarbeiten einen richtigen Beziehungsvertrag«, erklärt Andre Lux, »in dem individuelle Vereinbarungen festgehalten sind.« Ein möglicher Bestandteil: Wenn sich ein Paar im Zimmer trifft, bleibt die Tür offen.
Nicht immer läuft alles reibungslos. »Manchmal gibt es Streit oder unterschiedliche Meinungen«, erläutert der Jugend- und Heimerzieher. Dann wird in Einzel- und Paargesprächen mit den Jugendlichen nach Lösungen gesucht. Denn junge Liebe braucht gute Begleitung – erst recht, wenn es die erste ist.
»Liebe kennt kein Alter« wusste schon Goethe. Und Christine und Günter Pinio, er 76, sie 57 Jahre, sind der Beweis dafür. Beide wohnen im Seniorenzentrum Henriettenstift, beide leiden an Epilepsie. Beide waren noch nicht verheiratet. Kennengelernt haben sich die Pinios vor acht Jahren, als Christine, damals noch Riehle, aufgrund ihrer Krankheit entschied, ins Henriettenstift nach Kirchheim zu ziehen. Die Frau, die als Selbstständige ein Reformhaus geführt hatte, verließ zunächst selten ihr Zimmer. Irgendwann wagte sie sich doch in den Gemeinschaftsbereich und traf dort Günter Pinio. »Sie kam und wusste nicht, was fang‘ ich an. Ich war bereit, ihr zu helfen«, erinnert er sich, der bereits seit 2011 im Henriettenstift wohnt. »Daraus wurde eine Freundschaft und daraus Liebe. Und nun sitzen wir hier«, erzählt er gerührt. Im Juni 2021 gaben sie sich das Ja-Wort.
Christine Pinio, die sich selbst als spontan beschreibt, hat sich diesen Schritt gut überlegt. »Ich wusste genau, warum ich diesen Mann heiraten wollte«, erzählt sie. Günter ist der erste Mann, mit dem sie eine glückliche und feste Beziehung führt – eine Liebe, die auf Wertschätzung und Respekt basiert. Und er? Sagt lachend und ohne eine Sekunde nachzudenken: »Ich liebe einfach alles an ihr.« Aber wie lebt man eine Ehe im Seniorenzentrum – und den Wunsch eines Paares nach Nähe? Im Henriettenstift freut man sich sehr für die beiden und hat – wie in vielen Häusern der Zieglerschen – eine Lösung für die Eheleute. Ihre Zimmer liegen nebeneinander und sind über ein gemeinsames Bad verbunden. So können sie jederzeit beieinander sein. Ihren Alltag verbringen die Pinios gemeinsam, besuchen alle Therapie- und Betreuungsangebote zusammen und genießen ihr Leben als Ehepaar. Dem Team des Henriettenstifts, das ihnen zur Hochzeit ein riesiges Erdbeerkuchenherz und eine kleine Feier in der Cafeteria organisiert hatte, sind sie dankbar: Für die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Liebe hier leben dürfen.
Trauriger Nachtrag
Kurz nach Drucklegung dieser visAvie erreichte uns aus dem Henriettenstift Kirchheim eine traurige Nachricht: Günter Pinio ist wenige Wochen nach dem gemeinsamen Gespräch leider verstorben. Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei seiner Witwe Christine Pinio und allen Angehörigen.
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»Er sieht gut aus, und wir streiten nie.« – Matthias und Sabine sind seit drei Jahren ein glückliches Paar.

Die ersten Erfahrungen mit der Liebe: Im Martinshaus Kleintobel weiß man, wie wichtig sie für die Entwicklung junger Menschen sind.

Glücklicher Moment: Günter und Christine Pinio bei ihrer Hochzeitsfeier im Henriettenstift.