Titelthema

Dezember 2015

Essen in den Zieglerschen

Es brut­zelt, zischt und bro­delt seit vier Mona­ten: Im Ein­schicht­be­trieb pro­du­zie­ren die 35 Mit­ar­bei­ten­den der neuen NEULAND-Pro­duk­ti­onsküche werk­tags täglich 2.800 Essen. Ob Kinder­garten­kinder, Real­schüler, Patienten der Sucht­hilfe oder pflege­bedürftige Senioren: Viele hungrige Mägen wollen gefüllt werden. Wir haben dem Thema Essen in den Zieglerschen erstmals einen Schwerpunkt gewidmet.

Text: Katharina Stohr, Annette Scherer, Jacqueline de Riese und Jens Walther

Man nehme vier beste­hende Pro­duk­ti­ons­küchen, füge die jahre­lang vor­han­dene Idee einer zen­tra­len Küche dazu und rühre Monate vol­ler Pla­nun­gen dar­un­ter. Das Ganze mit gesetz­lichen Bestim­mun­gen durch­zie­hen las­sen. Zu die­ser Masse ein Lea­sing­unter­neh­men und eine leis­tungs­fähige Bau­firma geben und auf einer Fläche auf­brin­gen, die etwa ein Vier­tel so groß ist wie ein Fußball­feld. Während­des­sen einen neuen Bereichs­lei­ter, vier bis­he­rige Küchen­chefs und 30 Mit­ar­bei­tende aus ver­schie­de­nen Küchen zusam­men­quir­len, mit­tels unend­li­cher Moti­va­tion und Kraft in neue Förmchen füllen, würzen und von 0 auf 100 erhit­zen. Schein­bar ein­fach liest sich die Rezep­tur zur Ent­ste­hung der neuen Großküche der Zieg­ler­schen in Wil­helms­dorf. Aber wozu eine neue Küche?

Chri­stoph Arneg­ger, Geschäftsführer im Faci­lity Mana­ge­ment der Zieg­ler­schen, erklärt: »Die Zieg­ler­schen haben bis­her viele dezen­trale Küchen vor­ge­hal­ten und in der über­wie­gen­den Zahl wären größere Sanie­rungs­ar­bei­ten ange­stan­den. Unter die­ser Über­schrift und vor dem Hin­ter­grund der heu­ti­gen gesetz­li­chen Bestim­mun­gen und Rege­lun­gen einer Großküche, sahen die Zieg­ler­schen es als den bes­se­ren Weg, die­ses Thema zen­tral zu bewe­gen als wei­ter­hin dezen­tral.«

Seit gut vier Mona­ten pro­du­zie­ren im Ein­schicht­be­trieb die der­zeit 35 Mit­ar­bei­ten­den der NEULAND-Pro­duk­ti­onsküche werk­tags täglich 2.800 Essen, die in einem Radius von 75 Kilo­me­tern auf 58 Ein­rich­tun­gen ver­teilt wer­den. Ob Kin­der­gar­ten­kin­der, Realschüler, Pati­en­ten der Sucht­hilfe oder pfle­ge­bedürftige Senio­ren: Viele hung­rige Mägen wol­len mit hoch­wer­ti­gem Essen gefüllt wer­den. Gekocht wird im Cook & Chill-Ver­fah­ren, bei wel­chem die Spei­sen auf einen bestimm­ten Gar-Punkt erhitzt und danach sofort abgekühlt und im Kühllas­ter aus­ge­fah­ren wer­den. Vor Ort rege­ne­rie­ren die Mit­ar­bei­ten­den der jewei­li­gen Ein­rich­tun­gen die Spei­sen im Kon­vek­to­ma­ten (Dampf­ga­rer) und garen sie fer­tig.

Mit der neuen Küche kam auch eine neue Ver­pfle­gungs­kon­zep­tion. Und seit­dem ist die Aus­wahl beim Mit­tags­tisch in den ein­zel­nen Ein­rich­tun­gen deut­lich größer gewor­den. Jeder Hung­rige kann sich mit­tags aus meh­re­ren lecke­ren Menüs das her­aus­su­chen, was ihm am bes­ten schmeckt. Zuvor gab es jeden Tag ein ein­heit­li­ches Essen – ledig­lich die Fleisch­ra­tion wurde auf Wunsch durch eine vege­ta­ri­sche Kom­po­nente ersetzt.

»Dass es für unsere Bewoh­ner jetzt eine Wahlmöglich­keit gibt, ist gut und auch zeit­gemäß«, sagt Chri­stof Lott­ham­mer, Bereichs­lei­ter »Woh­nen Wil­helms­dorf« in der Behin­der­ten­hilfe. Wohl wis­send, dass die Mei­nun­gen sei­ner Mit­ar­bei­ter darüber weit aus­ein­an­der­ge­hen: »Man­che fin­den’s toll, andere haben Pro­bleme damit. In jedem Fall ist die Viel­falt am Mit­tag eine große Umstel­lung und Her­aus­for­de­rung«, sagt er. »Unsere Mit­ar­bei­ten­den müssen erst mal schauen, wer was essen will, dann die ver­schie­de­nen Mahl­zei­ten erwärmen, gleich­zei­tig auf den Tisch brin­gen und auch noch dafür sor­gen, dass jeder mit dem zufrie­den ist, was er vor sich hat.«

Viele der Kli­en­ten mit Hör-Sprach- und zusätzli­cher geis­ti­ger Behin­de­rung ver­ste­hen den Spei­se­plan nicht. Um diese visu­ell zu unterstützen, foto­gra­fiert das Küchen­team jeden Tag die Gerichte. Mit­ar­bei­ter der Behin­der­ten­hilfe arbei­ten diese dann in ihre Spei­sepläne ein, damit die Kli­en­ten ver­ste­hen, aus wel­chen Alter­na­ti­ven sie wählen können.

Wo 2.800 Mit­ta­ges­sen an einem Tag pro­du­ziert wer­den, bedarf es einer aus­geklügel­ten Orga­ni­sa­tion. Dies erfor­dert bei­spiels­weise auch, dass die Bestel­lung für das gewünschte Mit­ta­ges­sen bereits einige Tage vor­her auf­ge­nom­men wer­den muss. »Doch wer weiß heute schon, wor­auf er in ein paar Tagen Appe­tit hat? Das ist bei unse­ren Kli­en­ten natürlich auch so«, sagt Lott­ham­mer. Weil viele sei­ner Kli­en­ten nicht ver­ste­hen können, dass ein Essenstausch nicht ohne wei­te­res möglich ist, sind auch hier die Mit­ar­bei­ten­den gefor­dert. Doch Lott­ham­mer ist zuver­sicht­lich: »Ich denke, es ist wich­tig, dass Kun­den und Küche jetzt einen regelmäßigen Aus­tausch pfle­gen, damit wir hier für alle einen guten Weg fin­den.«

Das Thema frühzei­tige Aus­wahl und die spon­tane Lust, heute ein­mal doch das zu essen, was einen gerade anma­cht, ist auch im »Senio­ren­zen­trum Im Dorf« in Bempf­lin­gen bes­tens bekannt. Bedingt durch die wei­tere Ent­fer­nung wird Bempf­lin­gen – wie auch einige andere im Nor­den Baden-Württem­bergs lie­gende Senio­ren­zen­tren – von regio­na­len Großküchen vor Ort belie­fert. Täglich stellt sich Ulrike Wolf, Haus­lei­te­rin im »Senio­ren­zen­trum Im Dorf« die Frage, wie man 47 Senio­rin­nen und Senio­ren beim Essen das Gefühl gibt, zu Hause zu sein. Und die Frage: Wie kann man jah­re­lang gelebte Essen­sein­stel­lun­gen bei­be­hal­ten, wenn man sich im Alter für ein Leben im Senio­ren­zen­trum ent­schei­det?

Dank der enga­gier­ten Mit­ar­bei­ten­den erhal­ten die Bewoh­ner in Bempf­lin­gen ein selbst zube­rei­te­tes Frühstück und Abendes­sen. Mor­gens können die Bewoh­ner frei ent­schei­den, wann sie zwi­schen 7:30 und 10:00 Uhr frühstücken wol­len. Vor Jah­ren hatte Ulrike Wolf bei­spiels­weise einen ehe­ma­li­gen Bäcker als Bewoh­ner. Er war bereits um 5:00 Uhr hung­rig. Und konnte somit auch vor allen ande­ren Bewoh­nern essen. Ab 11:45 Uhr wird das Mit­ta­ges­sen gereicht und ab 17:30 Uhr das Abendes­sen. Wer am Nach­mit­tag noch ein­mal hung­rig wird, kann Obst, Joghurt, Kekse oder Kuchen ver­zeh­ren. Gen­auso, wie man es von früher kennt. Beim regelmäßig statt­fin­den­den Koch- und Back­tag kochen die Bewoh­ner auch ein­mal ihre eige­nen Lieb­lings­re­zepte wie­der.

Wie wich­tig es für die Bewoh­ner ist, gerade auch beim Essen selbst ent­schei­den zu können, wis­sen Ulrike Wolf und ihr Team genau. Des­halb ser­vie­ren die Pfle­gekräfte das Essen nach dem Erwärmen in Schüsseln. Somit kann sich jeder Bewoh­ner neh­men, was und wie viel er gerne essen möchte. Das Selbst­wert­gefühl der Senio­rin­nen und Senio­ren steigt dadurch enorm: »Man kann noch etwas.« Dies sei das wich­tigste Tisch­gefühl, was bei den Bewoh­nern bleibe, so Ulrike Wolf. Sei es, sich selbst das Essen zu neh­men oder sei es, einem ande­ren Bewoh­ner beim Essen holen zu hel­fen: Man isst in einer Gemein­schaft, in der jeder für jeden da ist.

Eine ganz andere Gemein­schaft fin­det sich im Café Wal­deck in Wil­helms­dorf. Dort ist es jeden Don­ners­tag auf’s Neue soweit: Chefköchin Sil­via Osch­mann und ihr Küchen­team kochen ein lecke­res Mit­ta­ges­sen für circa 15 bis 20 Mit­ar­bei­ter und Freunde des Hör-Sprach­zen­trums. Auf der Tage­s­karte fin­det der Gast meis­tens ein dreigängi­ges Menü. Osch­mann wird aktu­ell von drei Schülerin­nen unterstützt, die Schwie­rig­kei­ten mit der Spra­che und dem Ler­nen haben. Für die Köchin steht im Vor­der­grund, »den Schülern die Liebe zum Essen und zu ver­schie­de­nen Geschmäckern zu ver­mit­teln und anzu­re­gen, ein­fach etwas aus­zu­pro­bie­ren«.

Die Beson­der­hei­ten der Schülerin­nen erfor­dern, dass die Rezepte inten­siv vor­be­spro­chen wer­den, einen verständli­chen Auf­bau besit­zen und Abkürzun­gen wie EL oder g klar defi­niert sind. Ganz neben­bei fließen schu­li­sche Ele­mente in die Pra­xis ein. So müssen Rezepte auf die jewei­lige Per­so­nen­zahl umge­rech­net wer­den oder der Inhalt der Rezepte ver­stan­den sein.

An einem Don­ners­tag im Sep­tem­ber geht es in der Küche außergewöhnlich ruhig zu. Salat wird abge­zupft, Bolo­gnese-Soße wird auf dem Herd gerührt und Spaghetti auf ihren Biss getes­tet. Aber im Hin­ter­grund tickt die Uhr und bei aller »stoi­schen Ruhe« sollte das Essen um 12:15 Uhr gekocht sein. Gegen 11:30 Uhr steigt bei Sil­via Osch­mann und ihrem Team das Adrena­lin im Blut. Da hel­fen nur tie­fes Durch­at­men und das Ver­trauen, dass schon noch alles recht­zei­tig fer­tig wird. Das Ergeb­nis ist vorzüglich: die Spaghetti sind al dente, Toma­ten-Gor­gon­zola- und Bolo­gnese-Soße erfreuen die Gau­men. Der grüne Salat ist frisch und lecker. Mit Latte Mac­ch­iato-Creme und Scho­ko­ku­chen zum Nach­tisch wird das Mit­ta­ges­sen im Café Wal­deck endgültig zum Erfolg.

Eine wei­tere Erfolgs­ge­schichte ist das Salat­buf­fet in der Bio­land Rotach-Gärtne­rei, die auch die NEULAND-Küche belie­fert. Seit 2010 bie­ten Hel­mut Rot­ter und sein Team von Mai bis Okto­ber zwei­mal pro Woche »Salat satt« an. Die Nach­frage ist groß. Pro Tag wer­den jeweils knapp 170 Salat­tel­ler ver­kauft. Ten­denz stei­gend. »Wir haben momen­tan etwa 25 ver­schie­dene Salat­re­zepte. Die Ren­ner sind unser Kar­tof­fel­sa­lat und der Lin­sen­sa­lat. Aber auch unsere Spaghetti mit fri­schem eige­nem Pesto und der grie­chi­sche Salat sind sehr beliebt«, sagt Rot­ter. »Regio­nal, sai­sonal, opti­mal« heißt die Devise in sei­nem Bereich. Die Zahl der Genießer wird jedes Jahr größer. »Unsere Kun­den kom­men zwi­schen­zeit­lich nicht mehr nur aus Wil­helms­dorf, son­dern auch aus benach­bar­ten Orten. Man­che kau­fen in Wil­helms­dorf ein oder machen einen Aus­flug ins Ried und genießen ansch­ließend bei uns einen lecke­ren Salat«, weiß Rot­ter.

Die Einführung des Salat­buf­fets geht auf eine Idee Rot­ters zurück, dem das Thema Gesunde Ernährung sehr am Her­zen liegt. »Gerade in einer Zeit, in der viele Men­schen im All­tag zu Fast-Food-Pro­duk­ten grei­fen, sollte man sich wie­der öfters mit die­sem Thema befas­sen«, rät Rot­ter. »Enzyme bei­spiels­weise haben eine Schlüssel­funk­tion für die Wir­kung der Nah­rung auf den Körper. Und da die meis­ten Enzyme bei Tem­pe­ra­tu­ren über 60 Grad abster­ben, ist es wich­tig, ent­spre­chend viel Roh­kost, also fri­sches Gemüse und Obst, zu sich zu neh­men.«

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In den Seniorenzentren wird das Essen in Schüsseln serviert. So kann sich jeder Bewohner selbst nehmen, was er möchte. Das steigert das Selbstwertgefühl.

»Salat satt« bietet das Team der Rotach-Gärtnerei und beliefert damit auch die Grossküche der Zieglerschen.

Mmhh, Lecker. Eine Schülerin aus Haus Waldeck rührt Latte Macchiato-Creme an.